Wo die Regenbogenfahne am Bundesinnenministerium weht: die Deutschen +ihr verquerer Heimatbegriff

GASTKOMMENTAR MEINES FREUNDES R.M.

Die eigene Kultur mit ihren Traditionen und den Alltagsgewohnheiten gilt in Deutschland längst als diskriminierend, wenn nicht gar rassistisch. Heimatbindung wird nur den Eingewanderten zugesprochen. Reinhard Mohr21.06.2022,  NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

In Deutschland ist Heimat negativ konnotiert. Auch deshalb weht am Innenministerium erstmals die Regenbogenfahne

Bunt gegen Braun, grenzenlose Weltoffenheit gegen bornierten Nationalismus: Die politische Diskussion in Deutschland leidet seit langem unter einer eklatanten intellektuellen wie sprachlichen Schwäche. Weithin herrscht eine Gedankenlosigkeit, die sich in den phrasengesättigten öffentlichen Hohlräumen ausbreitet. Zu jenen Wörtern, die wie Backförmchen kreuz und quer durch den politischen Sandkasten fliegen und die üblichen Reiz-Reaktions-Schemata auslösen, gehört seit je «Heimat».

Jetzt hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ein weiteres Schippchen Sand auf den deutschen Debattenhaufen geworfen, als sie verkündete: «Wir müssen den Begriff Heimat positiv umdeuten und so definieren, dass er offen und vielfältig ist. Und: dass er ausdrückt, dass Menschen selbst entscheiden, wie sie leben, glauben und lieben wollen.» Der Satz klingt wie eine Paraphrase auf Angela Merkels Wahlkampfmotto von 2017: «Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.»

Ungeliebte «Heimat»

In diesem neuesten regierungsamtlichen Wohlfühlmotto versteckt sich freilich eine doppelte Botschaft: In Deutschland ist Heimat offenbar negativ konnotiert – und um das politisch korrekt zu ändern, muss der Begriff in die ebenso populäre wie verquaste Rede von Diversität und Gendergerechtigkeit eingebettet werden. Auch deshalb weht am Innenministerium erstmals die Regenbogenfahne.

Das heisst aber auch: Eine wirkliche Debatte über Heimat soll gerade vermieden werden, denn nach wie vor enthält das Wort für den links-grün orientierten Teil unserer Gesellschaft jede Menge historische Untiefen und politische Sprengkraft.

Wenn man Juri Schewtschuk, Frontmann der russischen Rockgruppe DDT, folgt, ist es eigentlich ganz einfach. Kürzlich rief er seinem Publikum in Ufa am Ural zu: «Heimat, meine Freunde, das ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man ständig lecken und küssen muss. Die Heimat – das ist die arme Oma am Bahnhof, die Kartoffeln verkauft.»

Doch hierzulande macht man es sich lieber besonders schwer und kompliziert – «gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte», wie die Allzweckfloskel lautet, mit der gegenwärtig auch die Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine hantieren.

Inneres Exil

Es stimmt ja: Edgar Reitz’ Filmtrilogie über den Hunsrück hielt die «Heimat» im Titel hoch und schlug schon vor Jahrzehnten eine erste kulturelle Bresche in die verklemmte Debatte. Doch wahr ist auch, dass spätestens seit 1945 das Wort Teil eines toxischen Vokabulars war, ein zumindest anachronistischer, in den Augen grosser Teile der Öffentlichkeit reaktionärer, ja gefährlicher Begriff. Schon deshalb galten Heimatvertriebene – ganz im Gegensatz zu den Geflüchteten von heute – als Fusstruppen revanchistischer, neonazistischer Machenschaften.

Der berüchtigte deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre («Der Förster vom Silberwald», «Wo der Wildbach rauscht» oder «Einmal noch die Heimat sehn») hat eine ganze Generation schon rein ästhetisch auf die Barrikaden und ins innere Exil getrieben, zu offensichtlich war die Verdrängungsfunktion des Heile-Welt-Kinos. «Heimat» wurde zum Antipoden jeder ernsthaften Bemühung um Vergangenheitsbewältigung und eine fortschrittliche Zukunft.

Die Rede von der Heimat atmete den Nazigeist von «Blut und Boden», dunkelbrauner Ackerscholle und dunkelbraunem Jägerzaun, hinter dem sich eine ganze Armada von Gartenzwergen verschanzte. Das «Zigeunerschnitzel», dem ein oder zwei «Jägermeister» zu folgen hatten, komplettierte das Bild der Heimat, zu der der Lodenmantel genauso gehörte wie der sonntägliche Kirchgang und das örtliche Schützenfest.

Reviere und Reservate

Das alles war ein Graus, eine protofaschistische Spiesser-Vorhölle, die in den siebziger Jahren die damals 18- bis 25-Jährigen massenhaft in die Flucht trieb – in Richtung Berlin, München, Frankfurt, Köln und Hamburg. Parole: Deutschland peinlich Vaterland. Nie wieder Sauerkraut! Nie wieder Heimat! Wenn schon die bürgerliche Kleinfamilie eine reaktionäre Terrorzelle war, wie man im Milieu der Westberliner Kommune 1 proklamierte, was war dann erst Wanne-Eickel oder Degerloch?!

