Soziologiekolumne : Säkularisierung, Wiederkehr der Religion – Beschneidungsriten

Von Jürgen Kaube

Der Zauberer zeigt seinem Publikum Kugeln, Karten, Schnüre, Hasen oder Mädchen, um sie dann mittels einiger Handbewegungen zum Verschwinden zu bringen. Oder er zerteilt sie, die Mädchen und die Schnüre, um sie sogleich wieder ganz und schön von irgendwo hervorzuziehen. Zur Ablenkung der Betrachter dienen jeweils Gesten, Spiegel und Redensarten.

Es gibt eine Analogie zu dieser Technik im Bereich der Sozialwissenschaften, nämlich die Zeitdiagnose. Auch sie lässt ständig Objekte verschwinden und zieht sie wieder hervor. Unablässig verkündet die Zeitdiagnostik den Anfang und das Ende, die Wiederkehr und den Verlust von etwas.

Natürlich sind dabei auch die Objekte des Zeitdiagnostikers – der Kapitalismus, die Arbeit, die Ungleichheit, der Staat, die gegenständliche Malerei, die Innenstädte oder der Körper – nie wirklich weg, sondern nur mittels Ablenkungen weggeredet und hinter vorgehaltenen Geschichten verborgen. Doch die entsprechenden Diagnosen einer Wiederkehr der Klassengesellschaft, des Politischen, der Präsenz, des Landlebens und (!) der Urbanität verblüffen viele Leser doch.

Zumal der Zeitdiagnostiker es, anders als der Zauberer, ernst meint.

Er teilt nicht mit, der Trick bleibe sein Geheimnis, sondern will glauben machen, es gebe gar keinen Trick, alles sei vielmehr geistesgegenwärtige Erkenntnis. So kommt man in die Medien.1

Ein erster Effekt solcher Zeitdiagnostik ist die wundersame Epochenvermehrung. Wer auch nur einige der vergangenen Jahrzehnte bewusst und lesend mitverfolgt hat, kann sich nur schwer dem Eindruck entziehen, schon Zeuge von mindestens einem Dutzend historischer Zäsuren geworden zu sein. Seit

1) Vgl. Fran Osrecki, Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität. Bielefeld: transcript 2011.

Mitte der siebziger Jahre war ein mehr oder weniger aufmerksamer Beobachter beispielsweise dabei beim Ende der Industriegesellschaft, des sozialdemokratischen Zeitalters, des tonalen Komponierens, der immerwährenden Prosperität, der Geschichte, der Moderne, der Privatheit, der Demokratie, der Ironie, der Welt, wie wir sie kennen, der Unterscheidung von U und E in der Kunst, der Normalität, des Eigentums, der Familie, der Mittelschicht. Und so fort, fast beliebig, mit den entsprechenden »Post«-Konstruktionen (Postmoderne, Posthistoire, Postdemokratie etc.) und der eben jederzeit bestehenden Möglichkeit, den Hasen wieder aus dem Hut zu holen.

Unter den vielen Wiederkehren, die dem entsprechen, wird seit gut einem Jahrzehnt eine Wiederkehr besonders nachdrücklich behauptet: die Wiederkehr der Religion.2

 Belegt wird sie unter anderem durch das Vordringen evangelikaler Sekten in Lateinamerika, Asien und Russland, durch den Katholizismus in Afrika, die politische und demographische Verbreitung des Islam, durch Debatten über Kopftücher, öffentliche Demonstrativgebete, Karikaturen und die Beschneidung, durch religiöse Motive in amerikanischen Wahlkämpfen und durch Fundamentalismen aller Arten. Als Wiederkehr lassen sich die entsprechenden Phänomene dabei selbstverständlich nur unter zwei Bedingungen behaupten: sofern ein vorhergehendes

Verschwinden der Religion festgestellt werden konnte; und sofern die religiösen Erscheinungen der Gegenwart in irgendeinem Sinne etwas Altes, schon einmal Dagewesenes repräsentieren.

Wiederkehr setzt Abwesenheit bei durchgehaltener Identität voraus.

Was das vermeintliche Verschwinden der Religion angeht, so wird es üblicherweise durch den Begriff der säkularisierten Gesellschaft plausibel gemacht. In ihrer einfachsten Variante vollführt die Zeitdiagnose damit diese Bewegung:

Einst war die Religion allgegenwärtig – ich zeige euch das Mittelalter –, dann fing sie an zu verschwinden – ich zeige euch die Renaissance, Descartes, Voltaire und Feuerbach sowie Kirchen im gegenwärtigen Schweden –, viele dachten schon – ich zitiere Marx, Darwin, Freud, Sartre –, das wäre es jetzt gewesen, aber weit gefehlt: Ich zeige euch fünfhundert Millionen Pfingstbewegte, die Jugend auf Katholikentagen, Kirchen in Nashville (Tennessee) und die Fortschritte des Minarettbaus in NordrheinWestfalen. Seht ihr?

