THEO VAN GOGH NEWS AUS DEM „SUMPF“ – BRÜSSEL HAT 25ooo AKKREDITIERTE LOBBYISTEN – MIT WAS SIND DIE WOHL BESCHÄFTIGT!?

Interview: Korruption in Brüssel: „Im Europaparlament fühlt man sich, als stünde man über dem Gesetz“

Herwartz, Christoph • Vor 6 Std. HANDELSBLATT

Der Europachef von Transparency International, Michiel von Hulten, hält die Bestechung einer Abgeordneten nur für die Spitze eines Eisbergs. Es gebe ein Kulturproblem im Europaparlament.

Die mutmaßliche Bestechung einer Vizepräsidentin des Europaparlaments erschüttert Brüssel – doch Michiel van Hulten, Direktor des Brüsseler Büros von Transparency International, hält diesen Vorgang nur für einen von vielen.Am Freitag hatten belgische Ermittler mehrere Wohnungen durchsucht, sechs Personen festgenommen und mehrere Hunderttausend Euro Bargeld beschlagnahmt. Der Verdacht besteht, dass es sich um Bestechungsgelder handelt, die aus Katar an die griechische Abgeordnete Eva Kaili übergeben wurden.Auch van Hulten war einmal Europaabgeordneter, von 1999 bis 2005. Später wurde er Vorsitzender der niederländischen Arbeiterpartei. Seit 2019 arbeitet er für die die Organisation Transparency International, die sich weltweit gegen Korruption einsetzt.Dem Handelsblatt sagte van Hulten, dass im Europaparlament Regelverstöße nicht bestraft würden. Dadurch sei eine „Kultur der Straflosigkeit“ entstanden, die Korruption begünstige. Um das zu beheben, brauche es eine unabhängige Institution mit Ermittlungsbefugnissen.Lesen Sie hier das vollständige Interview:Herr van Hulten, Sie haben am Wochenende gesagt, die Bestechung einer EU-Abgeordneten sei kein Einzelfall. Was meinen Sie damit?

Dieser Fall hat schon eine besondere Größenordnung. Aber wir haben in den vergangenen Jahren eine Reihe von Skandalen im Europaparlament gesehen, bei denen Abgeordnete oder Mitarbeiter in inakzeptable Vorgänge verwickelt waren. Es gab Fälle, in denen Abgeordnete bezahlt wurden, um Änderungsanträge einzureichen. Es ist nicht unnormal, dass Abgeordnete Reisen machen, die von Drittstaaten wie Katar bezahlt werden. Sie sehen dahinter ein System?

Wenn das Europaparlament eine andere Haltung zu Transparenz und Integrität hätte, wäre der aktuelle Skandal unmöglich. Regelverstöße werden nicht bestraft. Es gibt eine Kultur der Straflosigkeit, die Korruption möglich macht. Alle Ansätze, daran etwas zu ändern, werden bekämpft.

Was kann man tun?

Die wichtigste Maßnahme wäre eine unabhängige Ethikkommission. Ursula von der Leyen hat das angekündigt, aber noch keinen Gesetzentwurf vorgelegt. Ermittlungen und Sanktionierungen an ein unabhängiges Gremium außerhalb der EU-Institutionen zu übertragen ist der einzige Weg, die Durchsetzung der Regeln wirklich sicherzustellen. Im Europaparlament ist allein die Präsidentin für Sanktionierungen zuständig, was de facto dazu führt, dass es keine Sanktionierungen gibt. Gibt es solche Gremien bei anderen Parlamenten?

Es gibt verschiedene Ansätze. In den Niederlanden gibt es gar keine Lobbyregeln, Großbritannien hat dagegen eine unabhängige Kommission, die Vorwürfen nachgeht. Aber im Europaparlament, wo so viele verschiedene politische Kulturen zusammenkommen, ist es fast unmöglich, sich auf allgemeingültige Verhaltensstandards zu einigen. >> Lesen Sie hier: Korruptionsskandal in Brüssel – Wer die Beschuldigten sind und wie es weitergehtIst das der Grund für die „Kultur der Straflosigkeit“, wie Sie es nennen?

Zum Teil ja. Aber es ist gleichzeitig ein Vorwand, um nicht mehr tun zu müssen. Gleichzeitig gilt das Europaparlament als besonders transparent.

In bestimmter Hinsicht ist Brüssel den Mitgliedstaaten oft voraus. Die Gesetzgebung im Europaparlament ist tatsächlich sehr transparent, die Lobbygruppen sind sehr sichtbar. Aber ein Land wie Katar kann so ziemlich alles tun, was es möchte, ohne dass es bemerkt wird.

Verwandtes Video: Korruptionsskandal: Ermittler durchsuchen Räume im EU-Parlament (AFP)

Nun wurde die mutmaßliche Bestechung von Eva Kaili aber entdeckt. Zeigt das nicht, dass die Systeme halbwegs funktionieren?

Wenn nur solche Fälle aufgedeckt werden, bei denen mehr als eine halbe Million Euro Bargeld im Spiel sind, dann ist etwas falsch am System. Es ist doch sehr wahrscheinlich, dass es weitere Fälle gibt – vielleicht mit geringeren Summen, mit bezahlten Reisen oder mit anderen Gefälligkeiten. So etwas finden die belgischen Behörden nicht.

Sind Ihnen Fälle bekannt?

Wir wissen von ehemaligen Angestellten aus dem Parlament, die solche Vorgänge thematisiert haben und dann ihre Jobs verloren. Es gibt keinen Schutz für parlamentsinterne Whistleblower – obwohl das Parlament selbst ein Gesetz zum Whistleblowerschutz erlassen hat. Es geht hier sehr wahrscheinlich also um die Spitze eines Eisbergs. Wir müssen auch den Rest des Eisbergs sichtbar machen.

Die Gegner solcher Regeln sitzen wohl vor allem in den beiden großen Fraktionen, also bei den Konservativen und den Sozialdemokraten. Auch manche EU-Mitgliedstaaten haben wenig Erfahrung mit Transparenzregeln und sind skeptisch. Aber es ist vor allem ein kulturelles Problem im Parlament: Im Parlament fühlt man sich, als stünde man über dem Gesetz. Woran machen Sie das fest?

Man sieht es etwa an der Art, wie man dort Entscheidungen trifft. Vor einigen Monaten haben sich mehrere Fraktionen auf einen neuen Generalsekretär geeinigt und dabei die Regeln, die es für die Besetzung dieses Postens gibt, komplett ignoriert. Viel zu viele Mitglieder des Parlaments sind an dieser Art von Vorgängen beteiligt. Dadurch entsteht eine Kultur, die auch Korruption möglich macht. Sind Hinterzimmerdeals nicht normal in der Politik?

Doch. Aber für die Besetzung dieses hohen Amtes gibt es eigentlich ein geregeltes Verfahren. Das hat man umgangen und sich stattdessen im Paket mit der Besetzung weitere wichtige Posten untereinander aufgeteilt.Mehr: Die Korruptionsvorwürfe untergraben die Legitimation des EU-Parlaments – zur Freude von Viktor Orban