THEO VAN GOGH DIAGNOSE: WM &Proteste in Iran / EINE ÜBERSICHT

iele regimekritische Iraner glauben nicht, dass ihnen die Fußballnationalmannschaft bei der WM in Qatar helfen kann. Sie bezichtigen das Gastgeberland der Kollaboration mit dem Regime in Teheran.  Rainer Hermann FAZ  29-11-22

Fünfzehn Minuten vor Anpfiff wird je­des Transparent an der Sicherheitskon­trolle am Ahmed-bin-Ali-Stadion in der qatarischen Stadt Al-Rayyan genau ge­prüft.

Zwei Fans falten eine riesige bunte Plane zusammen, die anderswo inspiziert wird. Daneben umringen vier Uniformierte etwas unschlüssig einen iranischen Fan, der so kurz vor Beginn des Spiels gegen Wales wenig Verständnis für die Prozedur hat. Er rollt erst mit den Augen, dann rollt er das Transparent zu­sammen und erwidert auf die Frage nach dem Inhalt: „Grüße an meine Familie in Teheran.“

Nach dem Spiel berichten Frauenrechtsaktivisten, sie seien für Stunden festgesetzt worden, weil sie T-Shirts trugen, auf denen die Worte „Women Life Freedom“ prangten, und sie sich weigerten, die auszuziehen. Beim Spiel Bra­silien gegen Serbien sei das merkwürdigerweise kein Problem gewesen, sagt eine Aktivistin.

Wenn Iran gegen Wales spielt, ist das etwas anderes. Seit dem 16. September erschüttern Proteste die Islamische Republik. Die politische Krise greift längst auf den Fußball über, und so wurde die Partie, ein einfaches Gruppenspiel der aktuellen Fußballweltmeisterschaft, zu einem politischen Hochrisikospiel. Es dürfte noch heikler werden, wenn die iranische Mannschaft an diesem Dienstag auf das Team der Vereinigten Staaten trifft und zwei Nationen gegen­einander antreten, die auf dem Feld der Politik erbitterte Gegner sind. Antiamerikanische Feindschaft gehört zum ideologischen Markenkern des iranischen Re­gimes, das von Washington mit harten Strafmaßnahmen belegt ist. Der amerikanische Fußballverband hat in den so­zialen Medien das rote Emblem der Islamischen Republik aus dem breiten weißen Band der iranischen Flagge entfernt. Man wolle auf diese Weise Solidarität mit den Demonstranten zeigen, verlautbarten die Amerikaner.

Wunsch nach einem klaren politischen Zeichen

Der iranische Fußballverband konterte am Wochenende, Iran werde Beschwerde dagegen einlegen, sobald die Mannschaft auch die USA besiegt habe. Revolutionsführer Ajatollah Ali Khamenei, der nicht für Fußballbegeisterung bekannt ist, hat noch einmal klargemacht, dass er gegenüber den Demonstranten nicht nachgeben will. Er beschimpfte sie am Wochenende als „eine Handvoll Irrläufer und ahnungsloser Söldner“. Der iranischen Mannschaft wünschte er während seines Auftritts vor Milizionären der Bassidsch, einer berüchtigten Freiwilligentruppe, „Gottes Segen“. Die Nationalmannschaft bereite ihm Freude, sagte Khamenei.

Doch in Iran scheint die oft beschworene verbindende Kraft des Fußballs nicht zu wirken. Wenn die Nationalmannschaft, wie am Freitag gegen Wales, gewinnt, stecken die Sicherheitskräfte Fähnchen in ihre Gewehre. Es werden Feuerwerke abgebrannt oder Bonbons verteilt. Aber anderswo skandieren die Leute Namen jener Spieler, die ihre Helden sind, weil sie sich mit der Protest­bewegung solidarisieren.

Auf die Nationalspieler, die jetzt in Qatar auf dem Platz stehen, wirkt daher enormer Druck. Während sich das Re­gime gern im Glanz ihrer Erfolge sonnt, wünschen sich die Regimegegner, dass die Mannschaft in Qatar ein klares politisches Zeichen in die andere Richtung setzt. An­dere haben das getan. Der frühere Bundesligaprofi Ali Karimi, der bisher be­kannteste Fußballprofi Irans, lebt heute in Dubai und forderte seine 14 Millionen Follower auf Instagram auf, keinen Schritt zurückzuweichen, sonst „feiern die Bluthunde der Islamischen Republik auf unseren Leichen ihre Feste“.

Vor dem Spiel gegen Wales singen die aktuellen Nationalspieler verstohlen die Nationalhymne mit – anders als noch in der vorigen Partie gegen England, als sie symbolträchtig geschwiegen hatten. Manchen ist das nicht genug. „Sie müssen viel mehr tun als das. Sie sollen klar Farbe bekennen. Sie sind doch durch ihre Bekanntheit geschützt“, sagt ein iranischer Fan vor dem Stadion in Al-Rayyan. Seine Mutter springt schnell vor eine Fernsehkamera, um ihre regimekritische Botschaft loszuwerden. Für die beiden ist der Protest allerdings vergleichsweise un­gefährlich, sie leben in Europa. Andere Fans, die in Teheran leben, sind gnädiger mit den Spielern. „Auch sie müssen Angst haben. Niemand ist sicher. Wenn wir auf die Straße gehen, müssen wir da­mit rechnen, erschossen zu werden“, sagt einer von ihnen.

„Teheran ist kein sicherer Ort“

Nicht alle iranischen Nationalspieler sind glühende Unterstützer der Proteste. Die Zerrissenheit der Gesellschaft lässt auch die Nationalmannschaft nicht unberührt. Einige Nationalspieler gelten als regimetreu, von zweien ist es bekannt. Andere lehnen die Machthaber in Teheran ab. Wie viele es sind, ist nicht genau auszumachen, und auch nicht, wie stark deren Aversion ist. Nicht alle sind so of­fen wie der bei Bayer Leverkusen spielende Sardar Azmoun, der sich öffentlich für die Frauenrechte in seinem Land positioniert hat und unter Druck geraten ist. Ein anderer Fußballprofi, Woria Ghafuri, der von 2014 bis 2019 immerhin 26 Länderspiele für Iran betritt, sitzt für seine politischen Äußerungen seit wenigen Tagen in Haft.

Fans, die am Freitag gegen Wales ins Stadion gehen, tragen Pappschilder oder Trikots mit seinem Namen. Oder dem Na­men der jungen Kurdin Mahsa Amini, die in Polizeigewahrsam umgekommen war und deren Tod im September die Protestwelle entfacht hat, die in Iran bis heute anhält.