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Debatte ums Gendersternchen : Wer braucht schon das Corona*zeichen?

  • Von Wilhelm Schmid FAZ -Aktualisiert am 04.08.2020-18:11

Ein Strahlenkranz, der an die Stacheligkeit des Virus erinnert: Das Gendersternchen vertieft die Probleme, die es lösen soll. Wir sollten uns um Integrität statt um Identität kümmern. Ein Gastbeitrag.

Es kann nichts dafür, aber nun ist es in der Welt und will nicht mehr weichen. Es erinnert an Corona und daran, dass wir alle potentielle Überträger*innen der Krankheit sind. Was mal nur ein Sternchen war, weckt jedes Mal, wenn es auftaucht, ungute Assoziationen. Und der Strahlenkranz, der an die Stacheligkeit des Virus erinnert, taucht oft auf. Immer häufiger wird er stillschweigend eingesetzt. Auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender plazieren ihn schon mal beiläufig auf dem Bildschirm.

Nicht, dass es entsprechende Regelungen gäbe, aber die Redaktionen lassen es durchgehen. Einige sind sicherlich einverstanden. Andere fürchten die Reaktionen der Autor*innen, die mit Abbruch der Zusammenarbeit und, schlimmer noch, mit moralischer Abwertung drohen, wenn ihr Sternchen nicht im Schriftbild stehenbleiben darf: Ein klarer Fall von Diskriminierung! Kann man so reaktionär sein? Schon tobt der Shitstorm. So wird ein schleichender Übergang vollzogen, eine Machtübernahme, ohne dass es eine wirkliche Diskussion darüber gegeben hätte. Kein sehr demokratischer Vorgang.

Ein klarer Fall von Bevormundung

Das Zeichen. Es ist keine Zierde. Schon vor Corona war es kein harmloses Zeichen mehr. Es lässt das Auge stolpern und stört den Lesefluss. Es ist aufdringlich, was einige begrüßen mögen, die meisten aber einfach nur nervt. Kaum ein*e Autor*in will darauf verzichten, jede*r verzichtet aber gerne darauf, die Leser*innen erst einmal zu fragen. Jede*r setzt es ungefragt in seine*ihre Texte. Lehrer*innen halten die Schüler*innen dazu an. Student*innen sind sowieso die Schrittmacher*innen. Soll das Schriftbild nun für den Rest des Jahrhunderts, mindestens, damit übersät sein? Könnten wir zum Ausgleich dann bitte die mittelalterliche Ausschmückung von Texten wieder einführen, damit dieses Corona*zeichen nicht so dominant darin herumsteht? Das ästhetische Argument ist vernachlässigenswert? Aber die Ästhetik ist für viele ein Ärgernis, das dem Anliegen nicht dient, ganz im Gegenteil.

Das Anliegen. Es steht mehrheitlich wohl kaum in Frage, auch wenn viele glauben, es gehe nur darum, dass das weibliche neben dem männlichen Geschlecht Anerkennung findet. Die Akzeptanz unterschiedlicher geschlechtlicher Orientierungen, auch solcher, die über Homosexualität hinausgehen und neutral als „divers“ bezeichnet werden können, ist jedenfalls in dieser freiesten Gesellschaft, die je unter deutschem Namen firmierte, wenig umstritten. Soll auch noch die kleinste Minderheit davon überzeugt werden, die keifend am Straßenrand steht, wenn Regenbogenfahnen vorüberziehen? Und wenn ja, mit welchen Mitteln?

Ja, „heteronormative Strukturen“ sind weiterhin zu hinterfragen, der German Dream bleibt ein work in progress, aber rechtfertigt das die selbstherrliche, autonormative Einsetzung eines Stolpersternchens in Texten? Ein klarer Fall von Bevormundung. Gerade diejenigen, die zu Recht Übergriffigkeiten beklagen, praktizieren sie auf diese Weise selbst. Niemand wird um Erlaubnis gebeten, die Lesenden sollen vielmehr schlucken und schweigen. Wie das Anliegen stattdessen zum Ausdruck kommen soll? Es geht auch ohne Corona*zeichen, durch einfaches Ausschreiben von sie, er und divers, nicht permanent, aber gelegentlich. Weiterhin können KollegInnen adressiert werden. Wo immer möglich, bietet sich die Pluralisierung an, Schreibende etwa anstelle von Autorinnen und Autoren, Pflegende für Pfleger und Pflegerinnen, mit dem Vorteil: Divers ist darin immer schon enthalten.

