STIMMEN DER ANDEREN DEUTSCHEN FRIEDENSBEWEGUNG ZU SYRIEN / Petra Becker

In Syrien Taten statt Worte  : Warum die Militäroption in Syrien nicht vom Tisch genommen werden darf

 – Petra Becker  (Bundeszentrale für politische Bildung) ist, wie sie selbst betont, ein Kind der Friedensbewegung. Trotzdem favorisiert sie ein begrenztes militärisches Eingreifen in Syrien. Denn die Zögerlichkeit der internationalen Gemeinschaft habe Syrien erst in den blutigen Bürgerkrieg geführt, der die gesamte Region noch über Jahre destabilisieren könnte.

Die erste verpasste Chance: 2011

Erinnern wir uns: Begonnen hat der Konflikt im März 2011 mit einer friedlichen Protestbewegung. Präsident Assad reagierte statt mit Zugeständnissen mit exzessiver Gewalt. Er ließ auf unbewaffnete Demonstranten schießen, ließ Ärzte, die verletzte Demonstranten behandelten, zu Tode foltern, und Soldaten hinrichten, die sich weigerten, auf Demonstrationen zu schießen.

Die Reaktionen im Ausland waren von Anfang an ambivalent: Während westliche Botschafter sich öffentlich mit den Demonstranten solidarisierten, was bei der syrischen Opposition die Hoffnung nährte, der Westen werde – wie vorher in Libyen – eine blutige Niederschlagung der Revolution verhindern, wurde der Konflikt vor allem von Russland und China als ein vom Westen lancierter Aufstand radikaler Islamisten gegen das syrische Regime interpretiert.

Diese zwei unterschiedlichen Lesarten verhindern bis heute eine Lösung des Konflikts. Die Bemühungen, im Rahmen des UN-Sicherheitsrates eine Grundlage für einen Machtwechsel in Syrien zu schaffen, scheiterten am Veto Russlands und Chinas. Aber auch manche Akteure im Westen waren froh darüber, sich hinter dem russisch-chinesischen Veto verstecken zu können, denn im Westen stand nach Afghanistan und Irak niemandem mehr der Sinn nach einem militärischen Engagement in der Region.

Folge: Militarisierung und Radikalisierung des Konfliktes

So kam es, dass das syrische Regime im August 2011 ungehindert weiter auf Demonstranten schießen und militärisch gegen aufständische Gebiete vorgehen konnte. Infolge dessen begann sich ein Teil der Protestbewegung im Sommer 2011 zu bewaffnen. Kern dieser bewaffneten Gruppen waren anfangs desertierte Soldaten und Offiziere. Schon bald schlossen sich ihnen Zivilisten an, die lieber kämpfen wollten, als tatenlos zuzusehen, wie Freunde und Verwandte umgebracht wurden. Anfangs nur zum Schutz von Demonstrationen und Zivilisten gedacht, begannen sie ohne zentrales Kommando, auch Militärposten aktiv anzugreifen und einzelne Stadtviertel und Dörfer zu erobern.

Die zweite verpasste Chance: 2012

Das Regime reagierte mit noch mehr Gewalt und ließ – trotz Bemühungen der Arabischen Liga und der UN um einen Waffenstillstand – aufständische Dörfer und Stadtteile auch mit schwerer Artillerie, Luftwaffe und schließlich Scud-Raketen großflächig angreifen. Gleichzeitig begann die politische Opposition vom Ausland aus auf einen Sturz des Regimes hinzuarbeiten und bat eine Reihe von Staaten um finanzielle und militärische Hilfe. Sie forderte eine Flugverbotszone, die es dem Regime unmöglich machen sollte, die eigene Bevölkerung umzubringen.

Als klar wurde, dass man für ein solches Engagement keinen Konsens finden würde, verlegte sich die Opposition (vertreten durch die “Nationale Koalition”) darauf, um Geld und Waffen nachzusuchen, um das Regime eigenhändig stürzen zu können. Diese Hilfe wurde von einigen Staaten zugesagt, blieb aber weit unter dem, was den Sturz des Regimes hätte herbeiführen können – teils aus Skepsis gegenüber den militärischen Fähigkeiten und Kontrollmöglichkeiten der “Freien Syrischen Armee”, teils aus Furcht, dass die Waffen in die falschen Hände geraten könnten. So musste die politische Opposition mit ansehen, wie sich die Kämpfer im Inland denjenigen zuwandten, die effektive Hilfe beschaffen konnten: dschihadistischen Milizen, finanziert von Geldgebern aus den Golfstaaten, sowie Al-Qaida-Netzwerken.

