THEO VAN GOGH SIGNALE: LAST ORDERS, GENTLEMEN – PLEASE !

“Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, keinen einzigen Tag. Jeder Kriegstag wird die ökonomischen und sozialen Verwerfungen auf diesem Kontinent um Wochen und Monate verlängern.”

nzz.ch  9-9-22

Michael Kretschmer über Energiepreise: «Wie ein Tsunami»

Mit seiner Forderung, den Krieg in der Ukraine «einzufrieren», hat der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer viele irritiert. Im Gespräch verteidigt er seinen Kurs. Es komme jetzt auf jeden…

THEO VAN GOGH INTERVIEW UKRAINE :  «Die Waffen müssen schweigen, das Sterben muss aufhören, sonst stürzt die ganze Welt ins Chaos»

Mit seiner Forderung, den Krieg in der Ukraine «einzufrieren», hat der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer viele irritiert. Im Gespräch verteidigt er seinen Kurs. Es komme jetzt auf jeden Tag an. Deutschland drohe der wirtschaftliche Niedergang.

Marc Felix Serrao, Dresden NEUE ZÜRCHER ZEITUNG  – 6.09.2022,

 

«Die Kostensteigerungen für Energie sind wie ein Tsunami, der immer grösser wird»: der sächsische Ministerpräsident und stellvertretende CDU-Chef Michael Kretschmer.

 

Herr Ministerpräsident, Sie haben dafür geworben, den Krieg in der Ukraine einzufrieren, und damit auch in der eigenen Partei viel Kritik geerntet. Noch mal zur Klärung. Was verstehen Sie unter «einfrieren»?

Der Krieg in der Ukraine muss gestoppt werden. Die Waffen müssen schweigen, das Sterben muss aufhören, sonst stürzt die ganze Welt ins Chaos. Wir brauchen jetzt eine schnelle und beherzte Diplomatie. Man wird diesen Krieg nicht auf dem Schlachtfeld entscheiden. Und lassen Sie mich das noch sagen: Natürlich ist Putins Angriffskrieg unrecht. Die Territorien, um die es geht, sind ukrainisches Gebiet. Als Reaktion auf den Krieg wollen manche alle Verbindungen mit Russland abbrechen – Verbindungen der Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und die Städtepartnerschaften. Aber Russland ist eine Realität, und es wird auch in 100 Jahren noch da sein. Was wir als Europäer brauchen, ist eigene sicherheitspolitische Stärke, beispielsweise durch einen Raketenabwehrschirm. Aber die Bedingung dafür ist ökonomische Stärke, und die drohen wir durch diesen Krieg zu verlieren. Immer mehr Menschen fordern von der Politik ein entsprechendes Handeln.

Die westlichen Sanktionen schaden Deutschland mehr als Russland?

Es ist eine Spirale, die sich weiterdreht; die eine Sanktion zieht die nächste nach sich. Und mittlerweile haben wir in Deutschland eine Inflation von neun Prozent. Die Kostensteigerungen für Energie sind wie ein Tsunami, der immer grösser wird. Wir müssen eingreifen und handeln. Und der erste Schritt muss das Ende dieses Krieges sein.

Mit Ihrer Forderung fallen Sie der Ukraine da facto in den Rücken. Die Streitkräfte des Landes sind zuletzt in die Offensive gegangen, während Russlands Truppen seit Mitte August keine nennenswerten Geländegewinne mehr verzeichnen konnten. Den Status quo jetzt «einzufrieren», würde bedeuten, den Invasoren die Gelegenheit zu geben, sich zu sammeln und den Krieg später mit neuer Wucht wieder aufzunehmen.

Meine Forderung habe ich schon vor Wochen gestellt. Russland ist stark, und das Land hat viele Ressourcen. Wie lange wollen wir diese Materialschlacht und das Sterben aushalten: Wochen? Monate? Jahre? Was ist der Plan? Wir haben jetzt ein halbes Jahr hinter uns, und wir sehen die Folgen, auch für Deutschland und Europa. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, keinen einzigen Tag. Jeder Kriegstag wird die ökonomischen und sozialen Verwerfungen auf diesem Kontinent um Wochen und Monate verlängern.

Mit der Kretschmer-Doktrin gäbe es vielleicht eine Weile Ruhe. Aber irgendwann würde Russland den nächsten Versuch unternehmen, das Imperium auszuweiten, sicher im verbliebenen Staatsgebiet der Ukraine, vielleicht auch im Baltikum.