Ein Sternchen, dass Unterschiede macht

Ein umfangreicheres Problem des Gendersternchens besteht darin, dass damit keineswegs nur ein drittes und viertes Geschlecht, sondern darüber hinaus auch noch ein dreißigstes und vierzigstes gemeint sein soll. Asexuell, bisexuell, pansexuell, transsexuell, intersexuell und so weiter, tendenziell jede, jeder und divers mit individuellem Geschlecht. Das ist vielen zu viel. Dem berechtigten Anliegen einer Anerkennung sämtlicher Diversitäten erweist das ausufernde Sternchen einen Bärendienst. Es ist zu einem quasi-religiösen Symbol geworden, das für eine Überzeugung steht, nämlich dass so altbackene Phänomene wie Mann und Frau überholt sein sollen. Als wäre diese duale Geschlechtlichkeit so eindeutig, dass die auf sie gerichteten hermeneutischen Anstrengungen gänzlich eingestellt werden könnten.

Natürlich können Männer auch „Personen mit Prostata“ und Frauen „Menschen mit Menstruationshintergrund“ genannt werden. Mit welchem Gewinn? Da denken wohl viele und wagen es nicht laut zu sagen: Macht doch, was ihr wollt, aber lasst uns in Ruhe mit dieser penetranten Missionierung! Anders, als es die häufige Verwendung des Virussymbols suggeriert, hält ein großer Teil der Gesellschaft nichts von einem so interpretierten Anliegen. Das unselige Sternchen erscheint eher als eine Art von Diskursdiktat, das das Zeug hat, die Gesellschaft zu zerbrechen. Aber die Texte schreibenden liberalen Eliten interessieren sich wenig dafür, was die Lesenden über ein Sternchen und seine normativen Gehalte denken.

Was besser wäre? Anstelle aggressiver Zeichensetzung das alltägliche Gesellschaftsspiel zu erweitern. Es wird aufgrund schierer Zahl weiterhin heterolastig bleiben, aber mit den neuen Varianten, die aus der Deckung hervorkommen, bunter werden, als ein biederes Sternchen das zum Ausdruck bringen kann, nebst der zugehörigen heterohomodiversen Hermeneutik. Und darüber nachzudenken, ob es eine gute Idee ist, ständig an die Unterschiede zu erinnern, die doch eigentlich verschwinden sollen. Undoing Gender? Mit dem unschuldig erscheinenden Sternchen wird Gender erst gemacht, um genau das dann zu beklagen. Oder soll seine permanente Plazierung die Empörung über Genderungerechtigkeiten auf Dauer stellen? Die könnte mehr Nahrung erhalten, wenn die Unterschiede, die es nicht mehr geben soll, mit Pomp and Circumstance zurückkehren.

Freie Bahn für Identitätshysterie

Das größere Problem des Sternchens aber ist das Ich. Die Krönung des Ichs, auch dafür steht das Corona*zeichen. Letzten Endes geht es nämlich gar nicht um Geschlechter, sondern um die Ichs, die sich in ihrer Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit anerkannt sehen wollen. Sie wollen unbedingt noch einmal auftrumpfen zu einer Zeit, in der eher der Abschied von der fatalen Ich-Hysterie angesagt wäre. Jede, jeder und vielfach divers glaubt, einer missachteten gesellschaftlichen Randgruppe anzugehören. Fast jedes Ich fühlt sich mittlerweile irgendwie diskriminiert, zumindest „nicht gesehen“. Ein Sternchen soll das Unsichtbare sichtbar machen. Endlich ein paar Zacken für die Ewigkeit auf dem Sunset Boulevard der Eitelkeiten.

Die Fixierung auf das Ich hat multiple Verletzlichkeiten hervorgebracht: Jedes Ich nur noch ein rohes Ei, das nicht angetastet, geschweige denn angekratzt werden darf. Das war bereits fragwürdig, als das Gendersternchen noch nicht am Himmel der Überzeugungen aufleuchtete. Nun aber steht das Zeichen für die Empfindlichkeiten, die auf Kosten der Empfindsamkeit gehen. Das trägt leider zur Desensibilisierung für die wirklich Gekränkten bei. Wenn sich ständig jemand betroffen fühlt, wen kümmert das dann noch? Die Abstumpfung gegen berechtigte Anliegen greift um sich.