Es liegt auf der Hand, welche Manöver hierzu nötig sind. Zunächst die Bereinigung der Vorzeit. Aus dem Bild des Mittelalters oder anderer Epochen und Gesellschaften – etwa »primitiver«  Gesellschaften, die zwar gleichzeitig mit den »entwickelten« existieren, aber als Repräsentanten von etwas Altem gelten –, die zu Kontrastzwecken als voller Glaube dargestellt werden, wird wegretouchiert, was an Ausdifferenzierung und also Begrenzung der Religion auch in ihnen feststellbar ist. Die Frage, ob und inwiefern die Gläubigen glaubten, wird tunlichst vermieden.

Fromm, lesen wir aber,4  wurde einst nicht mit »pius«, gläubig, sondern mit »probus«, rechtschaffen, übersetzt. Die Religion war also, bevor sie wiederkehren konnte, normaler als es jeder Wiederkehr möglich wäre.

2) Vgl. Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«. München: Beck 2001; Gottfried Küenzlen, Die Wiederkehr der Religion. Lage und Schicksal in der säkularen Moderne. München: Olzog 2003; Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München: Beck 2004.

3) Die große Ausnahme: Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt: Suhrkamp 1987.

4) Bei Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland. München: Beck 2005.

Danach wird unter umgekehrten Vorzeichen auch die Abwesenheitsphase dieser Prozedur unterzogen. Aus dem Bild der Renaissance etwa sind der Sternaberglaube und die Alchemie ebenso fernzuhalten wie aus dem der Aufklärung, dass sie auch die Epoche des Mesmerismus und der Freimaurerei gewesen ist; oder aus dem 19. Jahrhundert, dass zeitgleich mit der Elektrotechnik auch das Mormonentum begründet wurde und parallel zur Erfindung des Zündnadelgewehrs und der Harnstoffsynthese ein »Second Awakening« stattfand. Außerdem wechsle man je nach Beweisabsicht die Quellensorte und Quellenherkunft für die Präsenz und Absenz von Religion.

Man stelle also den Diagnosen urbaner Intellektueller im Europa von gestern Missionsgewinne bei der Landbevölkerung des Vorderen Orients heute gegenüber. Oder man verzichte darauf, in den Erregungsbedürfnissen Jugendlicher das Gemeinsame religiöser und »säkularer« Freizeiterlebnisse zu erkennen, um zwischen Woodstock und Kirchentagen eine Epochenzäsur legen zu können.

So wird die Frage vermieden, was genau und ob jeweils dasselbe wiedergekehrt ist, wenn deutsche Gymnasiasten dem Papst zujubeln oder arbeitslose ägyptische Ingenieure Bombenattentate auf amerikanische Hochhäuser durchführen.5

 Diffus kehrt jedenfalls, da weder nach arm und wohlhabend, sonntäglichem und alltäglichem Bekenntnis, sozialen Bewegungen und Kirchen, Theologien und Ideologien oder Semantiken und Strukturen unterschieden wird, stets einfach »Religion« wieder.

Eine zweite Wirkung des zeitdiagnostischen Verfahrens ist die Abstumpfung des Sinns für die begrifflichen Instrumente, die es verwendet. Der Missbrauch von »Epoche«, »Moderne« oder »Säkularisierung« lässt den Eindruck entstehen, es handele sich bei solchen Vokabeln nur um massenmediale Knallkörper oder ideologische Nebelkerzen. Das macht die Reaktion mancher Historiker und Soziologen verständlich, der Säkularisierungstheorie, ja überhaupt theoriegeleiteten Aussagen über Richtungsmuster des (religions)historischen Wandels jeden wissenschaftlichen Sinn abzusprechen. »Säkularisierung« wäre dann nur das rhetorische Motiv einer »großen Erzählung« im Kampf zwischen nichtreligiösen mit religiösen Interessen.