Es war ein Fehler, über die vergangenen 30 Jahre nicht in die Sicherheit von Europa zu investieren. Wir brauchen eine europäische Verteidigungsbereitschaft, und auch Deutschland muss dazu einen substanziellen Beitrag leisten. Die 100 Milliarden Euro, die wir jetzt in die Hand genommen haben, decken nur der Investitionsstau der vergangenen Jahre. Es braucht die zwei Prozent jedes Jahr (die Nato-Mitgliedstaaten haben sich darauf geeinigt, je mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für Verteidigung auszugeben, Anm. d. Red.). Bisher rennen wir den Ereignissen hinterher. Wir müssen vor die Lage kommen.

Die Bundesrepublik ist in der EU Hegemonialmacht und will ihren Führungsanspruch künftig auch mit Mehrheitsentscheiden durchsetzen. Mal grundsätzlich: Wie wollte Deutschland den Kontinent führen, wenn es die Vernichtung eines anderen europäischen Landes in Kauf nehmen würde – nur um die eigene Energieversorgung sicherzustellen?

Das ist ein Vorwurf, den Deutschland nicht hinnehmen muss. Unser Engagement, das Engagement der Europäer für die Ukraine ist beispiellos. Nirgendwo haben wir so sehr geholfen, und wir werden das auch in Zukunft tun. Den Krieg anzuhalten, bedeutet nicht, die Ukraine aufzugeben. Im Gegenteil, es ist die Chance, die Dinge zu ordnen.

Der scheidende Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andri Melnik, hat Sie wegen solcher Äusserungen in seinem Land zur unerwünschten Person erklärt. Hat Sie das getroffen?

Ich möchte dazu nichts sagen.

Einer, der Sie lobt, ist AfD-Chef Tino Chrupalla. Sie seien mit Ihrer Haltung zum Krieg ganz auf der Linie seiner Partei. Macht Sie so ein Lob nervös? Die AfD sitzt der CDU in Sachsen im Nacken.

Wir haben die vergangene Landtagswahl mit einer klaren Haltung und einer klaren Abgrenzung gegen Rechts- und Linksextreme gewonnen. Und ich habe mich schon im Februar klar geäussert: Dieser Krieg ist ein Verbrechen, Russland muss das Territorium der Ukraine verlassen. Ich habe aber auch davor gewarnt, dass eine Spirale von Sanktionen unsere ökonomischen Grundlagen zerstören würde. Wir können nicht einfach auf russisches Gas verzichten: Dieser Hinweis von mir wurde damals schnell weggewischt. Die Bundesregierung wollte ein Gasembargo. Und jetzt haben wir ein riesiges Problem. Die Gaspreise explodieren, die ersten Fabriken stehen still, Produktion wird ins Ausland verlagert, Kurzarbeit beginnt wieder. Das ist ein gewaltiger sozialer Sprengstoff. Und die Bundesregierung führt unser Land sehenden Auges in die Rezession.

Was macht die CDU?

Wir haben der Bundesregierung als Oppositionspartei viele Angebote gemacht zur Unterstützung, ich bin selbst auch auf Bundesminister zugegangen. Aber ich spüre bei dieser Regierung zu viel Selbstgerechtigkeit. Das stört mich sehr. Und nicht nur mich. Die Regierung verliert in der Öffentlichkeit gerade erheblich an Respekt.

Sie haben sich dafür ausgesprochen, die drei noch verbliebenen deutschen Kernkraftwerke – Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 –, die eigentlich Ende 2022 abgeschaltet werden sollen, weiterlaufen zu lassen. Es gibt auch Stimmen aus der Union, die fordern, Deutschland müssen bereits stillgelegte Kernkraftwerke reaktivieren und sogar neue bauen. Schliessen Sie sich dieser Forderung an?

Wir brauchen jetzt alles, was an grundlastfähiger Energie verfügbar ist. Dazu gehören selbstverständlich die drei verbleibenden Atomkraftwerke und die drei, die noch im Stand-by-Modus sind. Dazu gehört ausserdem eine generelle Bürgschaft der Bundesregierung für die Stromproduzenten. Viele Stadtwerke würden viel mehr Energie herstellen, wenn sie eine solche Bürgschaft hätten. Ihnen fehlt bei diesen Preisen die Liquidität. Und die Preise werden sinken, sobald wir mehr produzieren.

Was ist mit der Forderung, neue Kernkraftwerke zu bauen?

