Russlands 1968? – Oliver Carroll im Gespräch mit Artemy Troitsky und Peter Pomerantsev (MERKUR DEBATTE)
Oliver Carroll:
Von Voina bis Bykov, von Pussy Riot zu den Moskauer Hipstern scheint die Kultur in Russland derzeit politisch sehr aufgeladen. Wie ist das zu erklären? Gab es das zuvor in Russland? Erleben wir ein russisches »1968«? Und falls ja, ist es mit denselben Spaltungen – politischen und solchen zwischen den Generationen – verbunden wie damals in der europäischen Revolte? Oder handelt es sich hier um etwas ganz anderes?
Artemy Troitsky:
Sollte es sich hier tatsächlich um eine kulturelle Revolutionhandeln, dann, fürchte ich, nur im sehr kleinen Maßstab. Im Vergleich mit dem komplett lethargischen und komatösen ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich im politischen und kulturellen Leben Russlands zwar tatsächlich etwas getan. Aber verglichen mit der kulturellen Euphorie, die das Land zu anderen Zeiten erlebt hat, etwa während der Shestidesiatniki-Bewegung, also dem Aufbruch in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern, oder während Perestroika und Glasnost in den Achtzigern, handelt es sich hier um eine viel überschaubarere Angelegenheit.
Das Traurigste daran: Die kulturellen Entwicklungen sind heute viel stärker auf eine Elite, auf eine ganz schmale Schicht des russischen Volks begrenzt als während der beiden früheren Tauwetterperioden. Damals war das eine massive Bewegung, die von Millionen »normaler« Russen unterstützt und getragen wurde. Was wir heute erleben, ist vergleichsweise minoritär und wird von der Mehrzahl der Russen wenig oder gar nicht beachtet. Außerdem gibt es eine heftige Gegenbewegung. Sicher gab es auch während Glasnost stalinistische Schriftsteller, die die alten Prinzipien beschworen.
Aber damals waren sie die Minderheit. Heute sind wir es, die in die Ecke gedrängt werden.
Oliver Carroll:
Peter, Sie haben in den Nullerjahren in Russland gelebt – der am wenigsten politisierten Phase der modernen Geschichte Russlands. Am Ende des Jahrzehnts waren Sie auch in Moskau, zu dem Zeitpunkt kehrte die Politik mit Macht zurück. Stimmen Sie Artemy zu, dass die Veränderungen seitdem unbedeutend sind, im Vergleich mit den sechziger und achtziger Jahren?
Peter Pomerantsev:
Im Vergleich damit ist alles in Russland unbedeutend. Alles in Russland scheint geschrumpft zu sein und nur noch ein Echo aus größeren Zeiten. Ich stimme Artemy völlig zu, allerdings scheinen mir gerade die Details sehr wichtig, weil sich die Art des Kampfes ein wenig verändert hat. Zu Sowjetzeiten gab es eine Sowjetkultur und eine dissidentische Kultur. Heute gibt es diesen deutlichen Unterschied nicht. Ich habe in den letzten Tagen zum Beispiel einige Leute von den Naschi getroffen. Ich war ziemlich überrascht zu sehen, dass sie einer Hipster-Ästhetik anhängen. Sie lieben Animes, sie lieben moderne Kunst, sie haben sogar eine Art westlichen Sprachstil angenommen – und ihn dann umgedreht und mit ihrem Patriotismus und Quasifaschismus verschmolzen. Übrigens hat der Kreml schon die radikalsten Kunstprojekte gesponsert, etwa Kiril Serebrennikows Territoriya-Festival. Der Kreml hat wirklich alles unternommen, um eine kulturelle Revolte zu verhindern, indem er sich diese Sprache angeeignet und zum Teil des Systems gemacht hat. Und natürlich ist sie dadurch ziemlich sinnlos geworden.
Was ich in den letzten achtzehn Monaten in Sachen Kultur und Sprache erlebt habe, scheint mir ein Versuch der Opposition, eine Miniwelt für sich zu schaffen, einen Raum, der nicht durch die Einmischung des Kreml affiziert ist. Und das scheint mir unglaublich und inspirierend. Es ist kein Kampf »Wir« gegen »Sie«, sondern ein Kampf zwischen Manipulation und Integrität und die Suche nach einer neuen Sprache. Auf diese Art ist es auch ein sehr viel subtilerer Krieg als in den sechziger und achtziger Jahren – das war fast ein napoleonischer Krieg. Das jetzt ist mehr wie der Kalte Krieg, hier und da ein paar Gefechte, Spione, die sich in den Kulturkriegen treffen. Das heißt nicht, dass es unbedeutend wäre, es ist nur viel subtiler und spielerischer.
Artemy Troitsky:
Mir scheint sich manches von dem, was Peter sagt, auf das vergangene Jahrzehnt zu beziehen, nicht auf die Gegenwart. Während der Nullerjahre gab es einen offensichtlichen und auch ziemlich erfolgreichen Pakt mit dem Regime: »Wir garantieren ein Mindestmaß von Stabilität und Wohlstand – und ihr könnt euer koreanisches Auto kaufen und Urlaub in Ägypten machen.« Für die Wirtschaft galt, in Putins eigener Formulierung, das Gebot: »Pizdit, no ne pizdet« (»Stehlt, so viel ihr wollt, aber haltet die Klappe«). Einen ähnlichen Pakt gab es mit der kulturellen Elite: Tut, was immer ihr tun wollt, experimentiert mit Sex, Drogen, Gewalt … Ihr wollt Filme machen, neben denen die Quentin Tarantinos wie die Muppet Show aussehen? Nur zu … Und die Kulturelite sagte: »Ja, prima, das ist fantastisch.«
Oliver Carroll:
Was ist dann mit Pussy Riot passiert? Was hat sich verändert?
Artemy Troitsky:
Wir leben jetzt in einer anderen Ära, der ganze Pakt ist zusammengebrochen. Das begann nach der Finanzkrise 2008. Es kam zum Kollaps, weil die Regierenden ihren Teil der Abmachung nicht mehr einhalten können und weil es eine ganze neue Generation gibt, die nicht mehr so leben will. Diese neue Bewegung ist nicht mehr mit den materiellen Versprechen zu ködern, mit denen Putin die Kulturelite gezähmt hat. Jetzt geht es um Moral und Ethik.
Peter Pomerantsev:
Mir scheint, dass das Hauptproblem für die Protestbewegung darin besteht, eine Sprache für diese neue Moralität zu finden, eine Sprache, in der sie ihren Ekel kommunizieren kann, da der Kreml bis zu einem gewissen Grad ein Monopol auf die Sprache hat. Mir scheinen da sehr unterschiedliche Sprachströmungen zu existieren. Es gibt etwa die Rückkehr der Dissidentensprache der Siebziger. Ich habe zum Beispiel das Wort »dostoiny« (»Anständigkeit«) gehört. Ich habe »nerukopozhatny« (»man kann jemandes Hand nicht schütteln, weil sie zu schmutzig ist«) gehört – das ist nie weg gewesen, aber ich höre es sehr oft. Ebenfalls »nezapachkatsya« (»ichmöchte nicht schmutzig werden«).
Pussy Riot verwenden einige dieser Ausdrücke, aber sie greifen auch auf die Sprache des Situationismus zurück, also die Sprache der kritischen Theorie im Frankreich der sechziger Jahre. In diesem Sinn fühlt es sich wirklich ein wenig wie 1968 an. Es gibt eine Sprache, die der Architekturtheorie und den Urbanismusdiskussionen entstammt, dem Kampf um öffentlichen Raum, um den Schutz historischer Bezirke in Moskau. Es gibt das Phänomen der Architekturschulen, die zur Brutstätte der Revolution werden, weil Architektur und Stadtplanung zu Schauplätzen geworden sind, auf denen dieMenschen ihren Wunsch nach Revolte ausdrücken können.
Ich glaube, dass man einen beträchtlichen Teil dieser neuen Energie auf Artjom Loskutow zurückverfolgen kann, einen situationistisch-absurdistischen Künstler aus Nowosibirsk. Ich habe seine Freunde in Sankt Petersburg und Moskau getroffen, die mit absurden Plakaten auf die Straßen gingen, darauf standen Sachen wie »Der Himmel ist heute rosa«. Wie kann man darauf reagieren? Dissidenz kann man mehr oder weniger durch Umarmung unschädlich machen, aber diesen Absurdismus kann man nicht umarmen.
Darum brachten Voina und Pussy Riot auch so einen frischen Wind – und darum hat man sie auch als so große Bedrohung gesehen. In einer anderen Kultur wären sie vielleicht zu frivol gewesen. Wäre das in England passiert, hätten die Leute wohl so etwas gesagt wie »Ja, schon gut, aber nicht weiter aufregend«. In Russland war das aber lebenswichtig. Das waren so etwas wie seltsame Strahlen, die sie in das vom Kreml inszenierte Spiel aussandten –und das kam als richtige Schockwelle an. Das war die einzig mögliche Antwort auf die Kremlsprache des Absurdismus. Und da drehten die Kremlleute durch.
Artemy Troitsky:
Und reagierten, indem sie selbst noch absurder wurden. Was jetzt geschieht – die neuen Gesetze und PR-Strategien –, das ist wirklich Absurdes Theater.
Peter Pomerantsev:
Da stimme ich vollkommen zu. Wir haben gerade drei Tage mit Vorträgen von russischen Politikern zugebracht, die uns erklärt haben, wie falsch alle stereotypen Vorstellungen über die Russen sind. Da wurden Wladimir Schirinowski und einige der hässlichsten Figuren der russischen Politik aufgefahren, um uns zu überzeugen. Es war fast wie am Ende von Hamlet: »Ihr glaubt, wir seien verrückt? Wir sind wirklich verrückt!« Oder wie der Moment, wenn eine Party ihrem Ende zuneigt, und alle sind betrunken und sagen »Einen letzten Tanz jetzt, und zwar alle«.