Das Sternchen lässt vor allem der Identitätshysterie freie Bahn, die sich mit dem modernen Ich entwickelt hat. Jedes Ich will irgendwie „identisch“ sein. Kaum jemand fragt, ob Identität ein sinnvolles Konzept ist. Schon vom Wortsinn her (idem, gleich, im Lateinischen) soll sie ein Gleichbleiben garantieren. Aber das ist nur eine Idee, keine Realität. Nichts bleibt gleich, alles ändert sich mit der Zeit. Insbesondere das Ich bleibt nicht immer das gleiche. So wird die Identität auch nicht verstanden? O doch, genau das lässt sich im realen Leben beobachten.

Abgrenzen, ausgrenzen, zurückweisen

Menschen kann die Idee wichtiger sein als die Realität. Sie beheimaten sich in der Idee ihrer Identität und bauen bizarre Schutzmauern, um sie zu bewahren. Wie eine Monstranz tragen sie das immer gleiche Bild ihrer selbst vor sich her und tappen damit in die Identitätsfalle. Denn das Gleichbleiben erfordert, ängstlich jede Veränderung und Entwicklung aus dem Leben auszuschließen. Im Bestreben nach einem gleichbleibenden Zustand zielt Identität immer auf den Ausschluss von Anderssein. Auch jede Begegnung mit Anderen stellt das Gleichbleiben in Frage, daher kann das Beharren auf Identität Einsamkeit zur Folge haben.

Wie starr Identitäten sind, zeigen alle ihre Varianten. Identitätspolitik, welcher Art auch immer, heißt abgrenzen, ausgrenzen, die eigenen Reihen schließen, Andere zurückweisen. Nationale Identitäten und rechtslastige identitäre Bewegungen werden gerne beklagt, um dasselbe in Grün zu betreiben. Das Gemeinsame ist, auf den Ausschluss von Anderen und Anderem angelegt zu sein.

Wie menschenverachtend das auch unter emanzipatorischen Sternchen ausfallen kann, stellte jüngst der vieldiskutierte Artikel in der alternativen Berliner Tageszeitung „taz“ unter Beweis, wonach Polizisten auf den Müll geworfen werden sollten. Identitätsgesättigt bringen auch ausgewiesene AntidiskriminiererInnen wieder nichts als blinde Diskriminierung hervor. Kommt heftige Widerrede auf, handelt es sich dabei aus ihrer Sicht erneut um Diskriminierung. Und prompt erschallt der Ruf nach der Polizei, denn wer sonst könnte sie wirksam schützen, also wieder runter vom Müllhaufen!

Zweck verfehlt – kann weg

Nicht wenige geben noch dazu der Neigung nach, sich selbst zu diskriminieren, sich herabzuwürdigen und zu verachten, mit der Konsequenz, dass der Ich-Zerfall sie handlungsunfähig macht. Anstelle all der Ausschlüsse und Selbstausschlüsse, die Identität verursacht, ginge es besser um Integrität. Dafür bedarf es keines Sternchens, sondern eines Konzepts. Schon vom Wort her ist die Integrität dazu da, sich selbst und Andere, auch Veränderungen besser integrieren zu können. Identität ist exklusiv, Integrität inklusiv. So wäre es möglich, viele Ichs und ihre Orientierungen, im Ich selbst die verschiedensten Teile und Aspekte, darunter die jeweilige Geschlechtlichkeit, welcher Art auch immer, sowie unvermeidliche Widersprüche und Verletzungen in ein Ganzes einzubeziehen.

I Contain Multitudes (Bob Dylan, 2020). Späte Einsicht, aber die Kunst (auf die der Sänger sich offenkundig lange schon verstand) besteht darin, die Vielfalt zu integrieren, sonst wird das Ich paralysiert, ebenso Gruppen und ganze Gesellschaften. Integrität befördert Gemeinsamkeit, zuerst im eigenen Selbst, das sich mit sich selbst befreundet, sodann mit Anderen, die an einem integrativen Selbst mit Ecken und Kanten gut einhaken können, so dass Gemeinschaft entsteht. Eine spannungsreiche Gemeinschaft, da sie nicht alle Gegensätze und Widersprüche auflösen kann und will. Nur auf Ausschlüsse kann sie gut verzichten.

Das Fazit? Ein Zeichen, das Probleme vertieft, statt sie zu lösen, hat seinen Zweck verfehlt. Selbst die Wohlmeinenden weist es mit seinem Anspruch auf Belehrung zurück. Sagen wir es deutlich: Das Gendersternchen ist Mindf*ck für Intellektuelle. Kann weg.

Wilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin. www.lebenskunstphilosophie.de. Zu Bestsellern wurden seine Bücher „Selbstfreundschaft“, 2018, und „Gelassenheit“, 2014 (Insel Verlag).