MESOPOTAMIA NEWS : DIE LETZTEN TAGE DER BRÜSSELER EU
EURO-RETTUNGSSCHIRM – Dieses Zeugnis ist eine Warnung an Europas Retter – 11 uni 2020 – DIE WELT – Von Tobias Kaiser, Brüssel – Konjunkturprogramm – Eurogruppe
In der EU wird gerade das größte Rettungspaket aller Zeiten geschnürt. Als Lehrstück dazu wurde jetzt ein Gutachten veröffentlicht, das die Auswirkungen der damaligen Griechenland-Hilfen analysiert. Das Ergebnis fällt in entscheidenden Punkten negativ aus. Das Timing hätte passender nicht sein können. Mitten in der Corona-Krise veröffentlicht der Euro-Rettungsschirm ESM ein Gutachten über seine Arbeit in der griechischen Schuldenkrise. Das 170 Seiten starke Dokument dürfte in den europäischen Hauptstädten genau gelesen werden – liefert es doch im aktuellen Streit um das EU-Konjunkturprogramm beiden Lagern Argumente.
Der ESM hat sich verpflichtet, die eigene Arbeit regelmäßig kontrollieren zu lassen. Verantwortlich für das Gutachten ist der spanische Politiker Joaquín Almunia, der von 2004 bis 2014 EU-Kommissar für Wirtschaft und Finanzen und dann für Wettbewerb war. Seine Mitarbeiter haben das Papier in den vergangenen Tagen an die Regierungen der Euro-Mitgliedstaaten verschickt; am Donnerstag haben die Finanzminister des Währungsraums seine Schlussfolgerungen in einer Videoschalte besprochen.
Und die Befunde haben es in sich. Almunia bescheinigt dem europäischen Rettungsprogramm zwar grundsätzlichen Erfolg. Es habe dabei geholfen, die griechische Wirtschaft zu stabilisieren und Wachstum anzukurbeln.
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Zudem habe es für eine Modernisierung der griechischen Verwaltung gesorgt. Die Institutionen des Landes seien jetzt eher in der Lage, „europäischen Standards gerecht zu werden“, heißt es in dem ungewöhnlich deutlich formulierten Vorwort Almunias.
Tatsächlich reden er und die übrigen Verfasser in dem Papier Klartext und machen ihre Positionen sehr deutlich. Dazu gehört auch, dass sie zentrale Teile des Krisenprogramms kritisieren.
Sie bemängeln vor allem, dass die Euro-Partner die griechische Regierung zu stark zum Sparen angehalten hätten. Der Sparzwang habe die Wirtschaft unnötig gelähmt, die Erholung erschwert und für die griechische Bevölkerung wegen gestrichener Sozialleistungen erhebliche Härten gebracht.
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Der rund acht Jahre dauernde wirtschaftliche Anpassungsprozess habe die Bevölkerung stark belastet, schreiben die Verfasser. Das Programm habe zwar die vorrangigen Ziele erfüllt, nämlich die Euro-Zone erhalten, Griechenland finanziell stabilisiert und die Rückkehr des Landes an die Finanzmärkte ermöglicht – „allerdings verbunden mit erheblichen finanziellen und sozialen Kosten“. An anderer Stelle heißt es: „Es wurde zu wenig auf die sozialen Nöte der griechischen Bevölkerung geachtet.“
Die Folgen dieser Politik seien noch immer spürbar, warnen die Verfasser. Ungleichheiten, die schon vor Beginn der Rettungsmaßnahmen bestanden hätten, gäbe es noch immer. „Trotz Fortschritten ist die Einkommensungleichheit immer noch höher als im Durchschnitt der Euro-Zone, und die Armutsquote und die Arbeitslosigkeit sind relativ hoch geblieben“, schreiben die Experten. Verantwortlich dafür sei eine wenig wirksame Arbeitsmarktpolitik.
Dieser Befund dürfte auch die aktuelle Debatte um das EU-Konjunkturprogramm beeinflussen, in der es auch darum geht, ob die von Brüssel veranschlagten 750 Milliarden Euro Corona-Hilfen als Kredite ausgezahlt werden oder als Transfers, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Von Almunias Gutachten dürften sich all jene Mitgliedstaaten bestätigt fühlen, die darauf drängen, das Geld vor allem oder sogar ausschließlich in Form von Transfers ohne Rückzahlungsverpflichtung auszugeben, um die Staatsschulden der Empfängerländer nicht weiter ansteigen zu lassen.
Vor allem potenzielle Nettoempfängerländer wie Italien, Spanien und Griechenland befürworten Transfers. Aber auch Deutschland und Frankreich, die einen eigenen Vorschlag vorgelegt haben, sprechen sich für Transfers aus. Die fiskalisch konservativen Länder Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande fordern hingegen einen hohen Anteil an Krediten.
Diese vier Staaten, aber auch Deutschland und Teile der EU-Kommission, drängen zudem darauf, dass die Corona-Hilfen nur unter strengen Bedingungen und genauer Kontrolle fließen. Deutschland und andere Nettozahler fordern, dass die Empfängerländer für Hilfen Reformen und Wachstumsinvestitionen versprechen müssen und dass die Gelder nur fließen dürfen, wenn diese Pläne auch eingehalten werden.
Diese Gruppe dürfte sich durch einen weiteren Befund in Almunias Gutachten bestätigt fühlen. Er und seine Mitarbeiter bemängeln nämlich, dass das Rettungsprogramm zu wenig auf solchen Reformbedingungen beharrt und dadurch die langfristige volkswirtschaftliche Stabilität Griechenlands vernachlässigt habe. „Das ESM-Programm hat versagt, wo es darum ging, die langfristige Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit der Volkswirtschaft entschieden und systematisch zu verfolgen“, heißt es in dem Papier.
750-Milliarden-Programm
Wem das riesige Schuldenpaket nützt und wer es zahlen müsste
Der volkswirtschaftliche Effekt von Strukturreformen sei von den beteiligten Institutionen – ESM, EZB, Europäischer Kommission und IWF – nicht systematisch berücksichtigt worden. „Zusammen genommen bedeuten die unterschiedlichen Schwächen, dass die Strukturreformen erst viel später als erwartet Früchte getragen haben.“ Die langfristigen Wachstumsaussichten Griechenlands seien denn auch noch immer durchwachsen, weil die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit nur langsam zunähmen und die Reformen nur unvollständig umgesetzt seien.
Einen Absatz des Gutachtens dürften die Finanzminister mit einem Gefühl des Déjà-vu gelesen haben: „Wachstum in dem Empfängerland ist eine notwendige Bedingung für den Erfolg eines jeden Programms und für dessen Glaubwürdigkeit. Neben den notwendigen ambitionierten Anpassungen bei öffentlichen Ausgaben, um die Haushaltslage und die öffentliche Verschuldung zu stabilisieren, muss es ein zentrales Ziel eines jeden Programms mit Finanzhilfen sein, das Wachstum zu stärken.“ Die Passage liest sich wie eine Empfehlung an Italien, das den größten Batzen aus dem EU-Konjunkturprogramm bekommen soll und dessen verkrustete, aber immer noch wohlhabende Volkswirtschaft seit beinahe zwei Jahrzehnten kaum noch wächst.