THEO VAN GOGH: ZUSTANDS- & GENERALBERICHT ZUR AKTUELLEN EINWANDERUNG IN DIE BRD
«Ich möchte ein Haus, eine Familie – einfach ein gutes Leben» – Hier ist warm und hat Strom umsonst!
«Das ist nicht mehr zu schultern»: Kommunen wehren sich gegen weitere Aufnahme von Flüchtlingen
Deutsche Städte und Gemeinden sind rechtlich für die Unterbringung von Migranten verantwortlich. Doch es gibt keine Unterkünfte mehr, auch Kitas und Schulen sind am Limit. Viele Landräte verhängen deshalb einen Aufnahmestopp. Die Bundespolitik hat die Warnsignale zu lange ignoriert.
Susann Kreutzmann (Text), 06.12.2022 NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
Die 32-jährige Iranerin Abtihel in der Gemeinschaftsküche der Flüchtlingsunterkunft im brandenburgischen Wünsdorf.
«Wir wissen erst, wenn die Tür vom Bus aufgeht, wer zu uns kommt», sagt Wigbert Hagelstange, zuständig für die Unterbringung von Flüchtlingen im Landkreis Eichsfeld in Thüringen. «Ob es Familien mit kleinen Kindern, alte oder kranke Menschen sind und ob Haustiere wie Hunde und Katzen dabei sind.» Nicht erst seit dem Ukraine-Krieg ist der Landkreis im Krisenmodus. Jetzt hilft alles Improvisieren nichts mehr. Es gibt keine Unterbringungsmöglichkeiten für neu ankommende Flüchtlinge mehr. Landrat Werner Henning hat die Reissleine gezogen und einen Aufnahmestopp verkündet.
Rund die Hälfte aller Landkreise in Thüringen sowie Städte wie Erfurt und Gera sind am Limit und nehmen zumindest zeitweise keine Flüchtlinge mehr auf. Ähnlich sieht es in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt aus. Zwölf von sechzehn Bundesländern haben laut Bundesinnenministerium keine freien Kapazitäten mehr. Doch mit Blick auf den Winter werden wieder mehr Flüchtlinge aus der Ukraine erwartet. Hinzukommen steigende Zahlen von Asylbewerbern aus Syrien, Afghanistan, Iran und der Türkei.
Etwa 1,2 Millionen Menschen hat Deutschland seit Jahresbeginn aufgenommen. Das sind 200 000 Asylsuchende mehr als 2015. Das System ist an seine Grenzen gelangt und die Solidarität in der Gesellschaft auch. Es werden wieder Turnhallen leer geräumt, Doppelstockbetten in Messehallen und abrissreife Verwaltungsgebäude geschafft. In Berlin werden auf dem ehemaligen Flughafen Tegel Zelte für rund 5000 Menschen aufgestellt. All das wollte die Politik nach den Erfahrungen der Flüchtlingskrise 2015 nicht mehr machen.
In Wünsdorf ist heute die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Brandenburg. Früher war hier das Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte in der ehemaligen DDR.
Der Alltag ist oft eintönig: Der Kicker-Tisch bringt für eine Gruppe junger Syrer etwas Abwechslung.
Landrat löste nach Protesten Mietvertrag wieder auf
Werner Henning sitzt am Besprechungstisch in seinem Büro in Heilbad Heiligenstadt und knetet die Hände. Er berichtet, wie er durch den Landkreis fährt und nach nicht genutzten Hallen in landwirtschaftlichen Betrieben oder geschlossenen Supermärkten Ausschau hält. Gut geht es ihm dabei nicht. «Alles, was ich besitze, will ich geben. Was ich nicht besitze, kann man mir nicht abverlangen», sagt Henning, CDU-Mitglied, Katholik und promovierter Literaturwissenschafter.
Landrat Werner Henning fühlt sich im Stich gelassen.