Schirinowski hat wie üblich den Zeitgeist sehr gut erfasst: »Ich hasse euch so sehr, dass die Übersetzer nicht in der Lage sein werden, meinen Hass zu übersetzen. Überall ist Korruption, überall ist Schmutz. Wir leben in einer Welt des Bösen.«
Es war eine Performance, aber er hat doch die Wahrheit gesagt, auf eine Weise, auf die nur ein Narr die Wahrheit sagen kann. Zugleich hat man den Eindruck, dass da eine Maschine außer Kontrolle gerät. Wladislaw Surkow und Gleb Pawlowski, die bisher die Fäden gezogen haben, sind weg – und die Marionetten zucken noch und versuchen, sich weiterzubewegen. Wir sind in einer Situation, in der, um Matvey Ganapolski zu zitieren, »die Gesetze schneller erlassen werden, als man sie drucken kann«. Die Maschine rast bergab, und die Bremsen funktionieren nicht.
Oliver Carroll:
Aber jetzt spielt die Opposition auch ihren Part in der Absurdität. Sie hat sich doch von der Sprache entfernt, von der wir gerade sprachen:Moralität, Legalität, Ehrlichkeit. Darüber haben die Leute im Dezember geredet, aber das scheint mir jetzt schon wieder vorbei.
Artemy Troitsky:
Nein, nein. Wenn wir die ewige russische Frage stellen –»Was tun?« –, ist die Agenda noch immer dieselbe, nur die Umstände habensich etwas verändert. Vor einem Jahr dachten wir, wir hätten die Energie, das intellektuelle Vermögen und auch die Unterstützung der Massen. Teilweise waren da hunderttausend Leute auf den Demonstrationen.
Im Moment hat sich die politische Atmosphäre verändert. Die meisten Oppositionsführer haben begriffen, dass es sehr schwierig sein wird, dieses Regime zu beseitigen, wenn die Opposition nicht die Unterstützung oder jedenfalls die Sympathie der sogenannten normalen Leute hat. Darum gibt es eine gewisse Verschiebung von den Slogans »Moralität, Anständigkeit, Ehrlichkeit« hin zu einer stärker sozial orientierten Agenda. Wir sprechen überökonomische Fragen, soziale Fragen – wie Renten und Arbeitslosigkeit –und auch über nationale und nationalistische Fragen, die in der Tat ein sehr heißes Thema sind hier in Russland.
Pussy Riot haben uns klargemacht, dass wir nicht die Mehrheit sind. Für manche war das ein ziemlicher Schock, für mich übrigens auch. Mir war nicht klar, wie stark der Konservatismus und reaktionäre Gedanken in der Gesellschaft dominieren. Ehrlich gesagt verstehe ich es noch immer nicht wirklich. Ich finde Pussy Riot mutig, lustig, nett, sexy und freiheitsliebend.
Ihre Aktion in der Kirche war kühn und überzeugend – mal abgesehen davon, dass viele diese Kirche gar nicht als Kirche wahrnehmen. Die Jesus-Christus-Erlöser-Kirche ist noch keine zehn Jahre alt und sieht eher wie eine Shopping Mall oder ein Geschäftszentrum aus.
Oliver Carroll:
Mit einer Tiefgarage …
Artemy Troitsky:
Genau. Und einer Autowaschanlage … In Wahrheit, glaube ich, sind die Russen gar nicht wirklich sture oder sehr gläubige orthodoxe
Christen. Das ist doch Unsinn! Die Leute sagen Sachen wie »Das ist Blasphemie, ich möchte diese Mädchen lynchen«. Aber wenn du einen Russen fragst, wann er das letzte Mal in der Kirche gewesen ist, dann wird er, wenn er ehrlich ist, zugeben, dass er noch nie in die Kirche gegangen ist oder vor fünf Jahren mal auf einem Tagesausflug mit seiner Familie nach Wladimir.
Was hat die Leute in der Pussy-Riot-Sache dann so über alle Maßen erzürnt? Ein Grund liegt sicher im Chauvinismus und Hass auf den Feminismus. Aber es ist auch eine Generationenfrage: Sie sind Punks, sie sind jung. Aus demselben Grund haben in den sechziger und siebziger Jahren ältere russische Kommunisten und Arbeiter die Hippies auf der Straße attackiert und verprügelt.
Aber das ist nicht die ganze Antwort. In Wahrheit verstehe ich nicht wirklich,wie mein Volk so brutal, so dumm, so konservativ und so ignorant sein kann,um nicht zu sehen, dass Pussy Riot für uns, für unsere Freiheit eintreten.
Peter Pomerantsev:
Ich versuche eine Antwort, auch wenn sie vielleicht nicht vollständig ist. Ich glaube, dass das Drama in Russland nicht in der Differenz von liberal und konservativ, zwischen links und rechts, Asien und Europa oder einer anderen der in diesem Zusammenhang oft gehörten Dichotomien stattfindet. Die Auseinandersetzung in Russland besteht, wenn man es auf den Punkt bringt, auf der einen Seite zwischen einem überwältigenden, umfassenden Zynismus, der sich selbst feiert und genießt und glaubt, dass alles käuflich ist und dass es keine Werte gibt, und dem Bemühen um Anständigkeit auf der anderen Seite.
Das ist eine alte Schlacht. Eine Schlacht, die in Russland seit der Breschnew-Ära gekämpft wird. Ich glaube, der Hass auf Pussy Riot kommt daher,
dass ihnen nicht geglaubt wird, dass sie aufrecht sind, dass sie es ehrlich meinen.Sie werden nicht, soweit ich das mitbekomme, gehasst, weil sie Frauensind, sondern weil sie für die Amerikaner arbeiten. Der Vorwurf der Mehrheit an die Opposition lautet, dass sie bedeutungslos ist, dass doch ohnehin
alle käuflich sind. Sie machen es für Marat Gelman oder George Soros oder
wen auch immer. Wenn du erst einmal selbst dein Rückgrat verloren hast,
dann liegt es nahe zu sagen, dass alle käuflich sind. Ich glaube, das ist das
große Drama in Russland, und das ist der Grund für den Hass. In einer an-
deren Kultur wären Pussy Riot keine Bedrohung. In Russland sind sie es,
weil sie sich außerhalb des zynischen Paradigmas bewegen.
Oliver Carroll:
Ich frage mich aber, ob Zynismus noch in Mode ist. Um 2007,
2008 begann der große Boom von Facebook und Social Media in Russland –
und man muss betonen, wie außerordentlich wichtig das Internet in Russ-
land geworden ist. Damals begannen viele junge Russen damit, ihr Identitä-
ten mithilfe des »Gefällt mir«-Buttons zu projizieren. Man positionierte sich
als Bürger, indem man Essays von Kirill Rogov oder Andrej Loschak likte.
Die Leute wollen sich mit dieser neuen Ernsthaftigkeit identifizieren.
Peter Pomerantsev:
In einem bestimmten Sinn wird diese Mode von den kulturellen Eliten diktiert. Da ist der Zynismus gerade tatsächlich nicht in Mode. Aber ist er noch immer die russische Krankheit? Ja.
Artemy Troitsky:
Auch unter denen, die versucht haben, sich von der Verschwörung der Zyniker zu befreien, sind manche wieder zu Zynikern geworden. Wiedergeborene Zyniker. Vor einem Jahr noch Idealisten, jetzt entweder sehr wütend oder sehr verzweifelt. Die Wütenden versuchen etwas zu unternehmen und die Verzweifelten, die die Mehrheit ausmachen, wollen nur emigrieren und vergessen, was hier vor sich geht. Wenn dank eines magischen Tricks alle Russen unbehindert das Land verlassen könnten, dann würden sich, schätze ich, rund fünf Millionen der jüngsten und schlausten und professionellsten und anständigsten Russen davonmachen, ohne mit der Wimper zu zucken.
Oliver Carroll:
Artemy, Sie haben erwähnt, dass die Opposition sich jetzt auf
die Interessen der normalen Russen, der Mehrheit, der Bolschinstwo konzen-
triert. Das ist in Wahrheit jetzt aber doch der vorherrschende Diskurs der
Eliten, der Putin-Leute. Es ist das Wort, das man von den herrschenden Eli-
ten jetzt immer öfter hört. Sie arbeiten für die Vielen, die Bolschinstwo,
nicht die Wenigen. Hat die Opposition denn eine Chance, mit dieser Agenda
zu gewinnen? Wie sollen sie es anstellen?
Artemy Troitsky:
Die Agenda der Bolschinstwo? Ich glaube, dass Alexei
Nawalny der einzige Oppositionsführer ist, der geradezu verzweifelt genau
dafür kämpft. Er hat ein paar Tricks erfunden, um das in die Realität umzu-
setzen. Einer ist die »dobraya mashina pravdy«, die »gutherzige Wahrheits-
maschine«, im Prinzip eine Aufklärungseinheit, die der sogenannten Mehr-
heit die Wahrheit über die Vorgänge im Land berichtet. Und dann gibt es
die ganzen Internetprojekte von Nawalny.
Ich finde das alles richtig, aber ob es realistisch ist, weiß ich nicht. Die
Leute in Russland wissen in Wirklichkeit doch, was im Land vorgeht. Sie
müssen nicht aufgeklärt, nicht informiert werden. Sie wissen, was mit der
Regierungspartei los ist. Sie wissen, dass das nur ein Haufen von karriere-
geilen Blutsaugern ist. Sie kennen die russische Polizei, sie wissen alles, und
sie hassen das Leben, das sie leben. Sogar die Putin-Wähler. Peter hat völlig
recht, wenn er die erdrückende Bürde des Zynismus und der Apathie er-
wähnt, diese Alles-scheiße-Haltung, die die Mehrheit der Russen prägt. Es
ist darum nicht die Aufgabe der Opposition, den Leuten zu erklären, dass die
Partei und Putin keine Leuchten der Aufklärung sind. Das wissen die Leute
bereits. Es muss um etwas anderes gehen. Aber ich weiß nicht, was dieses an-
dere ist.
Peter Pomerantsev:
Ich sehe das nicht aus einer kulturellen Perspektive, sondern aus der des Politologen: Es gibt da ein systemisches Problem, und zwar gerade weil viele Russen in ihrem Privatleben sehr, sehr anständig sind.
Der typische Russe liebt seine Kinder, liebt seine Frau, aber sobald er mit dem
Staat interagiert, gelten keine Regeln mehr, und man bewegt sich auf einem
Feld der Amoralität. Das geht vermutlich auf die Tatarenzeit zurück. Seit-
dem gilt der Staat in Russland als Kolonisator, als etwas inhärent Aggressives.
Aber so wird jede Art von öffentlichem Diskurs, ja schon die Entstehung
eines öffentlichen Diskurses unmöglich. Das Wort »svoloch« (»Bastard«) ist
noch ein starkes Wort, die Leute wollen in ihrem Privatleben kein Bastard
sein, aber kaum betreten sie den Kreml, werden sie zu Arschlöchern. Wenn
sich etwas ändern soll, muss sich diese Vorstellung vom Staat als Aggressor
als allererstes verändern.
Ich kenne eine Menge Chinovniki (Bürokraten) der mittleren Ebene, und
sie sind alle sehr anständig. Und trotzdem unterzeichnen sie wahre Horrorgesetze. Sie haben einfach verschiedene Gesichter. Wenn Russen ins Ausland gehen, blühen sie auf. Sie sind die reichsten Einwanderer in New York, sie
leben in London, sie gehen nach Deutschland, sie werden zu anderen Menschen, sobald sie unter anderen Regeln leben. Aber kann das heißen, dass
man Russland zerbrechen sollte ? Kann es sich nur so ändern?
Oliver Carroll:
Mir scheint, dass sich derzeit schon etwas ändert in der russischen Mentalität. Wenn man auf den Unterschied zwischen etwa 2007 und
2013 blickt, kann man sehen, dass eine gewisse Bürde vom Volk genommen
ist … Ich glaube, dass die Kultur dabei eine wichtige Rolle gespielt hat, in-
dem sie neue Formen des Verhaltens gegenüber der Macht entwickelt hat,
auch solche, die die Macht lächerlich machen.
Artemy Troitsky:
Ich glaube, es ist ein Prozess des Vor und Zurück. Das Groß-
artige an den Protesten im letzten Winter war wirklich, dass die Leute die
Autorität auszulachen begannen. Sie hatten keine Angst. Aber soweit ich das
sehe, ist die Angst jetzt wieder da, mindestens so stark wie zuvor. Die Leute
haben wirklich Schiss. Mit all diesen neuen Gesetzen, diesen Verhaftungen
und dem Pussy-Riot-Prozess – inzwischen fühlt sich jeder bedroht. Freunde
von mir trauen sich nicht mehr auf Demonstrationen. Sie schützen alle mög-
lichen Gründe vor – etwa, dass es ja doch nichts bringt –, aber in Wahrheit
haben sie einfach Angst.
Oliver Carroll:
Bei Ihrem Vortrag in Westminster letztes Jahr haben Sie behauptet, das System stehe kurz vor dem Zusammenbruch. Die Basisdaten haben sich nicht verändert: eine extrem gut ausgebildete Nation – übrigens ja auch in der Administration und an anderen Stellen der Regierung –, eine Nation, die ins Ausland reist und dort arbeitet, eine Nation mit großem Stolz … Wie können die Russen in diesem Theater der Absurdität leben? Kann das wirklich so weitergehen?
Peter Pomerantsev:
Wie kommen Sie auf »Stolz«? Das große Drama oder die
große Geschichte Russlands ist, dass es sich um eine gebrochene, eine kolo-
nisierte Nation handelt. Das große Gemälde vom Volk, das die Dinge weiterschleppt, ist kein Gemälde des Stolzes, sondern einer Sklavenkultur. Nur
ein kleiner Bruchteil ist stolz, und die sind den anderen verhasst. Pussy Riot
sind stolz, und das hassen sie, das macht sie krank. Das Paradox ist also, dass
sie sehr gebildet sind, alles sehen, alles kennen – und trotzdem so weiterma-
chen. Es ist eine der großen Illusionen, dass Russen stolz sind.
Artemy Troitsky:
Da hat Peter recht. Was die schlauen Leute in der Regierung
angeht, da verändert sich gerade etwas. Die schlauen Leute, wie Wladislaw
Jurjewitsch Surkow oder Gleb Pawlowski und so weiter, so monströs zynisch
sie waren, sind jetzt alle beseitigt. Und an ihre Stelle sind wirkliche Idioten,
Fanatiker und Freaks getreten.
Ich glaube trotzdem, dass der Wandel kommen wird. Ich fürchte nur, dass
er von der anderen Seite kommen wird, als eine Art Staatsstreich. Putin hat
nur die Unterstützung einer sehr kleinen Gruppe seiner allerbesten Freunde.
Man sieht oder ahnt die Kämpfe hinter den Kulissen. Jelzins »Familie«, die
Leute, die Putin an die Macht gebracht haben, sind unglücklich. Nicht weil
sie die Freiheit lieben. Sie sind sehr unglücklich, weil sie gerade eine Menge
Geld verlieren. Sie hassen das Image Russlands als christlich-orthodoxer Ta-
libanstaat. Sie hassen die Tatsache, dass Russland für Investoren nicht mehr
attraktiv ist, dass es international als Krebsbaracke gilt. Sogar Ölkonzerne
denken inzwischen zweimal nach, bevor sie Geld in die russische Wirtschaft
stecken.
Peter Pomerantsev:
Ich sehe ein weiteres Risiko. Wenn man die zentrale Auseinandersetzung in Russland als eine zwischen Zynismus und Anständigkeit betrachtet, dann drohen auch aus dieser Richtung viele Gefahren. Denn auf der einen Seite gibt es Pussy Riot oder Liberale, die in einem anderen Land leben wollen, und auf der anderen Seite ist da immer die Angst, dass wirkliche Nationalisten oder Faschisten von unten auftauchen werden. Putin wird nie eine Ideologie haben, weil er aus einer Generation stammt, die nicht einmal so tun kann, als hätte sie eine. Dieser Generation fehlt das Glaubensgen. Aber eine roizmanartige Figur von unten, das scheint mir denkbar …
Oliver Carroll:
Ich frage mich, wie viel von diesem Nationalismus nur politi-
sches Theater ist. Wie viel davon ist real? Es gibt eine Denkschule, die auch
Teil des politischen Spiels ist: Ihr glaubt, wir seien schlimm? Ihr kennt die
anderen noch nicht …
Artemy Troitsky:
Schwer zu sagen. Ich bin der Überzeugung, dass der orthodoxe Fundamentalismus kein großes Thema ist. Was aber den Nationalismus angeht – da lauert eine Gefahr.
Peter Pomerantsev:
Ich denke, dieser Nationalismus wird sehr russisch ausfallen, kein Hitler-Nationalismus, viel bizarrer, viel eklektischer, mit Stücken
orthodoxen Glaubens und wahrscheinlich auch ein wenig Schamanismus.
Wahrscheinlich wird er von Sibirien seinen Ausgang nehmen und urplötzlich einfach da sein. Er wird bestimmte Ingredienzien haben. Es gibt da noch
ein Wort, das man viel hört in letzter Zeit, neben »boschinstvo«, nämlich
»chistota«, Reinheit. Wenn für den Kreml in den letzten zehn Jahren »Sta-
bilität« das Schlüsselwort war, dann ist es neuerdings »chistota«. Da kommt
eine Menge Zeug zusammen, Korruption zum Beispiel – wir müssen alles
rein und sauber machen –, aber natürlich hat es auch eine ethnische Konno-
tation.
Artemy Troitsky:
Reinheit heißt auch: keine Homosexuellen …
Peter Pomerantsev:
Es kann alles heißen. Es gibt den Wunsch nach Reinheit …
Artemy Troitsky:
… Law and Order, Moral und zurück zu den Wurzeln. Und
natürlich ist es eine sehr ambivalente Sache. Ich würde Teile dieser Agenda
unterstützen. Aber der andere Teil macht mir eine Scheißangst.
Peter Pomerantsev:
Oliver und ich haben uns mit einer jungen Frau unterhalten, die durch die Naschi-Schule gegangen war. Sie war sehr interessant, weil sie jemand ist, die an etwas glauben möchte. Sie bewundert Eduard Limonow sehr, weil er an etwas glaubt. Ihr Problem mit Pussy Riot, sagt sie, besteht darin, dass sie nicht wirklich an etwas glauben. Die Korruption ekelt sie an, und sie glaubt, dass die Naschi-Leute damit aufräumen werden.
Sie gehen in die Administration und misten da aus. Sie ist auf eine sehr verdrehte Weise für Demokratie, sie verwendet eine Sprache, die der der Opposition in mancher Hinsicht ähnelt. Aber man hat zugleich das Gefühl, dass
sie 1937 nicht zweimal nachgedacht und dich kurzerhand erschossen hätte.
Sie wollen Reinheit, sie wollen saubermachen, aber sie wollen auch die gan-
zen Feinde loswerden. Und das ist der beängstigende Aspekt.
Artemy Troitsky:
Ich würde den Vergleich zwischen 1937 und heute nicht zu
stark machen, denn der große Unterschied ist, dass Russland heute kein iso-
liertes Land mehr ist. Für Putin wäre das ein feuchter Traum, wenn er alle
um sich herum hinrichten könnte, aber das ist nicht so einfach, weil die Mil-
liarden von Dollars auf seinen Offshore-Konten dann weg wären.
Peter Pomerantsev:
Und obwohl wir so viel über den schrecklichen russischen
Zynismus gesprochen haben – vielleicht ist es gerade dieser Zynismus, der
Russland retten wird, weil es nämlich eine faschistische Bewegung auch nie
wirklich ernst nehmen würde. Wieder so eine zweischneidige Sache.
Oliver Carroll:
Bisher haben wir vor allem über Moskau gesprochen, vielleicht
noch Sankt Petersburg. Artemy, Sie sind viel im Land unterwegs. Sieht das in
den Provinzen anders aus? Russland ist, wie jeder weiß, ein sehr uneinheit-
liches Land, mehrere Länder vielleicht sogar. Gibt es interessante Dinge in
den Provinzen, Sachen, die wir in den großen Städten nicht sehen?
Artemy Troitsky:
Was die Menschen angeht, sehe ich keine großen Unterschiede. Die sind in der Provinz nicht dümmer oder auch nur schlechter informiert als die Bewohner von Moskau. Das Internet ist da ein großer Gleichmacher. Der große Unterschied ist aber, dass es in den Regionen keine Plattformen gibt für kreative Menschen. Da gibt es nur das Internet. Darum geht jeder, der irgendwie talentiert ist, von der Wolga, aus Sibirien, von überall, nach Moskau, manchmal auch nach Sankt Petersburg. Das ist sehr traurig, aber es ist einfach sehr langweilig in diesen großen Städten im Osten.
Peter Pomerantsev:
Russland ist wirklich mehrere Länder auf einmal, das macht alles sehr unübersichtlich. Ich bin neulich mit der Transsib gefahren.
Jekaterinburg boomt und ist reich, unabhängiger als Moskau. Da gibt es
exzellentes Theater, exzellente Dramatiker, alles. Es fühlt sich freier an als
Moskau, viel liberaler. Auch in Sibirien gibt es Städte, die fortschrittlicher
sind als Moskau. Wladiwostok ist bereits globalisiert. Sie sprechen über Ja-
pan, treiben Handel mit Australien, Moskau stört da nur. Sie sind im Prinzip
bereits frei. Manchmal kommt die Zentralgewalt vorbei, man verbeugt sich
für zehn Minuten und denkt »Haut ab!« Es gibt ein schlimmes Klischee der
Journalisten, dass Moskau nicht Russland ist. Das Gegenteil ist wahr. Mos-
kau ist die Essenz von Russland, aber es existieren gar keine Moskowiter. Es
sind die Besten von überallher. Es ist nicht wie New York in Amerika, sondern wie Los Angeles. Das ist das Verhältnis.
Oliver Carroll:
Das sehe ich anders, oder jedenfalls glaube ich nicht, dass es
nur ein Klischee ist. Wenn wir über Freiheiten reden, und insbesondere die
Pressefreiheit, dann ist der Unterschied sehr deutlich. Es gibt Unterschiede
zwischen den Regionen, aber im Moment ist die Moskauer Presse viel freier
und arbeitet auf viel höherem Niveau als anderswo. Man muss schon ziem-
lich faul sein, um in Moskau nicht an unabhängige Nachrichten zu kommen.
Sicher, es gibt Universitätsstädte wie Tomsk mit einer guten Presse. Aber das
von Dir erwähnte Jekaterinburg? Da gab es schon eine gewisse Pluralität der
Medien, einige unabhängige Agenturen, die bis vor kurzem als frei galten.
Und was Du über das Theater sagst, kann ich nicht bestreiten. Aber aktuell
gibt es eine große Aufregung um Aksana Panowa und die URA.ru-Nachrichtenagentur, die als unabhängig und oppositionell gilt und gerade massiven Ärger mit der Verwaltung vor Ort hat.
Peter Pomerantsev:
Okay, es gibt Unterschiede. Was ich sagen will, ist, dass
Moskowiter sich vom Rest des Landes unterscheiden. In Moskau sammeln
sich die ehrgeizigsten und talentiertesten Menschen aus dem ganzen Land.
Die Leute, die ich bei den Protesten gesehen habe, waren keine Moskowiter.
Moskowiter sind die faulsten Russen, weil sie in einem Mikroklima leben, in
dem sie sich frei fühlen, in Cafés gehen und so weiter. Die Leute auf den Stra-
ßen stammten dagegen aus den Provinzen und waren nach Moskau gekom-
men, sahen sich mit der Korruption konfrontiert, kamen nicht voran und
hatten das Gefühl, in einer Sackgasse gelandet zu sein. Es sieht so aus, als
würde Moskau protestieren, während der Rest gefügig ist. Dabei sind in
Moskau eben die meisten Aktiven. In dem Sinn spiegelt alles, was in Moskau
passiert, das, was im Rest des Landes geschieht.
Artemy Troitsky:
Das ist aber nicht alles. Zum einen sind die Provinzen sehr
abhängig von der lokalen Regierung. Ich erinnere mich an Samara Mitte der
Neunziger – das war eine richtige Boomstadt: kulturell hochaktiv, sehr un-
abhängig, sehr reich. Ich war vor drei und vier Jahren wieder dort und habe
die Stadt schlicht nicht wiedererkannt. Baufällige Gebäude, traurige Men-
schen und so fort. Ich fragte meine Freunde, ob mit meiner Erinnerung etwas
nicht stimmt. Und sie meinten, »nein, es war völlig anders, weil wir einen
großartigen Gouverneur hatten und einen großartigen Bürgermeister, da
war alles ganz fabelhaft. Jetzt haben wir die üblichen Vollidioten vom Eini-
gen Russland, und alles geht den Bach runter.« Was die Medien angeht, sind
die Provinzen aber in der Tat weit, weit hinter Moskau zurück. Sogar Sankt
Petersburg …
Peter Pomerantsev:
Nur das Internet ist, wie Du sagst, überall. Eine der großen
Paradoxien Russlands liegt darin, dass der wahre öffentliche Raum der vir-
tuelle ist. Die Öffentlichkeit ist ein komplettes Fake, voller Simulakren,
während die virtuelle Welt, das Internet ehrlich und frei und real ist. Um die
Wirklichkeit zu finden, geht man in Russland am besten nicht in die wirk-
liche Welt, wo alles falsch ist, sondern in die virtuelle Welt. Da ist die Rea-
lität.
Oliver Carroll:
Wird die Welt der Kultur nicht zusehends zu einem Ort, an dem man ehrlich, frei und wirklich sein kann?
Peter Pomerantsev:
Nun, wir erleben sicher eine Verschiebung in der Kultur, einen neuen Blick auf die Welt. Und ja, das ist eher 1968 als 1917. Die nächsten Jahre werden die Jahre der Filmemacher, der Schriftsteller sein. Da kommt jetzt schon einiges nach oben. Bei Teatr.doc gibt es eine Generation junger Dramatiker, nicht immer wahnsinnig gut, aber doch mit einer komplett neuen, postsowjetischen Stimme. Diese Kids treiben keine postmodernen Spielchen, und es ist faszinierend zu sehen, wie einer nach dem anderen – aus Toljatti oder irgendeinem anderen gottverlassenen Kaff – diese dunklen, dunklen, dunklen und grungigen Stücke über die Entsetzlichkeit des Provinzlebens und das Aufwachsen als Teenager in Putins Russland schreibt.
Bislang haben sie ihre dramatischen Talente noch nicht in ein neues russisches Kino umgesetzt. Darauf warte ich noch.
Artemy Troitsky:
Ich sehe das, was in der russischen Kultur gerade passiert,
sehr positiv. Ich erwarte auch geradezu eine Explosion beim unabhängigen
Film. Ich weiß wirklich nicht, warum da noch nichts passiert ist – schließ-
lich ist es heute so einfach. Man kann mit winzigen Kameras tolle Filme dre-
hen, und die Kinozuschauer müssen einen nicht interessieren. Man kann es
einfach ins Internet stellen und dabei über Nacht berühmt werden. Und
wenn wir nach internationaler Solidarität suchen, dann wird sie am ehesten
über die kulturellen Kanäle kommen. Pussy Riot sind dafür ein perfektes
Beispiel.
Peter Pomerantsev:
Weißt Du, warum Pussy Riot wichtig waren? In England fragen mich die Leute: »Was ist mit der russischen Literatur passiert?« Bis in die 1930er Jahre war sie brillant und dann plötzlich: peng, nichts mehr! In Wahrheit war sie natürlich trotz der Unterdrückung brillant, sie wurde nur immer selbstreferentieller. Sorokin ergibt für einen englischen Leser einfach keinen Sinn – er begreift gar nicht, was das alles soll. Russland ist eine Blase geworden, mit einer eigenen selbstreferentiellen Sprache, die im Rest der Welt nichts bedeutet. Was eine Tragödie ist, weil die Welt dabei auch viel verliert. Im 19. Jahrhundert lief die Verbindung Russlands mit Europa über die Literatur.
Pussy Riot waren faszinierend, weil sie eine Sprache verwendeten, die der
Westen verstand. Sie sind mit einer Spielart des Situationismus aufgewachsen und mit Riot Grrrl, beides sehr westliche Schulen. Dieses plötzliche
Zusammentreffen von russischem und internationalem Diskurs war ein sehr
interessanter Moment. Mit Pussy Riot verstanden wir plötzlich etwas, das
aus Russland kam. Wir haben das kapiert, das war unsere Sprache. Limonow
verstehen wir nicht. Verdammt noch mal, kein westlicher Mensch kann
Limonow verstehen. Es gibt brillante Schriftsteller in Russland, brillante
Dramatiker. Es wird sehr interessant zu beobachten sein, ob die Vertreter der
russischen Kultur auch weiterhin eine Sprache finden, die im Westen An-
klang findet. Das wäre sehr wichtig.
Aus dem Englischen von Ekkehard Knörer
MERKUR Heft 8 – August 2013 (711)