Zu behaupten, man lebe in einem säkularisierten Zeitalter, diente, so gesehen, nur zur Rechtfertigung antikonfessioneller Welt- und Gesellschaftsbilder, der Bedeutungsverlust des Religiösen wäre nicht viel mehr als die Diagnose, die Nordeuropa sich in den sechziger Jahren selbst stellt, von Harvard oder Bielefeld aus gesehen. Was es aber tatsächlich gebe, lautet die Schlussfolgerung, seien keine Trends, sondern nur regionale Unterschiede: Säkularisierung diesseits, Religion jenseits der nordeuropäischen Grenzen. Weltweit, heißt es überdies, werde ja nicht einmal der Begriff »Religion« einheitlich verwendet, habe jedes Land seine eigenen, unvergleichlichen säkularen Bewegungen, könne von Merkmalen der Moderne, die in Bezug auf Religion überall anzutreffen seien, nicht gesprochen werden.7

Im Fluchtpunkt dieses begrifflichen Defätismus, dem es geboten scheint, von vielen Modernen zu sprechen, liegen beliebig viele kleine Erzählungen, die sich allenfalls zu einer großen Erzählung vonBeliebigkeit zusammenfassen lassen.8

5) Vgl. Diego Gambetta/ Steffen Hertog, Why are there so many Engineers among Islamic Radicals? In: Archives Européennes de Sociologie, Nr. 2, 2009.

6) Vgl. Manuel Borutta, Genealogie der Säkularisierungstheorie. Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne. In: Geschichte und Gesellschaft, Nr. 3, 2010.

7) Vgl. José Casanova, The Secular, Secularizations, Secularism. In: Craig Calhoun u.a. (Hrsg.), Rethinking Secularism. Oxford University Press 2011.

8) Vgl. Wolfgang Knöbl, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika. Frankfurt: Campus 2007.

Anything happens, if it happens. Das aber ist, wie alles Geschichtenerzählen, soziologisch kein gangbarer Weg. Denn wie leicht zu sehen ist, beansprucht schon die Rede von den vielen, mehr oder weniger religiösen Modernen erstens ein Kriterium dafür, in einer jeden von ihnen das Moderne zu identifizieren, und zweitens einen Religionsbegriff, der Vergleiche erlaubt.

Das führt zur Frage, was mit dem Begriff der Säkularisierung denn sinnvollerweise hätte gemeint sein können.

Vielleicht kann man an dieser Stelle den Stier bei den Hörnern packen und gerade an Phänomenen der vermeintlichen »Wiederkehr der Religion« zeigen, dass sie eine säkularisierte Gesellschaft voraussetzen. Immerhin ist es ja auffällig, dass die Religionsgeschichte ebenfalls das Unselbstverständlichwerden von Religion reflektiert. Man konstatiert eine abnehmende Wunderhäufigkeit bei wachsender Heiligenmenge und entsprechend extensiver Auslegung des Wunderbegriffs.9

 Man registriert eine Umstellung göttlicher Mitteilungen von stark situationsabhängiger zu schriftlicher Autorität: direkte Ansprache an die Gesamtpopulation bei Adam und Eva, dann ausgewählte Kommunikationspartner in face-to-mask-Situationen mit brennenden Dornbüschen, Wolken etc., dann Propheten als Sprachrohre, dann der eigene Sohn, und zurück bleiben schließlich Texte und Organisationsfragen. Entsprechend zeigt sich die Religionsgeschichte auch als Geschichte zunehmender hermeneutischer Anstrengungen (Allegoresen, Dogmatiken, Entmythologisierungen), um das eigentlich Gemeinte aus den Erzählungen herauszupräparieren.

Hier ist Max Webers erstmals 1913 artikulierter Befund eines universalgeschichtlichen Prozesses der »Entzauberung« einschlägig, der eine Substitution magischen Denkens durch technisches Denken behauptete. Die besondere Pointe dieser These war, dass die entsprechenden Rationalitätsgewinne nicht nur Philosophie und Wissenschaft zu verdanken seien, sondern, Weber zufolge, durch Weltreligionen selbst befördert wurden, die aus ihrem Gottesverhältnis instrumentelle und berechnende Einstellungen (»Zauber« in Form von Opfern und Beschwörungen, Heilsgarantien durch Gesetzesbefolgung) entfernten. Aus dieser Beteiligung religiösen Glaubens am Säkularisierungsgeschehen konnte dann gefolgert werden, dass sich in der neuzeitlichen Gesellschaft nicht nur die Bedeutung von Religion wandelt, sondern auch ihre prominenten Formen, ihre Dogmatik, ihr Verständnis des Kultus, ihr Glaubensbegriff. Mitunter führte das zur Vermutung, die säkularisierte Welt begünstige bestimmte gut an sie angepasste Konfessionen, vor allem den Protestantismus.