Lassen Sie mich eines vorwegschicken: Die deutsche Energiewende ist gescheitert, und das sage ich ohne einen Vorwurf an Frau Merkel. Das wäre billig und unfair. Es gab 2011 eine breite gesellschaftliche und politische Mehrheit für den Atomausstieg. Nicht Frau Merkel, sondern wir alle in Deutschland haben an dieser Entscheidung mitgewirkt.

Die Menschen, die den Atomausstieg damals befürwortet haben, sind doch nicht im gleichen Masse verantwortlich wie die Kanzlerin. Merkel hatte die politische Richtlinienkompetenz. Niemand hat sie gezwungen, wegen der Ereignisse von Fukushima auf Kernenergie in Deutschland zu verzichten.

Ich habe nicht gesagt: im gleichen Masse verantwortlich. Im Übrigen war ich damals ein Gegner dieser Entscheidung. Ich habe mich mit Norbert Röttgen gestritten (dem damaligen deutschen Umweltminister, Anm. d. Red.), und ich habe mich mit der Kanzlerin gestritten. Der Atomausstieg war nicht der einsame Weg von Angela Merkel, sondern der gemeinsame Weg einer grossen Mehrheit – mit Schritten, die aufeinander aufbauen sollten: vom Ausbau der Erneuerbaren bis zum Bau von Gaskraftwerken für die Grundlast. Es hätte funktionieren können. Dann kam die Zeitenwende. Jetzt funktioniert es nicht mehr. Und jetzt kommen Sie mit der Frage nach den Atomkraftwerken. Wie beim Atom- und Braunkohleausstieg brauchen wir auch heute eine Kommission, die die ganze Breite der Gesellschaft abbildet: Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen, Sozial-, Umwelt- und Naturschutzverbände. Auch die politischen Lager müssen alle eingebunden werden. Und dann müssen wir uns miteinander darüber unterhalten, ob und wie das Ganze funktionieren kann. Klar ist: Nur mit Erneuerbaren wird es nicht gehen. Das Land braucht eine grundlastfähige Energieform, und es spricht sehr viel dafür, dass Atomkraft dabei eine Rolle spielt.

Der deutsche Inlandgeheimdienst und die Innenministerin haben bereits vor radikalisierten Protesten wegen der Energiepreise gewarnt. Teilen Sie diese Sorge?

Unsere Aufgabe als Politiker ist es nicht zu warnen, sondern zu handeln. Viele Menschen stehen vor massiven Erhöhungen der Nebenkosten und wissen nicht, wie sie die bezahlen sollen. Und aus meiner Sicht muss es auch nicht so kommen.

Sie haben persönliche Erfahrungen mit Protesten gemacht. Im Januar standen 30 Leute bei Ihnen zu Hause vorm Gartenzaun; da ging es um die Corona-Massnahmen. Haben Sie nicht die Sorge, dass die Stimmung im Land im Zuge der Energiekrise erst recht hochkocht?

Ich wünsche mir zur Bewältigung dieser Krise eine breite Debatte. Ich möchte, dass sich die seriösen und klugen Menschen im Land artikulieren und Vorschläge machen, was wir politisch anders machen können. Man kann doch nicht nur über Entlastungspakete sprechen und darüber, wie man am besten Strom und Gas spart. Wir müssen an die Ursachen ran! Nicht jeder Handwerksmeister oder Bürgermeister, der öffentliche Briefe schreibt, trifft den richtigen Ton. Aber die Signale sind klar, und sie müssen ankommen. Wir müssen jetzt deutlich sagen: Nein, es wird kein weiteres Embargo auf russisches Öl geben. Wir können darauf einfach nicht verzichten. Der Krieg muss enden, damit wir wieder wirtschaftlich zusammenzuarbeiten können. Überhaupt, dieser Satz: «Nie wieder Energie aus Russland!» Der ist nicht nur naiv, sondern gefährlich. Ein Russland, das sich nur noch in Richtung China orientiert und mit uns nichts mehr zu tun hat, wird völlig unkalkulierbar.

Lassen Sie uns noch über Ihre Partei sprechen. Am Freitag und Samstag findet in Hannover der erste CDU-Parteitag unter der Führung von Friedrich Merz statt. Hat er die Christlichdemokraten hinter sich?

Ja, das hat er. Es gibt eine sehr positive Stimmung, weil Friedrich Merz es schafft, Teams zu bilden und Menschen einzubinden.

Die Konservativen und der Wirtschaftsflügel der CDU fühlen sich gerade eher suboptimal eingebunden. Da gärt es. Dass Merz für die Frauenquote in der Partei wirbt, empfinden viele als Verrat an bürgerlichen Prinzipien.

