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Kim de l’Horizons Provokation : Wie die Frauen in Iran?
Von Andreas Platthaus FAZ – 18.10.2022- Kim de l’Horizon auf der Bühne bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises an „Blutbuch“
Kim de l’Horizon nutzt die Bühne des Deutschen Buchpreises für eine identitätspolitische Provokation. Die beschworene Parallele zwischen seiner Erfahrung und der iranischer Frauen darf allerdings angezweifelt werden.
Wenn es darum gegangen wäre, die Verleihung des diesjährigen Deutschen Buchpreises unvergesslich zu machen, dann hätte die Jury ganze Arbeit geleistet. Schon als Kim de l’Horizon zu Beginn der Veranstaltung im Frankfurter Römer unter den Nominierten begrüßt wurde, machte sich eine lautstarke Fangemeinde im Kaisersaal bemerkbar. Der Debütroman „Blutbuch“ trifft mit seiner Geschichte einer Person, die sich mit mütterlicher und großmütterlicher Unterstützung den Weg von einem nichtbinären Selbstverständnis zu einem nichtbinären Fremdverständnis gegen die gesellschaftlichen Festlegungen erkämpft, erkennbar den Nerv eines jungen Lesepublikums, das sich in seinen diversitätspolitischen Überzeugungen bestätigt sehen will.
Und als dieser Roman eine Dreiviertelstunde später unter noch lauterem Jubel zum Gewinner des Abends erklärt worden, Kim de l’Horizon auf die Bühne getreten und die erste Hälfte der Danksagung mit tränenreichem Gruß an die Mutter und dem Acapella-Vortrag des Liedes „Nightcall“ absolviert war, da surrte plötzlich ein hereingeschmuggelter Elektrorasierer, und das Haupthaar von Kim de l’Horizon fiel. Und wieder Jubel. Nicht mehr über das Buch. Über die Geste.
„Blutbuch“ ist Literatur mit Wille und Vorstellung: ein aktivistischer Roman, der an grundlegende Fragen von Außenseitertum und Selbstbehauptung rührt. Kim de l’Horizon selbst aber ist an diesem Abend auch Wille und Vorstellung: Die große Bühne des einflussreichsten Buchpreises dieses Landes wird für ein identitätspolitisches Statement genutzt. Eine Dankesrede sei nicht vorbereitet, hieß es zu Beginn des längsten Dankes, den je ein Gewinner hier abgestattet hat, doch das, was dann folgte, war inszeniert bis zum Letzten. Aber nicht großartig inszeniert bis zum Letzten.
Kulturelle Aneignung einer Protestform
Mit dem Abschneiden seiner Haare nahm Kim de l’Horizon eine viral gegangene Protestartikulation iranischer Frauen auf, die damit daran erinnern, dass die Festnahme der in Polizeihaft gestorbenen Mahsa Amini wegen unzureichender Bedeckung ihres Haares erfolgt war. Die Stigmatisierung von Frauenhaar als unzüchtig durch die Sittenwächter des Mullah-Regimes reduziert eine Hälfte der Bevölkerung auf deren Geschlecht, lässt deren Körper zum fremdbestimmten Zeichen werden. Gegen solche politische Inanspruchnahme setzen die protestierenden Frauen das Opfer ihrer Haare: Wenn sie darauf reduziert werden sollen, sind sie ohne besser dran. Dass damit zugleich das gängige Frauenbild traditionaler Gesellschaften attackiert wird, versteht sich von selbst.
Kin de l’Horizon eignete sich diese Protestform an, obwohl er sich weder als Mann noch als Frau verstanden sehen will. Oder vielmehr: weil er sich weder als Mann noch als Frau verstanden sehen will. Die Geste der Parteinahme für die Proteste in Iran wurde im Kaisersaal verstanden, es hätte der Begründung gar nicht bedurft. „Aber dieser Preis ist nicht nur für mich . . .“, hatte Kim de l’Horizon vor der Rasur angehoben und den Satz danach erst beendet: „. . . ich denke, die Jury hat diesen Text auch ausgewählt, um ein Zeichen zu setzen für die Liebe, gegen den Hass, für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden. Dieser Preis ist offensichtlich auch für die Frauen in Iran.“
Hinter dieser Formulierung steckt eine Parallelisierung des eigenen Schicksals mit dem der Protestierenden, die in einem Interview, das Kim de l’Horizon noch am selben Abend in Deutschlandfunk Kultur gab, ganz deutlich wurde, als auf die Frage, was denn die Verbindung mit dem Kampf der Frauen in Iran ausmache, als Antwort kam: „die Unterdrückung meiner Rechte aufgrund meines Körpers . . . Wir können nur von diesen Frauen lernen, die so mutig sind, die so unglaublich stark sind, die überhaupt nicht in unser westliches Bild von Weiblichkeit hineinpassen . . . Ich habe nie in diese Vorstellung von Geschlecht hineingepasst, in die Vorstellung, wie mein Körper aufwachsen soll, in was für einen Erwachsenenkörper ich hineinwachsen soll.“
Kim de l’Horizon benennt damit eine Grunderfahrung von zwischen den Geschlechtern wechselnden Personen: dass sie gegen die Erwartung von Eindeutigkeit verstoßen und deshalb weder als Männer noch als Frauen anerkannt werden. Feministinnen wie Alice Schwarzer, die sich gegen das Frausein von Trans-Personen aussprechen, mussten gar nicht mehr genannt werden, um zu wissen, worum es Kim de l’Horizon geht: um die Verabschiedung der Geschlechterdichotomie, damit das selbst empfundene Dazwischen widerspruchlos gelebt werden kann. Ob das allerdings dem Empfinden und mehr noch den Erfahrungen der von Kim de l’Horizon beschworenen Frauen in Iran entspricht, darf bezweifelt werden. Sie leben im Widerspruch, und das macht sie stark. Sie sind näher am Emanzipationsideal des klassischen Feminismus als an dem des Diversitätsdenkens.