MESOPOTAMIA NEWS : VON DER LEYHEN / CHARLES MICHEL & MERKEL PRO ERDOGAN

Die EU streckt Erdogan die Hand hin und drückt bei den Menschenrechten beide Augen zu

Bei ihrem Besuch in Ankara gaben sich Charles Michel und Ursula von der Leyen optimistisch, dass die bisherigen Konflikte mit der Türkei überwunden werden könnten. Doch die jüngsten Entwicklungen geben wenig Grund zur Hoffnung.  Ulrich von Schwerin06.04.2021, 18.36 Uhr NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Der türkische Präsident Erdogan empfängt seine Gäste Charles Michel und Ursula von der Leyen vor dem Präsidentenpalast in Ankara.An Gesprächsthemen hat es der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem Ratspräsidenten Charles Michel nicht gemangelt, als sie am Dienstag den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in seinem Palast trafen. Nur gut zwei Wochen zuvor hatte Erdogan die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen aufgekündigt, weil sie angeblich die traditionellen Familienwerte gefährde. Zudem hatte die Justiz ein Verbotsverfahren gegen die prokurdische Oppositionspartei HDP wegen Gefährdung der staatlichen Einheit eingeleitet.

Doch die EU-Spitze hatte schon vor ihrem Besuch signalisiert, dass Demokratie und Menschenrechte im Verhältnis zu Ankara nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Obwohl die Türkei auf dem Papier weiter Beitrittskandidat ist, scheint die EU den Willen verloren zu haben, die Einhaltung der demokratischen Werte einzufordern. Wenn Erdogan mal wieder die Freiheitsrechte einschränkt, kommt aus Brüssel kaum noch Kritik. Es dominiert die Realpolitik.

Im Fokus des Besuchs standen denn auch nicht die Verfolgung der prokurdischen Opposition, die desolate Situation der Meinungsfreiheit oder die Aushöhlung der Gewaltenteilung in der Türkei, sondern die Kooperation bei Migrationsfragen sowie der Erdgasstreit mit den EU-Mitgliedsländern Griechenland und Zypern. Im Gegenzug für das künftige Wohlverhalten der Türkei boten Michel und von der Leyen Gespräche über die Ausweitung der EU-Zollunion und die Gewährung von Visafreiheit für türkische Bürger.

Hoffen auf eine neue Dynamik

Nach dem Treffen mit Erdogan betonte Michel, es liege «eine positive Agenda auf dem Tisch». Die EU hoffe, dass die Türkei die gebotene Gelegenheit nutzen werde. Der EU-Ratspräsident erinnerte daran, dass der Staatenbund bei weitem der grösste Handelspartner der Türkei sei. Es gebe den gegenseitigen Willen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit auszubauen und bei Migration und Fragen der Mobilität enger zu kooperieren. Insbesondere begrüsste Michel die Wiederaufnahme der Gespräche mit Griechenland zur Regelung des Erdgasstreits.

Nachdem es im vergangenen Sommer zwischen der Türkei und Griechenland im Streit um die Ausbeutung der Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer fast zur militärischen Konfrontation gekommen war, schlug Erdogan jüngst versöhnlichere Töne an. So sprach er wiederholt davon, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Auch stellte er Reformen bei Justiz und Menschenrechten in Aussicht – was freilich rasch durch seine Taten infrage gestellt wurde.

Dennoch sprach auch von der Leyen an der Medienkonferenz von einem neuen Momentum in den Beziehungen. Sie bekräftigte das Angebot der EU, den im März 2016 geschlossenen Flüchtlingspakt zu verlängern, obwohl Erdogan das Abkommen vor einem Jahr eigentlich für gescheitert erklärt und die Grenze zu Griechenland geöffnet hatte. Auch bot die EU-Kommissionspräsidentin zusätzliche Hilfe bei der Versorgung der 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei an.

Die EU setzt auf das Prinzip Hoffnung

Angesprochen auf die jüngsten Entwicklungen in der Türkei betonte von der Leyen, die Menschenrechte seien für die EU nicht verhandelbar und hätten höchste Priorität. Es habe bei dem Treffen mit Erdogan auch eine intensive Diskussion über den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention gegeben, die das falsche Signal zu diesem Zeitpunkt sei, versicherte von der Leyen. Die Fälle der beiden wohl prominentesten Häftlinge der Türkei, Selahattin Demirtas und Osman Kavala, hätten sie ebenfalls gegenüber Erdogan angesprochen.

Michel äusserte die Hoffnung, dass die Türkei die ausgestreckte Hand ergreifen werde. Die EU werde in einigen Monaten überprüfen, ob es Fortschritte gegeben habe. Was er nicht sagte, ist, dass auch die Drohung mit Sanktionen auf dem Tisch bleibt. Bei ihrem letzten Gipfel im März hatten die EU-Staaten bekräftigt, dass es Folgen haben werde, sollte Erdogan den Erdgasstreit erneut anheizen. Ob dieser Ansatz von «Zuckerbrot und Peitsche» funktioniert, bleibt abzuwarten.

Woher die EU-Spitze ihre Hoffnung nimmt, dass Erdogan nach Jahren der systematischen Demolierung von Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit plötzlich wieder auf den Pfad der EU-Reformen einschwenkt, ist unklar. Auch bleibt es zweifelhaft, ob der türkische Präsident in Zukunft auf Provokationen gegenüber Griechenland, Zypern und der EU verzichten wird, sollte er sich davon innenpolitische Vorteile versprechen. Bei den Europäern dominiert das Prinzip Hoffnung.