Eichsfeldwerke GmbH
Mehrfach hat er an die Landesregierung in Thüringen Brandbriefe geschrieben und um mehr Unterstützung gebeten. «Wir sind jeden Tag überfordert. Aber wir schaffen es trotzdem», so beschreibt der 66-Jährige die Situation vieler Kommunen. In die bundesweiten Schlagzeilen geriet Henning, als er nach Protesten der Bevölkerung und anonymen Drohbriefen einen Mietvertrag für eine Halle im Ort Leinefelde, in der 150 Asylbewerber untergebracht werden sollten, aufgelöst hatte. Er spricht von den Sorgen der Bürger vor Überforderung, die ihn zu diesem Schritt veranlasst hätten. Und er fürchtet um die Sicherheit der Flüchtlinge in dieser aufgeheizten Lage.
Henning ist mit 32 Jahren im Amt dienstältester Landrat in Deutschland. Er hat schon einige Krisen gemeistert. Für ihn sei es wichtig, dass er jeden Tag in den Spiegel schauen könne, sagt er. Dazu gehörten auch menschenwürdige Unterkünfte. Er erinnert sich an ein Gespräch mit einem Bürger im benachbarten Ort Niederorschel. Etwa 40 Männer waren in einem ehemaligen Getränkemarkt untergebracht. Der Anwohner machte ihn auf die schlechte Unterbringung aufmerksam. «Ich begriff, was wir machen, ist unverantwortlich. Da fühlte ich Scham», sagt Henning nachdenklich. Zumindest teilweise wurde der Getränkemarkt geräumt.
Fehlende Privatsphäre im Schlafsaal
In Ude, einem Dort im Eichsfeld, wohnen 34 ukrainische Flüchtlinge, unter ihnen neun Kinder, in zwei Schlafräumen. In einem Raum sind Frauen und Kinder untergebracht, zwischen den ordentlich gemachten Betten ist kaum Platz. Auf einem Bett sitzt zusammengesunken eine 78-jährige Frau, die mit ihrer Tochter floh. Es sei eine der besseren Gemeinschaftsunterkünfte, sagt der Behördenmitarbeiter Hagelstange. Immerhin gebe es richtige Betten und einen Aufenthaltsraum.
Seit August lebt Valentina mit ihrer zehnjährigen Tochter Anna hier. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als ein kleines Zimmer mit etwas Privatsphäre. Die 38-Jährige ist aus dem Gebiet Cherson in der Ostukraine nach Thüringen geflüchtet. Im Moment könne sie sich nicht vorstellen, hier ein neues Leben aufzubauen, sagt sie leise.
In der kleinen Küche bereitet Swetlana, die ebenfalls aus der Ostukraine geflüchtet ist, Plow und Boretsch – vertraute Gerichte aus der Heimat. Den Blick in die Zukunft will auch sie nicht wagen. Zu verstörend sind die Nachrichten aus ihrer Heimat, so nah und doch knapp zweitausend Kilometer weit weg.
Es sind die Landräte und Bürgermeister, die die Flüchtlingspolitik aus Berlin umsetzen müssen. Sie sind rechtlich für die Unterbringung der Asylsuchenden verantwortlich. Quer durch die Republik fühlen sie sich mit ihren Problemen allein gelassen – finanziell und politisch. Bund und Länder streiten seit Monaten darüber, wer welchen Anteil der bürokratisch kompliziert aufgesplitteten Flüchtlingskosten übernimmt.
Denn es geht nicht nur um die Unterbringung der Asylbewerber, sondern auch um deren Integration. Es werden mehr Kita- und Schulplätze gebraucht. Mehr als 163 000 ukrainische Schüler sind inzwischen in Deutschland eingeschult. Ausserdem sollen auch ukrainische Flüchtlinge schnell Sprachkurse absolvieren können. Alle Flüchtlinge in Deutschland haben darauf einen Rechtsanspruch.
Flüchtlingskinder mit ihrer Betreuerin auf dem Weg in die Unterkunft.
In einer Schneiderwerkstatt übernehmen Flüchtlinge kleinere Arbeiten für Mitbewohner.
Landrat will notfalls Immobilien beschlagnahmen
Bundesinnenministerin Nancy Faeser versprach beim Flüchtlingsgipfel vor rund einem Monat zwar nicht mehr Geld, aber 4000 zusätzliche Plätze für die Unterbringung in Bundesimmobilien zu schaffen. Der Landrat von Fürstenfeldbruck, Thomas Karmasin, kann da nur abwinken. So viele Flüchtlinge kämen in einem Monat in Oberbayern an, sagt er. «Viele Unterkünfte, die wir 2015 akquiriert haben, sind noch belegt. Wir sind also schon in regulären Zeiten voll», rechnet er vor. Im Landkreis gebe es rund 40 Prozent sogenannter Fehlbelegungen, also zum Beispiel von Flüchtlingen, die schon einen Aufenthaltstitel hätten, aber noch keine Wohnung gefunden hätten.
