MESOPOTAMIA NEWS : UMWELTVERBRECHEN – Kanal zum Schwarzen Meer : Erdogans doppelter Bosporus

Der türkische Präsident Erdogan drückt beim Bau eines neuen Kanals zum Schwarzen Meer aufs Tempo. Aber nicht nur Admirale, auch Umweltschützer sind alarmiert. – Von Andreas Mihm, Wien  FAZ –  am 08.04.2021-09:21

Als der türkische Umweltminister Murat Kurum Ende März die Genehmigung für den Bau des neuen Kanals vom Schwarzen Meer zum Marmarameer bekanntgab, war die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gerade von einer anderen künstlichen Wasserstraße okkupiert: Im Suezkanal lag ein Containerschiff der Superklasse quer und blockierte tagelang eines der wichtigsten Nadelöhre des Welthandels. Das türkische Kanalbauprojekt geriet erst so richtig ins Bewusstsein, als pensionierte Botschafter und Admirale Ende vergangener Woche öffentlich vor politischen Folgen warnten. Nun sitzen einige der Admirale in Haft, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan spricht von einem Putschversuch – wohl auch gegen sein Lieblingsprojekt.

Wie so oft in der Türkei sind auch bei diesem Thema macht-, partei- und innenpolitische Themen so sehr miteinander verwoben, dass die Frage, wem der laute Streit politisch hilft, die Frage überlagert, worum es eigentlich geht. Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzung ist der von Erdogan seit 2011 verfolgte Plan, einen Kanal zu bauen. Erdogan ist nicht der erste türkische Politiker, der die Idee hatte, aber er könnte der erste sein, der sie umsetzt. Am Mittwoch kündigte er an, die Ausschreibung stehe an, Baubeginn sei im Sommer. Die Wasserstraße soll westlich vom Bosporus verlaufen und das Schwarze im Norden mit dem Marmarameer im Süden verbinden. 38.500 Hektar groß ist das Gelände, das entspricht ziemlich der Hälfte Hamburgs. 45 Kilometer lang soll sich der Kanal durchs Land winden. Seine Breite von mindestens 250 Metern soll eine ungehinderte Passage ermöglichen und Kollisionen verhindern.

Die volle Souveränität ausüben

Solche sind in der Vergangenheit auch in der Enge des Bosporus immer wieder vorgekommen, zuletzt im Jahre 2018. Gas- und Öltransporte müssten dann auch nicht mehr durch die knapp 16 Millionen Einwohner zählende Metropole Istanbul geschippert werden, wirbt die Regierung. Zudem würden Schiffe nicht mehr auf die Durchfahrt warten müssen und in der Zwischenzeit mit ihren Dieselmotoren Luft und Umwelt verschmutzen. 160 Schiffe sollen den neuen Kanal am Tag passieren können, mehr als heute im Schnitt den Bosporus.

Neue Frachtterminals sollen am Kanal entstehen, von Siedlungen für 500.000 Menschen am Rande des Erschließungsgebietes ist die Rede, mit dem gewaltigen Bodenaushub könnten künstliche Inseln im Meer entstehen. Das Projekt sicherte zudem Tausende Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft und ließe auch neue entstehen.

Auf all das spielte Erdogan am Dienstag an, als er sagte, der Kanal werde die Lage am überlasteten Bosporus entspannen. Die mit der wirtschaftlichen Komponente verbundene politische folgte einen Halbsatz später: Zudem werde die Türkei über den neuen Kanal ihre volle Souveränität ausüben.

Am Bosporus ist die eingeschränkt. Zwar wurde das Gebiet 1936 mit der Konvention von Montreux der Türkei, die den Ersten Weltkrieg an der Seite Deutschlands verloren hatte, wieder überantwortet, doch gewährt die Übereinkunft freie Schifffahrt durch die Meeresenge, Anlieger am Schwarzen Meer (und nur die) dürfen Kriegsschiffe unkontrolliert passieren lassen.

Große Umweltgefahren durch den Kanal befürchtet

Diese Konvention, so ließ unlängst der türkische Parlamentssprecher in Ankara verlauten, könne man aufkündigen. Weil es nicht die erste solche Kündigung wäre und wohl weil sie darin einen Versuchsballon Erdogans witterten, protestierten dagegen die Ex-Diplomaten und Admirale. Erdogan brachte sie in die Nähe von Putschisten, stellte aber klar, dass er an dieser Konvention nicht rütteln wolle.

Damit fragen sich Kritiker, inwieweit die Rechnung noch aufgehen könne, die auf knapp 10 Milliarden Dollar kalkulierten Baukosten des Kanals durch Transitgebühren schnell wieder einzuspielen, bleibe der Transit durch den Bosporus kostenfrei. Es sind nicht die einzigen Fragen an das Bauprojekt. Viele sehen darin keine „Bereicherung“ für Istanbul, wie Umweltminister Kurum twitterte. Eher schon für Erdogans Schwiegersohn, den im November zurückgetretenen Finanzminister Berat Albayrak, der sich laut Berichten an der Kanalstrecke mit arabischen Investoren Baugelände gesichert haben soll.

Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu, dessen Partei CHP Erdogans AKP 2019 bei den Wahlen verdrängte, ist ein strikter Gegner des Projektes, so wie viele Umweltgruppen. Entgegen der Beteuerungen Ankaras sehen sie große Umweltgefahren durch den Kanal, der nicht nur Rastgebiete für Vögel durchquert, sondern auch große Trinkwasserreservoirs Istanbuls beeinträchtigen könnte. So sei bisher der Norden und Nordwesten Istanbuls aus Gründen des Trinkwasserschutzes nicht zur Bebauung freigegeben, fasst die Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul Kritikpunkte zusammen. Gefahren lauerten auch in einer möglichen Versalzung des Trinkwassers, wenn Salzwasser aus dem Kanal ins Grundwasser eindringe. Meereswissenschaftler fürchten zudem irreparable Schäden durch Eingriffe in die sensible Strömung zwischen dem höher gelegenen Schwarzen und dem Marmarameer. Da das Wasser des Schwarzen Meeres stärker verschmutzt sei, liege es nahe, dass als Folge des Wasseraustauschs der Sauerstoffgehalt im Marmarameer mit der Zeit sinke. Geruchsbelästigungen in der Qualität „faule Eier“ könnten eine Folge sein.