Ein Merkmal besonders derjenigen religiösen Bewegungen, die zum Beleg der unverminderten Kraft der Religion herangezogen werden, scheint die polemische Stellung, in die sie sich gegen ein solches Entzauberungsgeschehen bringen. Liberalisierungen und Anpassungen orthodoxer Lehren werden als Belege dafür gedeutet, dass die modernen Menschen »nicht glauben, was sie glauben« (Charles Péguy). Dabei gibt es selbstverständlich auch für den, dem das missfällt, keinen Weg zurück zur Unmittelbarkeit, was durch inszenierte Umwegempörungen in Kairo über Karikaturen in einer dänischen Tageszeitung gut illustriert wurde. Auch lässt man sich von heiligen Texten nur sehr selektiv und gewissermaßen mit anderen Rücksichten als nur denen auf »Glaube« zwingen, was besondern deutlich wird, wenn der heilige Text gar nicht zwingt: etwa zur Verhüllung von Frauen, gar von Kindern

9) Alexander C. T. Geppert /Till Kössler (Hrsg.), Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert. Berlin: Suhrkamp 2011.

oder zur Beschneidung, sondern die entsprechenden Bedürfnisse nach »Identität« sich nur religiös am besten diskussionsfrei stellen lassen. Ach so, es ist ein religiöses Gebot – das ist etwas anderes!

Mit anderen Worten: Religion ist – wie sonst vielleicht nur noch moderne Kunst – in hohem Maße selbstprogrammierend. Wer behauptet, einem eigenen Strafgesetzbuch zu folgen, eine eigene Physik entdeckt zu haben oder der wahre Staat bestehe aus den Mitgliedern des George-Kreises, muss damit rechnen, dass in diesen Fragen nur noch über, aber nicht mehr mit ihm geredet wird. Als Religion hingegen kann so gut wie jede Art von Erwartungsbildung beachtlich gemacht werden. Die entsprechende Gleichgültigkeit gegenüber kognitiven Begründungspflichten irritierte schon in der Spätantike die philosophischen Kritiker des Christentums.10

Offensiv gewendet ergibt sich aus dieser Auffassung des Fürwahrhaltens als Willensakt vielfach die Nähe der »wiederkehrenden« Religion zum Fanatismus, die Freude an den Zumutungen, die Religiosität für andere enthalten kann, der Genuss daran, unter Berufung auf Religion die moderne Gesellschaft selbst oder jedenfalls viele Strukturen, die einem nicht passen, ablehnen zu können. Sozialer Widerspruch wird zum Motiv für religiöse Emphase und kann dabei auf lange Traditionen der »Weltablehnung« selektiv zur Ablehnung ganz bestimmter Welten, zum Beispiel »westlicher« zurückgreifen. Die Verve, mit der sich manche Vertreter der christlichen Konfession in Debatten über Rechtsprobleme mit Riten anderer Weltreligionen einschalten, mutet dann mitunter nostalgisch an.

Dem philosophischen Begriff des »Fürwahrhalten als Willensakt« entspricht der soziologische einer »Privatisierung religiöser Entscheidungen«. Gemeint ist damit, was juristisch »Glaubensfreiheit« heißt und das Recht auf Unglauben oder Indifferenz einschließt.

Der Gegenbegriff zu »privat« ist hierbei nicht »öffentlich«, sondern »kollektivistisch«. Die entsprechende historische Sequenz, die den Glauben immer stärker als eine biographisch begründete Entscheidung profilierte, begann in Europa mit der Möglichkeit des Konfessionswechsels, an die sich später die Möglichkeit des individuellen Konfessionswechsels anschloss. Eine weitere Stufe war erreicht, als negative Bekenntnisse kommunizierbar wurden: Bis ins 19. Jahrhundert galt dann zwar noch als Atheist, wer sich einem Bekenntnis offen entzog.

Oder es musste bei Personen, die sich dem christlichen Pensum verweigerten, die Verfallenheit an »Ersatzreligionen« (Bildungsreligion, Kunstreligion, Wissenschaftsreligion, die »Kirche Darwins« etc.), vermutet werden. Aber schließlich wurde sogar religiöse Indifferenz vorstellbar und das Fußballspielen am Sonntag nicht mehr als bestimmte Negation des Kirchgangs verbucht, die zu bekämpfen sei, sondern bloß noch als unbestimmte Trostlosigkeit, die sich allenfalls bedauern lasse.