Erfreulicherweise hätten mit Beginn des Ukraine-Kriegs viele Privatpersonen Wohnraum zur Verfügung gestellt. «Jetzt, ein Dreivierteljahr später, sagen aber viele, ‹das Kinderzimmer muss wieder frei werden›.» Dazu kämen die Zuwanderer aus den üblichen Ländern wie 2015. «Das macht uns nun wirklich den Garaus, das ist nicht mehr zu schultern», sagt Karmasin, der auch Präsident des Bayerischen Landkreistags ist. Er droht mit Beschlagnahmungen von Immobilien, wie 2015. «Der Bund muss aktiv werden und Liegenschaften zur Verfügung stellen, wenn er die Grenzen nicht sichern will», fordert Karmasin.
Über die Weissrussland-Route nach Brandenburg
Die Zahl der Asylanträge wird Ende des Jahres etwa 12 Prozent höher liegen als im Vorjahr, als 190 000 Anträge gestellt wurden. Die meisten Asylbewerber kommen weiterhin aus Syrien und Afghanistan. Auf Platz drei steht inzwischen die Türkei. Während bei Syrern die Schutzquote bei 90 Prozent und bei Afghanen bei 83 Prozent liegt, werden nur rund ein Drittel der türkischen Asylsuchenden anerkannt. Auch aus Georgien sind in diesem Jahr wieder mehr Asylsuchende nach Deutschland gekommen, obwohl sie so gut wie keine Chance auf einen Asylstatus haben.
Auf der Balkanroute, die von der Türkei und Griechenland bis nach Westeuropa führt, sind deutlich mehr Menschen unterwegs als im Vorjahr. Ein Grund ist die politische Situation in der Türkei, die rund vier Millionen Flüchtlinge, mehrheitlich aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, aufgenommen hat. Inzwischen ist die Stimmung gekippt, ein Grossteil der Türken will, dass die Menschen in ihre Heimatländer zurückkehren.
Aber auch die sogenannte Weissrussland-Route über Polen nach Deutschland ist weiterhin offen. Vor rund einem Jahr hatte Weissrusslands Machthaber Alexander Lukaschenko Migranten gezielt für diese Route angeworben, um die Europäische Union unter Druck zu setzen und die politische Situation anzuheizen. Inzwischen hätten sich Schleppernetzwerke professionalisiert, heisst es. Auch die Preise seien gestiegen – rund 4000 Euro für die Reise nach Deutschland verlangen die Schlepper.
Die Fluchtroute über Weissrussland nach Deutschland
Istanbul → Minsk
Erbil → Minsk
Libanon → Minsk
Moskau → Minsk
Minsk → Deutschland
Kartengrundlage: © Openstreetmap, © Maptiler
Quelle: DW
NZZ / eck.
In den vergangenen Monaten hatte die Bundespolizei an der deutschen Grenze zu Polen auffällig viele Migranten mit einem russischen Stempel im Pass aufgegriffen. Viele in der Türkei gestrandete Syrer, Iraker und Afghanen reisten demnach über Moskau nach Weissrussland und dann weiter in die EU.
«Ich möchte ein Haus, eine Familie – einfach ein gutes Leben»
In Wünsdorf, rund 40 Kilometer von Berlin entfernt, befindet sich die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Brandenburg. In dem ehemaligen Militärkomplex stellen die Menschen ihren Asylantrag. Rund 40 Prozent der hier ankommenden Asylbewerber hätten den Weg über Weissrussland genommen, heisst es. Zu ihnen zählt auch eine Gruppe junger Afghanen, die mehrheitlich von der Türkei nach Weissrussland gereist sind. Jetzt sind sie in Zimmern mit zwei Doppelstockbetten untergebracht. Es sieht karg aus, aber das stört sie nicht. Gepäck haben sie nicht, meist nur einen kleinen Rucksack. «Ich möchte ein Haus, eine Familie – einfach ein gutes Leben», erzählt Hashmatullah, der als Einziger ein paar Brocken Englisch spricht. Seine Zimmerkollegen nicken zustimmend.