Traf man im Ausland auf deutsche Touristen, dann schämte man sich. Um nicht als «Landsmann» erkannt zu werden, bemühte man sich um das Erlernen möglichst mehrerer Fremdsprachen. Die Zahl der Italienischkurse explodierte, vorzugsweise im Verbund mit einem mehrwöchigen Strandaufenthalt in den Cinque Terre.

Die oberschlesischen Heimatvertriebenen und die Sudetendeutschen trafen sich derweil immer noch jedes Jahr an Pfingsten, und der deutsche Schlager war einfach nicht totzukriegen. Dafür dröhnten die Boxen in den Wohngemeinschaften – «Light My Fire» – umso lauter. Doch sosehr man ständig mit der Revolution beschäftigt war, die gerade keine Heimat kennt, weil es ja um globale Verhältnisse geht, so stark war die Identifikation mit den lokalen Gegebenheiten des revolutionären Kampfes. Hier offenbarte sich ein ganz eigener Lokalpatriotismus von links, die Verteidigung von Revieren und Reservaten, die Bindung an die alternative Scholle diesseits des Horizonts, und sei es die Landkommune im Vogelsberg oder die «Republik Freies Wendland». Das intensiv durchlebte Drama der Selbst- und Weltveränderung brauchte nicht nur symbolische Orte, sondern auch Rückzugsgebiete, in denen man sich wohl und verstanden, zu Hause fühlte.

Verfassungspatriotismus à la Habermas

Es gehört zu den Absurditäten der politischen Debatte unserer Tage, dass Asylbewerber und Migranten ihre Heimat verlassen, um sich bei uns in Sicherheit zu bringen. Hierzulande sollen sie nur auf edles Weltethos und das Asylbewerberleistungsgesetz treffen, doch bei Gott nicht auf Menschen, die Deutschland, Bayern, das Allgäu, Amrum oder Ansbach ihre Heimat nennen und diese so lieben wie Syrer und Afghanen die ihre.

Dabei läuft diese bigotte Selbstverleugnung dem wohlverstandenen Interesse an gelungener Integration völlig zuwider: Wo hinein sollen Menschen aus Afrika und Asien integriert werden, wenn die aufnehmende Gesellschaft selbst nicht weiss, was sie ist, woher sie kommt und was ihr wichtig ist, was sie prägt, auszeichnet, besonders macht, so erfolgreich, liebenswert und attraktiv?

Routiniert wird auf das Grundgesetz von 1949 verwiesen, von dem allerdings die wenigsten Migranten je gehört haben, geschweige denn, es gelesen und verstanden haben dürften. Mehr als ein geschichtsloser, abstrakter Verfassungspatriotismus à la Habermas ist aber nicht im Angebot des bunten Deutschland.

Das ausdrücklich Eigene – die in Jahrhunderten gewachsene Kultur, die Traditionen und Alltagsgewohnheiten – grenzt angeblich die anderen aus, sei diskriminierend, ethnozentristisch, schlimmstenfalls rassistisch. Identität, kulturelle Prägung und Heimatbindung wird nur den Eingewanderten zugesprochen, so die Reflexe eines immer noch erheblichen Teils der deutschen Öffentlichkeit, die an ihrer provinziellen Nabelschau hängt.

Was der Weinliebhaber ehrt

Inzwischen jedoch dringt die Wirklichkeit zunehmend in die realitätsblinden Diskurskorridore, und plötzlich richtet sich die harmlose Frage «Na, geht’s wieder einmal in die Heimat?» nicht mehr nur an die kofferpackenden türkischen Nachbarn in Gelsenkirchen, sondern auch an traditionsbewusste Schwaben im Prenzlauer Berg, die hin und wieder für ein paar Tage ins Reich von Daimler und Maultasche, Kehrwoche und Trollinger heimkehren.

Weinliebhaber kennen den aus Frankreich stammenden Begriff des «Terroirs». Damit ist nicht nur die blosse Erde gemeint, auf dem die Reben wachsen, es geht auch um Land und Leute, die Lage, das Klima, die Weinbaukultur, kurz: um eine je besondere Mischung aus Geist und Materie, Tradition und Gegenwart.

Längst ist klar, dass die je verschiedenen Heimatbindungen in einer demokratisch verfassten Gesellschaft gar keinen Widerspruch zu den Prinzipien der europäischen Aufklärung bilden müssen. Im Gegenteil: Sie sind der Ort, an dem die in Sonntagsreden rituell apostrophierten Werte und Regeln ganz praktisch gelernt und gelebt werden – selbst da, wo sie verachtet werden oder über sie erbittert gestritten wird –, freilich ohne nationales Pathos, gestanzten Politsprech und ohne Talkshow-Geplapper. Sie machen den realen Kern jener selbstbewussten Zivilgesellschaft aus, die stets als rhetorische Allzweckwaffe ins Feld geführt wird, wenn es um die Rettung der Demokratie geht.

Ein Land jedenfalls, in dem ein Sammelband migrantischer Autorinnen und Autoren mit dem Titel «Eure Heimat ist unser Albtraum» zum Bestseller wird, hat womöglich ein ganz anderes Problem als mangelnde Vielfalt und Weltoffenheit.

Reinhard Mohr ist deutscher Publizist. Zuletzt von ihm erschienen: «Deutschland zwischen Grössenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt».