THEO VAN GOGH NACHRUF : DER LETZTE DEUTSCHE INTELLEKTUELLE!

„Der Fliegende Robert“ aus dem Band „Die Furie des Verschwindens“ (1980). „Eskapismus, ruft ihr mir zu / vorwurfsvoll. / Was denn sonst, antworte ich, / bei diesem Sauwetter! –, / spanne den Regenschirm auf / und erhebe mich in die Lüfte.“

Hans Magnus Enzensberger : So leicht und elegant wie niemand in Deutschland

  • Von Paul Ingendaay FAZ  – 25.11.2022- Hans Magnus Enzensberger, geboren am 11. November 1929 in Kaufbeuren im Allgäu, gestorben am 24. November 2022 in München, im Oktober 2008 in seiner Münchner Wohnung
  • Mit dem großen Dichter, Essayisten und Herausgeber Hans Magnus Enzensberger geht eine der literarischen Gründungsfiguren der Bundesrepublik. Sein Witz und sein Esprit blieben unübertroffen. Ein Nachruf.

Einen wie ihn gab es noch nicht und wird es wohl auch nicht wieder geben. Das sagt sich leicht – schwerer dagegen ist zu sagen, wo und in welchem Bereich Hans Magnus Enzensberger in der deutschen Literatur seit den späten Fünfzigerjahren nicht seine Spuren hinterlassen hätte. Er war vielreisender Dichter, Sammler, Essayist, Aufklärer, Aufrührer, Anreger, Herausgeber, Redakteur, Provokateur, Reporter, Übersetzer, Kritiker, Pädagoge, manchmal Mahner, manchmal Beschwichtiger und bestimmt das eine oder andere mehr, je nach Laune und Lebensalter. Seine Bücher: leicht mehr als siebzig, je nachdem, wie man zählt.

Kaum jemand in der neueren deutschen Literatur hat in unverschämt jungen Jahren so eloquente, formal ausgefeilte Lyrik geschrieben wie Hans Magnus Enzensberger. „Landessprache“ (1957) und „Verteidigung der Wölfe“ (1960) – ursprünglich in konsequenter Kleinschreibung erschienen – sind noch immer als literarische Paukenschläge der frühen Bundesrepublik vernehmbar, furios, elegant und von kontrollierter Wut gegen das Establishment der Älteren, die noch mit einem Bein auf Schlachtfeldern und in Lagern gestanden hatten.

Der Essay als Paradedisziplin

Enzensberger, Jahrgang 1929, hatte das nicht. „Zur Tatzeit war er einfach nicht alt genug, um in das Verbrechen verwickelt zu sein“, schrieb er lakonisch in dem autobiographischen Band „Eine Handvoll Anekdoten“ (2018). Und dass die Tage der deutschen Niederlage „eine der schönsten Zeiten seines Lebens“ gewesen seien, denn die Auflösung der alten Ordnung – er war Barmann, Dolmetscher, Schwarzhändler – schenkte ihm unerschöpfliche Freiheiten. So stürmte der junge Mann weiter durch die ersten Jahre der Bundesrepublik, promovierte über Clemens Brentano, wurde Rundfunkredakteur bei Alfred Andersch, Lektor beim Suhrkamp Verlag und verzog sich dann auf eine Insel im Oslo-Fjord. Niemand war früher gereift, früher sein eigener Mensch, niemand hatte früher ein denkerisches Profil als Enzensberger – und einen gefährlich schillernden Ruf als Enfant terrible.

Niemand hat aber auch wie er den Aufsatz älterer deutscher Prägung in den modernen Essay verwandelt, in dem das Disputieren zur Paradedisziplin wurde: In „Einzelheiten“, seinem so bescheiden betitelten ersten Essayband, analysierte er die Sprache des „Spiegels“ und die journalistischen Prinzipien dieser Zeitung, das Ideologische der „Wochenschau“, die Selbsttäuschung des Tourismus, vor allem aber sich selbst, den Intellektuellen, und die Bedingungen seines Denkens in Zeiten der „Bewusstseins-Industrie“. Wer das ironische, durch kaum etwas aus der Ruhe zu bringende Parlando der späten Jahre im Ohr hat, sollte noch einmal den schroffen Ton des jungen, an Adorno und Heinrich Heine geschulten Polemikers hören: „Denn der Aberglaube, als könnte der einzelne im eigenen Bewusstsein, wenn schon nirgends sonst, Herr im Hause bleiben, ist heruntergekommene Philosophie von Descartes bis Husserl, bürgerliche Philosophie zumal, Idealismus in Hausschuhen, reduziert aufs Augenmaß des Privaten.“

Der eingreifende Essay, der das Land aus dem Dämmerschlaf riss, blieb über Jahrzehnte seine schärfste Waffe. Seine Rede zur Annahme des Büchner-Preises 1963 zeigte, wie sehr er an der historischen Anomalie der beiden deutschen Staaten litt und dass seine Fluchten aus den BRD-Miseren auch seelische Notwehr waren. Ein weiterer Klageruf war der offene Brief in der „New York Review of Books“, mit dem Enzensberger 1968 sein Fellowship an der Wesleyan University (Connecticut) aufkündigte, um nach Kuba zu reisen und bei etwas Ungewöhnlichem dabei zu sein – einer Revolution, die sich dauerhaft einrichtete. Das Ergebnis war ernüchternd, doch Desillusionierungen hat Enzensberger so wenig gescheut wie Flugmeilen. Deswegen musste er sich nie von Revolutionsnostalgie kurieren, sondern allenfalls seine Neugierde auf linke Experimente erklären. In den Sechziger- und Siebzigerjahren nutzte er als publizistisches Forum die von ihm und Karl Markus Michel herausgegebene Zeitschrift „Kursbuch“, von 1980 bis 1982 „TransAtlantik“. Die Bücher, die seine Essays bündelten, waren Bestseller der Studentengeneration, die in ihm ihren hellsten, undogmatischsten Anreger hatte.

Entdecker der Weltpoesie

Eines der Glanzstücke, in dem sich bei Enzensberger Literatur- und Ideologiekritik verbinden, ist der Essay über die Dichtung Pablo Nerudas, in welchem genau zweierlei geschieht: Während sich vor unseren Augen der Horizont der Weltlyrik weitet, weil der unendlich neugierige Autor den Koloss aus Chile gelesen und übersetzt hat, fällt anderswo ein Vorhang herunter: Mit kompromisslosen Sätzen fertigt der als „links“ geltende Enzensberger den Stalin-Lobhudler Neruda ab, trennt das Früh- vom Spätwerk, den kühnen Formverwandler vom arrivierten Pflichterfüller. Fazit: „So rächt sich an einem mutigen Mann der Irrtum, die Poesie sei ein Instrument der Politik, weit bitterer als der wohlfeile Köhlerglaube, es gäbe eine unpolitische Dichtung, an tausend Feiglingen.“ Solche klaren, metallenen Sätze hat er immer wieder geschrieben und seine Bildung dabei im selben Zug ausgestellt und verborgen. Der Denker war eben immer auch Poet, und diesem war Unschärfe so verhasst wie jenem. Weshalb er ans Ende seines Essays „Poesie und Politik“ über die Nichtswürdigkeit des lyrischen Herrscherlobs die programmatischen Worte setzen konnte: „So bedroht, so schmal ist der Weg der Poesie, und so gering, nicht größer als das unsere, doch deutlicher, ihr Glück.“ Es lohnt sich, diese Worte zweimal zu lesen.

Man hat den jungen Enzensberger frühbegabt, ja genial genannt, aber seine Kommunikationsfähigkeit verhinderte das Abrutschen in fruchtlose Selbstreferenz. Das zeigte sich beim Leser und selbstlosen Übersetzer, der er war. Ein Monument ist das „Museum der modernen Poesie“ (1960), das einem verblüfften Publikum zu einer Zeit, als das durchaus unüblich war, die Lyrik der Avantgarde in Original und Übersetzung nahebrachte. Die Sprachen, die dem Herausgeber Enzensberger dafür aufgrund seiner Reisen und Begabungen zur Verfügung standen, waren Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Norwegisch, Schwedisch sowie ein paar Brocken Russisch.

Was wird von ihm bleiben, außer eben, dass es unermesslich viel ist? Außer der Eleganz, dem Esprit, dem brillanten Deutsch? Genau das, was ein jeder in ihm sehen will. Im „Untergang der Titanic“ (1978) hat er das Epos der Fortschrittsskepsis gedichtet, in „Ach, Europa!“ (1987) die kulturelle Vielfalt des Kontinents lange vor jeder EU-Propaganda besungen und in „Mittelmaß und Wahn“ (1988) brillant das „Nullmedium“ Fernsehen analysiert. „HME“ wurde zu einer Chiffre, wie es sie in Deutschland eigentlich nicht hätte geben dürfen – urban, unzergrübelt und wahrhaft international, ein lächelnder Nachfahre Diderots. Durchaus seines Werts bewusst, hat er den mühsamen Job des deutschen Intellektuellendarstellers umso lieber Günter Grass überlassen.

Warum nicht einfach ausprobieren?

Hervorstechend, für manche skandalös war seine Neigung, eine Sache von beiden Seiten zu bedenken, also die eigene Position auch im Licht ihres Gegenteils zu beleuchten. „Auch wer zu früh kommt, den bestraft das Leben“, schrieb er in seinem Spätwerk „Fallobst“ (2019). Er selbst wurde dabei auf geradezu unheimliche Weise schillernd, unfixierbar und – schlimmes Wort für Prinzipienreiter – unzuverlässig, besonders im Politischen. Die einen skandalisierte er mit seinem Vergleich zwischen Hitler und Saddam Hussein, andere überraschte er mit einer Untersuchung der EU-Bürokratie („Sanftes Monster Brüssel“). Sodann erklärte er uns den Zauber der Zahlen und warnte vor Elektronik als Massenbetrug oder dem Datenklau durch große Konzerne. Seine Schwierigkeiten mit Religionen, Philosophien und ideologischen Systemen beschrieb er kurz und bündig: „Ich kann leider nie ganz glauben, dass sie ernst gemeint sind.“

Dass Enzensberger sich zu wandeln vermochte, fassten Betonköpfe bisweilen als Opportunismus auf; in Wahrheit sprach es von geistiger Beweglichkeit und der Weigerung, zu vergreisen. Konsequenz sei nun einmal nicht seine Stärke, hat er in seinem autobiographischen Skizzenbuch „Tumult“ (2014) geschrieben. Im Zweifelsfall galt vor jedem Projekt: „Es käme auf einen Versuch an.“ Im Ausprobieren und Experimentieren jedenfalls war er von kindlicher Neugierde und unfassbarem Fleiß. Als die wilden Sechziger und halbwilden Siebziger vorüber waren, hatte sich politisch auch für Enzensberger das meiste geklärt. Die Wanderungen wurden weniger, in München-Schwabing fand er seine Basis und nannte die Stadt hintersinnig „bewohnbar“.

Wer ihn in seinen späteren Jahren traf, begegnete einem berühmten Mann, der nicht Hof hielt, sondern unermüdlich Fragen stellte, als lägen alle Entdeckungen noch vor ihm. Die Fähigkeit, andere glänzen zu lassen, verschaffte auch der von ihm zwischen 1985 bis 2004 herausgegebenen „Anderen Bibliothek“ ihren singulären Ruf. Mehr als zweihundert schöne Bände sind in fast zwanzig Jahren erschienen, anfangs noch im Bleisatz aus Franz Grenos Werkstatt, immer aber mit Vorzugs- und Lederausgaben, irgendwann auch in großformatigen Bänden, von Hans Stiletts neuer Montaigne-Übersetzung bis zu Alexander von Humboldts „Kosmos“.

Genialer Förderer der Literatur

Das war und ist eine seiner Glanzrollen, und es war eine dienende: Enzensberger fungierte, ohne Brille und Ärmelschoner, als Deutschlands erster und unterhaltsamster Antiquar. Seine Wunderbibliothek enthielt alles, kanadische Storys, chinesische Romane, polnische Reportagen, nordische Märchen, vergessene Revolutionsberichte und unendlich viel ältere Literatur aller Gattungen, natürlich auch seinen geliebten Diderot. Dass er einen der kapitalen deutschen Schriftsteller der zweiten Jahrhunderthälfte, W.G. Sebald, als Erster energisch förderte, sollte nicht in Vergessenheit geraten.

Hans Magnus Enzensberger war in allen Facetten und über die Jahrzehnte hinweg nicht nur der intellektuelle Puls einer interessanteren Bundesrepublik; er war ihr weltläufigster Vertreter und dem eigenen Land oft weit voraus. Für die Fähigkeit zur Ortlosigkeit, die man als Vorbedingung seiner geistigen Freiheit verstehen muss, hat er viele Masken gefunden. Eine davon steht in seinem Gedicht „Der Fliegende Robert“ aus dem Band „Die Furie des Verschwindens“ (1980). „Eskapismus, ruft ihr mir zu / vorwurfsvoll. / Was denn sonst, antworte ich, / bei diesem Sauwetter! –, / spanne den Regenschirm auf / und erhebe mich in die Lüfte.“ Da oben, irgendwo, wird er noch sehr lange zu sehen sein. Nur hier unten ist Hans Magnus Enzensberger jetzt im Alter von 93 Jahren in München gestorben.