Es gibt einen Antrag zur Quote, der seit Jahren vorliegt und über den auf dem Parteitag debattiert werden muss. Ich hoffe, dass wir zügig und klar entscheiden. Die Botschaft muss lauten: Frauen sind in der CDU willkommen. Ich habe in Sachsen alle Listen, für Landtags- und Bundestagswahlen, immer paritätisch besetzt. Das hat funktioniert.

Könnte es sein, dass die Parteispitze, zu der Sie als stellvertretender Bundesvorsitzender gehören, verkennt, wie sehr das Quotenthema die Basis umtreibt? Viele Mitglieder fürchten, dass sich die CDU irgendwann gar nicht mehr von den linken Parteien unterscheidet.

Ich bin sicher, dass der Antrag überarbeitet wird und am Ende mehrheitsfähig ist.

Sie sind Vater von zwei Söhnen. Wollen Sie, dass die beiden in einer quotierten Gesellschaft irgendwann wegen ihres Geschlechts benachteiligt werden? Ich bin Vater einer Tochter, und ich würde nicht wollen, dass mein Kind einem Jungen vorgezogen wird, nur weil es ein Mädchen ist. Sie soll ausgewählt werden, weil sie besser ist.

Ich glaube, dass dieses Thema in der Generation unserer Kinder überhaupt kein Thema mehr sein wird. Gott sei Dank! Ich möchte ein Miteinander. So bin ich selbst aufgewachsen: Um den Haushalt und die Kinder kümmern sich beide Eltern. So wie es im Osten auch selbstverständlich war, dass Frauen arbeiten gehen. Tut mir leid, ich kann mit der Aufregung wenig anfangen.

Dann lassen Sie uns zum Schluss über eine deutsche Institution sprechen, die gerade noch mehr Kummer hat als die CDU.

Die CDU hat keinen Kummer.

Sie haben schon oft positiv über den öffentlichrechtlichen Rundfunk gesprochen. Der sei eine «Insel der Verlässlichkeit, gerade in Zeiten von Fake News». Wie bewerten Sie die jüngsten Skandale nicht nur, aber vor allem beim Rundfunk Berlin-Brandenburg?

Es ist absolut notwendig, reinen Tisch zu machen, aufzuklären und Konsequenzen zu ziehen. Die Gremien müssen ihren Kontrollauftrag verstärken. Der öffentlichrechtliche Rundfunk ist immer noch eine Insel der Verlässlichkeit. Wir können froh sein, dass wir ihn haben, und wir brauchen ihn mehr denn je. Das Vertrauen in diese Institution darf nicht verspielt werden. Guter Journalismus wird von Menschen gemacht, die ausgewogen, differenziert und auch mit einer gewissen Neutralität Dinge erklären.

Würden Sie wirklich sagen, dass der öffentlichrechtliche Rundfunk in Deutschland ausgewogen und differenziert berichtet? Es gibt in den Sendern sehr viele sehr linke Kommentatoren und so gut wie keinen liberalen oder konservativen Kopf. Oder denken Sie an die Umfrage unter den Volontären der ARD. Da hat mehr als die Hälfte der Teilnehmer angegeben, die Grünen zu wählen. Es folgten Linkspartei und SPD. Ihre Partei wäre an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert.

Das gibt es auch. Aber eben nicht nur. Unser Anspruch an Journalismus ist nicht das bessere Facebook oder Instagram, sondern eine Berichterstattung, die ausgewogen, differenziert, auch mit einer gewissen Neutralität Dinge erklärt. Dazu braucht es Fachkenntnis. Es ist leicht, Haltungsjournalismus zu betreiben und sich dahinter zu verstecken. Haltungsjournalismus ist aber kein guter Journalismus. Und das, glaube ich, ist das grösste Problem derzeit. Es ist übrigens ein Thema, das sich durch alle Medien zieht, privat wie öffentlichrechtlich, Zeitung ebenso wie Rundfunk. Es gibt Qualitätsmedien, in denen auch konservative Sichtweisen gepflegt werden. Ihre Zeitung gehört dazu.

Für unsere bürgerlich-liberale Berichterstattung können Sie bezahlen, Sie werden nicht gezwungen. Aber zurück zum RBB und den anderen öffentlichrechtlichen Anstalten. Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie einzelne Verfehlungen, aber keinen Systemfehler?

Nein, den kann ich nicht erkennen. Die Verfehlungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind die Ausnahme und nicht die Regel.