Folge: Konfessionalisierung und Internationalisierung des Konfliktes

Dies wiederum spielte dem Regime in die Hände, das seit Beginn des Aufstandes versucht hatte, sich als Beschützer der religiösen Minderheiten zu präsentierten, eine Strategie, die sowohl im Inland als auch im Ausland verfangen konnte: Angehörige von Minderheiten, die sich anfangs an den Protesten beteiligt hatten, gingen zunehmend auf Distanz zur Opposition. Umgekehrt sahen die sunnitischen Städte und Dörfer, die vom Regime kollektiv bestraft wurden, vor allem die Alawiten – eine schiitische Religionsgruppe, der auch Assad angehört – mehr und mehr als Komplizen des Regimes.

Diese Konfessionalisierung ging Hand in Hand mit der Internationalisierung des Konfliktes: Da Assads überwiegend alawitische Elitetruppen und Schabiha-Milizen – ohnehin auf Finanz- und Militärhilfe aus Russland und Iran angewiesen – dem Ansturm der Rebellen bald nicht mehr standhalten konnten, kamen ihnen die schiitische Hizbollah aus dem Libanon und schiitische Milizen aus dem Irak zu Hilfe. Die sunnitisch dominierte Opposition wird dagegen von den sunnitisch geprägten Golfstaaten und der Türkei unterstützt.

Die dritte verpasste Chance: 2013

Als sich nach dem Chemiewaffeneinsatz gegen die Zivilbevölkerung in Syrien am 21. August 2013 mit ca. 1.400 Toten ein Militärschlag gegen Syrien unter Führung der USA abzeichnete, kam eine neue Dynamik ins Spiel. US-Präsident Obama hatte am 20. August 2012 auf einer Pressekonferenz eine “rote Linie” gezogen: Sollte der syrische Präsident biologische oder chemische Waffen gegen sein Volk einsetzen, würden die USA militärisch eingreifen. Ein Jahr später sah sich Obama, der eigentlich mit dem Wahlversprechen angetreten war, Amerikas Kriege in Übersee zu beenden, dann tatsächlich in der Pflicht.

Aber während die Milizen in Syrien sich auf den angekündigten Militärschlag vorbereiteten, den sie für eine Offensive gegen die Regimekräfte nutzen wollten, einigten sich die USA und Russland quasi über Nacht darauf, dass Syrien einen Militärschlag abwenden könne, wenn es seine Chemiewaffen abgibt. In Windeseile wurde dieser Vorschlag mit dem syrischen Regime abgestimmt, am 27. September 2013 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat eine entsprechende Resolution zu Syrien – die erste seit Beginn der Revolution in Syrien, die nicht von Russland und China mit einem Veto belegt wurde.

Folge: Stärkung des Regimes, der Al-Qaida und anderer radikaler Kräfte; Marginalisierung der Demokratiebewegung

Der vom Regime bekämpfte Teil der Bevölkerung traute seinen Augen nicht. Nicht nur, dass der Giftgaseinsatz ungestraft blieb: Das Regime wurde durch diese Initiative quasi als Gesprächspartner auf Augenhöhe rehabilitiert. Auch am Boden hatte die Kehrtwendung durchschlagende Wirkung. Die wichtigsten Oppositionsmilizen in Syrien sagten sich von der “Nationalen Koalition” los und kündigten an, nun selbst den Kampf gegen das Regime in die Hand zu nehmen – und nach seinem Sturz einen islamischen Staat zu gründen. Im Norden des Landes liefen Kämpfer von gemäßigten Milizen zu Al-Qaida-nahen Milizen über, da sie sich darin bestärkt sahen, dass aus dem Westen keine Unterstützung zu erwarten sei.

Das Regime dagegen empfand die Übereinkunft zwischen den USA und Russland als Ermutigung. Es hatte ein weiteres Mal Zeit gewonnen und intensivierte die Luftangriffe auf Wohngebiete sogar noch. Auch weiterhin kommen in Syrien monatlich ca. 5.000 Menschen ums Leben – durch konventionelle Waffen, aber auch durch Vakuumbomben, TNT-Fässer, Streumunition, Phosphor und Napalm – schon 2012 von Human Rights Watch dokumentiert und zuletzt am 11. November 2013 in der ARD-Reportage “Syriens Kinder” gezeigt. Weitere Zehntausende Syrer sind in die Türkei, in den Libanon oder nach Jordanien geflüchtet. Zudem setzt Assad nun auf eine Waffe, die von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt wirken kann: Er hungert die Hochburgen des Widerstandes systematisch aus. In manchen Vierteln von Damaskus verhungern seit Wochen Kinder.

Wen wundert es da, dass die Demokratiebewegung, zu der nicht nur die Auslandsopposition gehört, sondern auch eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Gruppen im Inland, in die Defensive gerät? Auch wenn westliche Medien selten über sie berichten: Diese Gruppen existieren zu Hunderten. Sie betreiben Untergrundkliniken, organisieren heimlich humanitäre Hilfe, reparieren Wasserleitungen, schlichten Konflikte und publizieren neu entstandene Zeitungen. Diesen Gruppen ist zu verdanken, dass der Konflikt noch immer nicht zu einen konfessionell motivierten Bürgerkrieg geworden ist. Durch das Anhalten des Konfliktes allerdings laufen genau sie, die für den Wiederaufbau von so immenser Bedeutung sind, Gefahr, zwischen Regime und Dschihadisten aufgerieben zu werden.

Der Status Quo: massenhaftes Sterben – und humanitäre Hilfe, die nicht ankommt.

So schaukelt der Konflikt sich seit zweieinhalb Jahren hoch. Viele sprechen seit einem Jahr von einem Patt zwischen den Regimekräften und den Oppositionellen. Manche schlagen gar zynisch vor, den Konflikt “ausbluten” zu lassen. Was dabei – abgesehen von der Menschlichkeit – außer Acht gelassen wird, ist, dass dieses tatenlose Zusehen nur noch weiter in die Radikalisierung führt.

Die Zahl der Toten hat sich im letzten Jahr vervielfacht. Wer überlebt, flüchtet, wer nicht flüchten kann, verarmt. Inzwischen zählt man 2,5 Mio. Flüchtlinge und 130.000 Tote. Die UN-Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass Ende des Jahres 10 Mio. Syrer – das ist fast die Hälfte der Bevölkerung – auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden. Sie drängen darauf, dass sie diese Hilfe auch leisten dürfen, denn bisher tut das Regime in Damaskus alles, um eine Versorgung aufständischer Gebiete zu unterbinden. Das führt zu der absurden Situation, dass internationale Hilfsorganisationen an der syrisch-türkischen Grenze bereitstehen, um Hilfsgüter in den Norden Syriens zu liefern, dies aber nicht dürfen, weil das Regime in Damaskus es ihnen untersagt.

Der Genf-II-Prozess: Eine aussichtsreiche politische Lösung?

Wie ich schon sagte: Ich komme aus der Friedensbewegung. Darum ist es für mich selbstverständlich, zunächst alle politischen Optionen auszuloten, bevor man über eine militärische Option nachdenkt. Nach der Annahme der Syrien-Resolution des Sicherheitsrates über die Vernichtung der Chemiewaffen ist auch die Umsetzung des politischen Übergangsprozesses wieder aufgenommen worden, den die UN und die Arabische Liga bereits 2012 gemeinsam angestoßen hatten. Die USA und Russland einigten sich auf die schnellstmögliche Einberufung einer zweiten Friedenskonferenz zu Syrien (Genf-II-Konferenz), bei der sich Regime und Opposition mit am Konflikt beteiligten Staaten u.a. auf eine gemeinsame Übergangsregierung einigen sollen. Von Russland wird erwartet, dass es das Regime an den Konferenztisch bringt. An den USA wäre es, die Opposition zu überzeugen.

In den letzten Wochen wurde in der Opposition heftig um die Teilnahme an Genf II gerungen. Die “Nationale Koalition” hat inzwischen bekanntgegeben, dass sie bereit sei, an der Konferenz teilzunehmen, unter der Bedingung, dass sichergestellt werde, dass eine dort zu bildende Übergangsregierung mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet ist und Assad und sein Umfeld keine Rolle in einem zukünftigen Syrien mehr spielen dürfen.

Auch das Regime hat mittlerweile erklärt, dass es an den Genf-II-Gesprächen teilnehmen wird, macht aber gleichzeitig klar, dass die Herrschaft Assads nicht zur Disposition steht. Unter diesen Umständen ist zu bezweifeln, dass es zu substanziellen Verhandlungen in Genf kommen wird. Gleichwohl kann Genf II gelingen, aber nur dann wenn allen beteiligten Kräften – auch Russland, Iran, Saudi-Arabien und den Golfstaaten – klar gemacht werden kann, dass ein Fortdauern des Krieges für alle katastrophale Folgen haben wird. Dazu gehören insbesondere der Zerfall der staatlichen Strukturen in Syrien und die weitere Zunahme der immensen Flüchtlingsbewegungen in Richtung Libanon, Türkei und Jordanien. Das Ausgreifen des Konfliktes auf die Nachbarländer würde Europa nicht nur vor ein immenses Flüchtlingsproblem stellen, sondern die Region in einer Weise verelenden lassen, dass sie sich erst recht zu einer Brutstätte für Extremismus und Terrorismus entwickelt.

