MESOPOTAMIA NEWS REPORT SYRIEN : Eliot Higgins – “Es hätte Möglichkeiten gegeben, die Giftgasangriffe zu stoppen”
Das syrische Regime hat jahrelang gezielt Giftgasangriffe ausgeführt, sagt Eliot Higgins, Gründer der Rechercheplattform Bellingcat. Assad dürfe damit nicht davonkommen.
Interview: Andrea Backhaus April 2020, 13:22 Uhr DIE ZEIT
Seit fast neun Jahren ist Krieg in Syrien. Das syrische Regime unter Präsident Baschar al-Assad kämpft mit seinen russischen und iranischen Verbündeten dafür, die Kontrolle über das ganze Land zurückzuerhalten. Um Gebiete zu erobern, die unter Kontrolle der Rebellen stehen, setzt das Regime auch international geächtete Chemiewaffen gegen die Bevölkerung ein. Gerade hat die OPCW einen Bericht veröffentlicht, der die Schuld des Regimes belegt.
Die Mitarbeiter der Internetplattform Bellingcat beschäftigen sich mit der Nachverfolgung dieser Kriegsverbrechen in Syrien. Sie nutzen zum Beispiel Satellitenbilder und frei im Internet erhältliche Fotos und Videos, um die Schauplätze von Luftangriffen exakt zu lokalisieren. Der britische Blogger Eliot Higgins hat Bellingcat gegründet. Wir erreichen Higgins per Skype in seinem Haus in Leicester.
ZEIT ONLINE: Herr Higgins, die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht, der zu dem Schluss kommt, dass bei drei Luftangriffen in syrischen Rebellengebieten im Jahr 2017 Chlorgas und Sarin eingesetzt wurden – und dass das syrische Regime dafür verantwortlich ist. Hat Sie der Befund überrascht?
Eliot Higgins: Das Fazit hat mich nicht überrascht. Der Bericht enthält aber einige interessante Details dieser Angriffe, etwa dazu, welche Bomben genutzt wurden. Wir haben viel zu den Saringas-Angriffen recherchiert, zu dem Angriff am 30. März 2017 und dem in Chan Scheichun wenige Tage später. Wir haben herausgefunden, dass bei beiden Angriffen das gleiche Saringas und die gleiche Bombe benutzt wurden. Der OPCW-Bericht hat das nun bestätigt.
Eliot Higgins
ist ein britischer Journalist und Gründer des Recherchenetzwerks Bellingcat, das sich mithilfe von Open-Source-Informationen auf Faktenprüfung spezialisiert hat. Viel Aufmerksamkeit erzielte Bellingcat mit Recherchen zum Giftanschlag auf den russischen Spion Sergei Skripal sowie zum Absturz der malaysischen Passagiermaschine MH-17 in der Ostukraine. Die Mitarbeiter untersuchen auch den Einsatz von Waffen in Syrien. Für ihre Arbeit wurden sie vielfach ausgezeichnet.
ZEIT ONLINE: Die OPCW hat drei Giftgasangriffe in der Nähe von Al-Lataminah untersucht: zwei mit Sarin am 24. und 30. März 2017 und einen mit Chlorgas am 25. März 2017. Letzterer traf ein Krankenhaus und tötete einen Arzt, 30 Menschen wurden verletzt.
Higgins: Der Bericht belegt eindeutig, dass das Assad-Regime Giftgas eingesetzt hat. Damit widerlegt er klar die vielen Verschwörungstheorien, die von Seiten des Regimes und von Russland gestreut werden und wonach die Giftgasangriffe false flags seien, inszenierte Angriffe, die Assad schädigen sollen.
ZEIT ONLINE: Bellingcat hat vor wenigen Tagen ebenfalls einen Bericht herausgebracht, der zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt. Was haben Sie herausgefunden?
Higgins: Am 25. März 2017 wurden einige Generäle an einem Kommandoposten einige Kilometer von Al-Lataminah entfernt, gefilmt. Sie beobachteten offenbar einen Angriff – am gleichen Tag, an dem Chlorgas auf das Krankenhaus abgeworfen wurde. Wir haben das Video gefunden und unter anderem die Winkel der Schatten analysiert, um herauszufinden, wann es aufgenommen wurde. Unseren Recherchen nach ist es sehr wahrscheinlich, dass die Generäle dort waren, um den Giftgasangriff vorzubereiten. Zu dieser Delegation gehörte auch Suheil Salman al-Hassan, Kommandeur der sogenannten Tiger Forces.
ZEIT ONLINE: Die Tiger Forces sind eine Spezialeinheit der syrischen Streitkräfte und für ihre Brutalität berüchtigt. Al-Hassan werden viele Chlorgas-Angriffe mit Hubschraubern zugeschrieben.
Higgins: Das Regime hat die Chlorgas-Angriffe spätestens seit 2014 systematisch geplant und ausgeführt. Es hat mindestens 336 Chemiewaffenangriffe während des Kriegs gegeben, die meisten davon mit Chlorgas, zu diesem Schluss kommt ein anderer Bericht.