Säkularisiert kann aus dieser Sicht eine Gesellschaft genannt werden, in der keiner Entschuldigung bedarf, wer beim Gottesdienst fehlt, und in der zahllose soziale Handlungsfelder aus der Sicht der auf ihnen Agierenden religiös völlig unspezifisch sind. An der Geschichte ehedem konfessionell gebundener Parteien, die um ihrer Wahlgewinnabsichten willen so inklusiv geworden sind, dass Muslime Christdemokraten sein können, ist dieses Verständnis von Säkularisierung genauso abzulesen wie an der Zulassung »gemischt«-konfessioneller Ehen unter der Prämisse »All you need is love (und ein Standesamt)«. Säkularisiert wäre aber auch eine Gesellschaft zu nennen, in der die Religionszugehörigkeit besonderer Motive bedarf und auch das,

10) Vgl. die glänzende Darstellung von Winfried Schröder, Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit. Stuttgart: Fromann Holzboog 2011.

was geglaubt wird, sich kaum noch auf lokalen Konsens berufen kann. Die aggressive, fundamentalistische wie die enthusiastische, pfingstlerische Insistenz der einen und die um Konturen gegenüber allgemeinen Werteformeln unbekümmerte Weichgespültheit der anderen sind beides Versuche, in den Genuss von Gleichsinn zu kommen, wobei das entschiedene Dagegensein noch stets am meisten individualisiert hat. »In der Form religiöser Fundamentalismen wendet der moderne Individualismus sich gegen sich selbst, und deshalb muss die Kommunikation auf Radikalität, auf Glaubwürdigkeit des Unglaubwürdigen bestehen.«11

Das mündet dann in etwas angestrengte Behauptungen wie die, Maria habe in Fátima 1917 die russische Revolution und den Untergang des Sowjetreichs geweissagt, Kopftücher von Fünfzehnjährigen seien Zeugnisse einer besonders schamhaften, sonst so nicht mehr anzutreffenden Moral oder Vierjährige durchliefen im religiösen Ritual die Statuspassage zum Mann. Oder in die noch angestrengtere, historisch selbstverständlich völlig unsinnige Behauptung, man lebe unter einem Ansturm von Verweltlichung, die Kritik religiösen Verhaltens beabsichtige dessen Austreibung, Religionen, deren Traditionen nicht komplett erhalten würden, gingen unter. Solche Sozialapokalypsen pflegen eine absichtsvolle Ignoranz gegenüber dem religionsgeschichtlichen Gestaltwandel aller Religionen. Es geht ihnen allerdings auch mehr um den Genuss von Opposition und des publizistischen Aromas von Kulturkämpfen, am besten astronomischen Ausmaßes. Das Religionstirolertum, das sich um die Würde der Stammzelle besorgt zeigt, während es die Repression der Frauen als Ausdruck einer Schamkultur deutet, hält sich, was den Verstand angeht, mit der atheistischen Gentheologie als jüngster Ausgabe des Kraft- und Stoffmaterialismus die Waage.

Allerdings unterscheidet es sich in seinem kalkulierten Fanatismus von dem der spätantiken Apologetiker, die nicht im Traum daran gedacht hätten, allein schon der Aufschrift »wird intensiv geglaubt« die Schutzwürdigkeit einer religiösen Festlegung um fast jeden Preis zu entnehmen. Der moderne Apologet genießt, auch dies ein Indiz für Säkularisierung, schon die Existenz von Glauben überhaupt, ganz gleich, was im Einzelnen geglaubt wird. Er trägt einen Hut, nicht nur weil es ihm praktisch erscheint oder schön oder um ihn ziehen zu können – sondern mit besonderem Aplomb, weil fast alle anderen keinen tragen. Und so ist er zum Beweis seiner Fähigkeit, den Freiheitsbegriff in den Dienst seiner romantischen Projektionen zu nehmen, sogar zu Argumenten wie dem imstande, die Beschneidung liege im Interesse von Knaben, weil sie nur so die Möglichkeit hätten, sich später für oder gegen die entsprechende Konfession zu entscheiden. Das ist eine interessante Auslegung des Begriffs »Biographie«.

Die Debatte um die Beschneidung ist insofern für religiöse Argumente in einer säkularisierten Gesellschaft besonders signifikant, weil sich in ihr das moderne Paradox einer individuellen Entscheidung zur Religion bei gleichzeitiger Leugnung dieses Individualismus in Begriffen wie »kulturelle Identität« oder »Volk« am tatsächlichen Individuum, hier: dem Kind, zeigt.

11 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp 2000.

Aus: MERKUR, Heft 11, 2012