Die Uhr tickt gegen die Diplomatie

Nun ist der Termin für die Konferenz auf den 22. Januar 2014 festgesetzt worden. Bis dahin werden Tausende Syrer verhungern und erfrieren, wenn es nicht gelingt, das Regime in Damaskus dazu zu bewegen, internationalen Hilfsorganisationen freien Zugang zu allen Landesteilen zu verschaffen. Dazu müssen Russland und Iran Druck auf Damaskus ausüben.

Gelingt dies nicht – und wohlgemerkt nur dann – gebietet es die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft, zur Option einer Flugverbotszone zurückzukehren, die das Regime daran hindern würde, die aufständischen Gebiete zu bombardieren. Diese Bombardements sabotieren seit zwei Jahren die Versuche der Zivilgesellschaft, das öffentliche Leben aufrechtzuerhalten. Eine Flugverbotszone – im Verein mit Militärhilfe für handverlesene Oppositionsmilizen – könnte den Norden des Landes stabilisieren, einen weiteren Zerfall der staatlichen Strukturen aufhalten, und schließlich auch die Möglichkeit eröffnen, die Flüchtlingsströme aus den Nachbarländern in sichere Gebiete im Inland zurückzuleiten. Das würde den radikalen Kräften den Wind aus den Segeln nehmen und die Kräfte, die an die internationale Gemeinschaft und an Demokratie glauben, rehabilitieren.

Natürlich ist das Problem der radikalen Gruppen damit nicht gelöst. Hilfe von Seiten der internationalen Gemeinschaft und die Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben sind aber die Elemente, die demokratisch gesinnte Syrer benötigen, um die Extremisten zurückzudrängen. Viele, die sich extremistischen Gruppen aus versorgungstechnischen und nicht aus ideologischen Gründen angeschlossen haben, werden ihnen die Gefolgschaft aufkündigen, sobald sie eine konkrete Alternative vorfinden.

Man sollte sich auch klar vor Augen führen, dass eine spürbare Schwächung der militärischen Möglichkeiten des Regimes eine innere Dynamik in Gang setzen könnte, die zur Trennung von Hardlinern und Verhandlungsbereiten – und möglicherweise zur Isolierung des harten Kerns des Machtzirkels um Assad führen kann. Dies würde die Erfolgsaussichten eines international vermittelten Verhandlungsprozesses erheblich erhöhen.

Machen wir uns nichts vor: Ein Engagement mit militärischen Elementen steht der internationalen Gemeinschaft bevor – so oder so. Schon jetzt machen sowohl das Regime als auch die Opposition darauf aufmerksam, dass ein Wiederaufbau in Syrien internationale Truppen erfordern wird. Beide sprechen von Friedenstruppen – aber je länger der Konflikt andauert, desto robuster wird das Mandat einer Friedenstruppe ausfallen müssen. Angesichts dessen wäre es nicht nur menschlicher, sondern auch politisch klüger, jetzt zu handeln.

Literatur

Asseburg, Muriel/ Wimmen Heiko (2013): Der Bürgerkrieg in Syrien und die Ohnmacht der internationalen Politik, Stiftung Wissenschaft und Politik, in: HSFK u.a (Hrsg.): Friedensgutachten 2013, Berlin: Lit Verlag, S. 236-250. »http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/fachpublikationen/Friedensgutachten_BeitragAsseburg.pdf«

Hokayem, Emile (2013): Syria’s Uprising and the Fracturing of the Levant, in: Adelphi Series, No. 438, Washington: International Institute for Strategic Studies. »https://www.iiss.org/en/publications/adelphi/by%20year/2013-7c11/syria-s-uprising-and-the-fracturing-of-the-levant-1a4e«

Bender, Larissa (2012): Der schwierige Weg in die Freiheit, Bonn: Dietz-Verlag.

Helberg, Kristin (2012): Brennpunkt Syrien; Einblicke in ein verschlossenes Land, Freiburg: Herder Spektrum.

Wieland, Carsten (2012): A Decade of Lost Chances; Repression and Revolution from Damascus Spring to Arab Spring, Seattle: Cune Press.

Kodmani, Bassma/ Legrand, Félix (2013): Empowering the Democratic Resistance in Syria, Arab Reform Initiative, Paris/ Beirut. »https://s3.amazonaws.com/files.arab-reform.net/Protecting+the+Democratic+Resistance+in+Syria.pdf«

 

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Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-nd/3.0/de/ Autor: Petra Becker für bpb.de

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