Manche haben eine Familie, die sie unbedingt nachholen wollen. Die Erwartungen an Deutschland sind riesig. Ihr Erspartes und ihre Hoffnungen haben sie in diese Reise gesetzt. Jetzt warten sie auf ihr Asylverfahren und schlagen die Zeit tot. Denn Asylbewerber bekommen zunächst keine Arbeitserlaubnis, was Experten wie Olaf Jansen, Leiter der Zentralen Ausländerbehörde in Brandenburg, für einen Fehler halten.
Die Unterkunft im brandenburgischen Wünsdorf ist voll belegt: Rund tausend Migranten aus mehr als zwanzig Nationen sind hier untergebracht.
Aljona und Mohammed sitzen etwas schüchtern in ihrem geräumigen Zimmer in Wünsdorf. Ende August kamen sie hier an, direkt aus dem Kriegsgebiet in Charkiw. Aljona spricht kaum Englisch, nur das Wort «homesick» sagt sie immer wieder. Morgens würden sie zuerst die sozialen Netzwerke nach Nachrichten aus Charkiw durchforsten, erzählt die 27-jährige Krankenschwester. Ist wieder ein Dorf angegriffen worden, wo Freunde und Verwandte wohnen? Wie geht es den Eltern im jetzt beginnenden Winter?
Ihr Ehemann ist gebürtig aus Saudiarabien, lebt aber schon seit dreizehn Jahren in der Ukraine. Der 33-Jährige ist Bauingenieur. Zusammen wollten sie sich ein neues Leben weit weg vom Kriegsgebiet aufbauen, sagt Mohammed. «Wir sind qualifiziert und haben Jobs, die überall gebraucht werden.» Aljona zögert, ihr ist der Gedanke, für immer die Ukraine zu verlassen, noch fremd. Sie zeigt auf die selbst gezüchtete Sonnenblume vor ihrem Fenster – die leuchtend gelbe Blume ist zum Symbol für Solidarität und den Widerstand in der Ukraine geworden.
«Rückführungsoffensive» der Bundesregierung ist gescheitert
Drei bis vier Monate bleiben die Asylbewerber in der Regel in der Erstaufnahmeeinrichtung und werden dann auf die Kommunen verteilt. «Die Menschen müssen vernünftig aufgenommen werden. Dazu gehören eine erkennungsdienstliche Behandlung und eine medizinische Untersuchung», sagt der Behördenchef Jansen. «Ich bin für konsequente Rückführungen, aber nicht im Aufnahmeprozess. Das zu vermengen, ist inhuman und kontraproduktiv», fügt er hinzu. Solche Forderungen kommen aus Bayern. Innenminister Joachim Herrmann warnt vor einem massiven Anstieg illegaler Migration und verlangt, dass die Asylverfahren in der Erstankunft stattfinden und Abgelehnte sofort in ihre Heimat zurückgeschickt werden.
SPD, Grüne und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag eine «Rückführungsoffensive» abgelehnter Asylbewerber versprochen. Doch diese Pläne wurden nicht eingehalten. In den ersten sechs Monaten des Jahres wurden rund 6200 Asylbewerber abgeschoben. Hauptzielländer waren Nordmazedonien, Albanien und Georgien. Die Gründe für diese niedrige Quote sind vielfältig: Sie reichen von ungeklärten Identitäten, fehlenden Papieren bis hin zu Herkunftsländern, die nicht kooperieren. Auch Kompetenzwirrwarr zwischen Bund und Ländern erschwert Abschiebungen.
Die Probleme sind längst bekannt, spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015. Die Vorgängerregierung unter Kanzlerin Angela Merkel hat dafür keine Lösung geliefert, und der jetzige Kanzler Olaf Scholz windet sich um das Thema. Statt Zuwanderung zu regeln, setzt die Regierung Fehlanreize. Die Folgen müssen die überlasteten Kommunen schultern. Wie lange das noch gutgeht?