THEO VAN GOGH WATCH :  DER KONFORM-JOURNALISMUS & DIE UKRAINE / SELENSKY HINTERGRÜNDE

Der Journalismus ist im Krieg nicht neutral

Medien Nicht die eine große Lüge, sondern die vielen kleinen Risse im Gebälk der seriösen Presse bereiten Unbehagen – gerade im Ukraine-Krieg Michael Angele | Ausgabe 22/2022 DER FREITAG

Vor fünf Jahren fällte die Otto Brenner Stiftung ein scharfes Urteil über die Rolle der Medien in der sogenannten Flüchtlingskrise: „Statt als neutrale Beobachter die Politik und deren Vollzugsorgane kritisch zu begleiten (…), übernahm der Informationsjournalismus die Sicht (…) der politischen Elite“, urteilte der Leiter der Studie, Michael Haller. Journalisten und Journalistinnen folgten mehrheitlich dem Narrativ der Willkommenskultur, eine nüchterne Sicht auf die Folgen der Migrationsbewegungen 2015/16 war erst spät möglich. Zu spät, urteilte die Studie.

Die Folgen: „Frontenbildung“. Die desintegrative Wirkung der Medien auf die Gesellschaft verschärfte sich in der Corona-Krise, wobei von „den“ Medien kaum noch gesprochen werden konnte. Alternativmedien und Mainstream standen sich sprachlos gegenüber.

Nun also der Ukraine-Krieg. Anders als in der Pandemie laufen die Fronten nicht mehr ganz so eindeutig entlang von Alternativ- und Mainstream-Medien. Das hat zur Folge, dass sich der skeptische Geist unbehaust fühlt. Er konsumiert zwar, schon weil er informiert werden will, spiegel.de oder faz.net, aber ganz wohl ist ihm dabei nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass dieses Unbehagen verbreitet ist, es stützt sich auf Gespräche im Freundes- und Kollegenkreis, aber mangels solider Datenbasis muss ich dann doch von mir selbst sprechen.

Mein Unbehagen speist sich nicht etwa aus der einen „großen Lüge“ – ich bin schon der Meinung, dass Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg angezettelt hat –, sondern aus vielen kleinen Rissen im Gebälk der Seriosität. Woher kommen sie? Während man der russischen Propaganda zu Recht mit maximalem Misstrauen gegenübertritt, ist das Misstrauen, das ich für einen wichtigen Impuls eines Journalisten halte, gegenüber den Angegriffenen wenig ausgeprägt.

Man scheut sich ja, das Wort „ukrainische Propaganda“ auch nur aufzuschreiben. Manchmal versteckt sich das Unbehagen sogar in einem wie vergiftet wirkenden Lob. „Äußerst professionell“ (und in „großer Zahl“) sei die ukrainische Delegation beim Weltwirtschaftsforum in Davos aufgetreten, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Oder in einer verunglückten Karikatur, mit einem hakennasigen Selenskyj, der über den Delegierten thront und droht, ebenfalls in der Süddeutschen.

Kritischer Journalismus unzeitgemäß

Anderes Beispiel: „Zahlreiche Neonazis kämpfen in der Ukraine für Russland“, meldete spiegel.de. Im Artikel selbst wird darauf hingewiesen, dass das BND-Papier (Topquelle!) keine Zahlen nenne, der Artikel selbst führt drei Einzelfälle auf. Schon möglich, dass es viel mehr sind. Die Überschrift „Zahlreiche Neonazis“ ist aber nicht gedeckt. Zufällig steht sie nicht da, vielmehr folgt sie dem moralischen Impuls, den Anteil der Rechtsradikalen auf russischer Seite möglichst groß, bei den Ukrainern dagegen möglichst klein zu taxieren.

Müssten Journalisten solchen verständlichen Impulsen nicht stärker widerstehen? Nun, die Rückbesinnung auf ein Rollenverständnis, wie es die Otto Brenner Stiftung noch unbefangen einfordern konnte, also einfach „neutraler Beobachter“ zu sein und die Politik „kritisch“ zu begleiten, würde heute, wenn nicht skandalisiert, so doch als unzeitgemäß empfunden.

Die meisten Journalisten sind Partei und hinterfragen ihre Rolle umso weniger, als Gut und Böse in diesem Krieg klar verteilt sind. Die Frage ist dann nicht, ob man das richtige tut, sondern, ob man genug tut. Das mag den Furor erklären, der etwa herrscht, wenn es gilt eine kritische Intervention, sei es zu den verlautbarten Kriegszielen oder seinem möglichen Verlauf, vor allem aber auch zur Deutung einer kriegerischen Handlung durch eine Art Gegenfeuer aus zahlreichen Artikeln gleichsam zu neutralisieren.

Auffällig wenig werden zum Beispiel aktuell U-amerikanische Stimmen kommuniziert, die deutlich kritischer sind, als die Deutsche geschweige denn die osteuorpäische. Ein SPIEGEL-Titel “Amerikas Angst vor dem großen Krieg” ist kaum vorstellbar – dabei sind die USA mit der wichtigste Akteur im Konflikt.

Es muss sich also warm anziehen, wer zum einmal Selbstverständlichen zurückkehren will. Allerdings gibt es auch einen triftigen sachlichen Grund dafür, dass die alten Maßstäbe nicht mehr so recht gelten: Es fehlen die neutralen Quellen im unmittelbaren Kriegsgeschehen.

Verantwortungsbewusste Medien alter Schule wie dem Deutschlandfunk bleibt nichts anderes übrig, als auf diesen Umstand bei jeder Meldung zähneknirschend hinzuweisen.

Fragwürdige Routine

Auch an der Deutungsfront ist der Wunsch groß und verständlich, die Ukraine selbst sprechen zu lassen, allerdings ist aus dem Wunsch fragwürdige Routine geworden. Ein letztes Beispiel: Die Welt berichtet unter einem Foto auf der ersten Seite, dass der russische Soldat Wladim S. von einem Gericht in Kiew zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, weil er einen Zivilisten ermordet hatte. „Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko begrüßte im Fernsehsender WELT das Urteil“, schließt die Meldung.

Unter normalen Umständen wäre das eine bizarre, leicht zu belächelnde Referenz, zumal es nur der Bruder des Kiewer Bürgermeisters ist, der seine Meinung kundtut. Aber die Zeitenwende hat halt auch den Journalismus erfasst. Allerdings steht heute noch mehr auf dem Spiel als in den vergangenen sieben Jahren.