ZEIT ONLINE: Dem Bericht zufolge werden 98 Prozent der Giftgasangriffe dem Assad-Regime angelastet, der Rest der Terrormiliz “Islamischer Staat” (IS). Haben Sie Belege dafür, dass auch der IS Chemiewaffen eingesetzt hat?
Higgins: Der IS hat Senfgas verwendet. Diese Angriffe wurden dokumentiert und sind Teil von laufenden OPCW-Untersuchungen. Meiner Meinung nach hat der IS definitiv chemische Waffen eingesetzt. Aber trotz der Anschuldigungen des syrischen Regimes und anderer gibt es keine eindeutigen Beweise dafür, dass auch die anderen bewaffneten Oppositionsgruppen chemische Waffen eingesetzt haben.
Das Regime setzt Augenzeugen unter Druck
ZEIT ONLINE: Worauf stützt die OPCW ihre Untersuchungen?
Higgins: Die Ermittlerteams recherchieren an den Angriffsorten; wenn sie das nicht können, erhalten sie viele Informationen von den Weißhelmen, dem syrischen Zivilschutz. Die Weißhelme sammeln Beweise, etwa Teile von Bomben, die am Boden liegen; sie dokumentieren auch die Beweissicherung. Dies erfolgt unter strengen Auflagen, damit die OPCW-Inspekteure garantieren können, dass nichts verfälscht wurde. Die Weißhelme interviewen auch Augenzeugen und sprechen mit Patienten, die nach einem Angriff etwa in der Türkei behandelt werden.
ZEIT ONLINE: Das Assad-Regime versucht seit Jahren, die Schuld für Giftgasangriffe zu leugnen oder sie den Rebellen anzulasten. Gibt es Hinweise darauf, dass Augenzeugen bedroht werden, um sie an der Veröffentlichung von Beweisen zu hindern?
Higgins: Nach dem Angriff in Chan Scheichun hat die OPCW in dem Ort Menschen interviewt und deren Aussagen waren sehr stimmig. Als die OPCW in Damaskus, also einer Gegend unter Kontrolle des Regimes, Menschen zu den gleichen Angriffen befragte, hörte sie teils Berichte, die der Beweislage komplett widersprachen. Da liegt die Vermutung nahe, dass das Regime sie unter Druck gesetzt hatte oder sie Angst hatten, die Wahrheit zu sagen.
ZEIT ONLINE: Sie haben als Erster nachgewiesen, dass das syrische Regime chemische Waffen und ebenfalls geächtete Streubomben einsetzt. Wie haben Sie das gemacht?
Higgins: Ich habe während des Libyen-Kriegs gelernt, im Internet Orte von Anschlägen oder Angriffen zu lokalisieren, wir nennen das Geolocating. Das habe ich angewandt, um herauszufinden, welche Waffen in Syrien wo eingesetzt wurden, welche vom Regime und welche von den Oppositionellen stammten. Ich habe Videos analysiert, die zeigen, dass das Regime schon 2012 Streubomben gegen die Bevölkerung einsetzte – in einer Zeit, als viele noch nicht glauben wollten, dass das Regime zu so etwas fähig ist. Ende 2012 wurde zum ersten Mal Giftgas in Syrien eingesetzt. 2013 gab es mehrere große Giftgasangriffe, etwa die Angriffe im August 2013 in Ghuta, im Umland von Damaskus, bei denen mehr als tausend Menschen an den Folgen des Nervengases Sarin starben.
ZEIT ONLINE: Aufgrund dieser Angriffe verabschiedete der UN-Sicherheitsrat im September 2013 die Resolution 2118 zur Zerstörung des syrischen Chemiewaffenarsenals, später auch eine Resolution, die darauf zielt, den Einsatz von Chlorgas zu ahnden. Das Regime sagte zu, Produktions- und Lagerstätten von Chemiewaffen zu zerstören oder zu übergeben. Doch es verübte weiterhin Giftgasangriffe. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie groß das Chemiewaffenarsenal von Assad ist?
Higgins: Wir wissen sicher, dass die Bomben, die für die Chemiewaffenangriffe in Chan Scheichun und in Al-Lataminah genutzt wurden, noch aus dem alten Bestand stammten – also aus der Zeit vor der UN-Resolution, den das Regime hätte zerstören müssen. Es ist unmöglich zu sagen, wie groß der Umfang der Bestände ist, weil das Regime keine ehrlichen Angaben darüber macht. Beim Chlorgas war es für die westlichen Staatsführer leichter, wegzuschauen. Chlorgas ist keine kontrollierte Chemikalie wie Sarin, es gibt eine legitime industrielle Verwendung dafür. Chlorgas an sich fällt also nicht unter die Chemiewaffenkonvention, wenn es als Waffe eingesetzt wird aber schon. Das Regime hat also der Chemiewaffenkonvention zugestimmt, aber weiterhin Chlorgas eingesetzt. Spätestens als das Regime auch wiederholt Sarin als Waffe einsetzte, war klar, dass es gelogen hatte. Es ist offensichtlich, dass das Assad-Regime viele Male gegen die Chemiewaffenkonvention verstoßen hat, und das auf die perfideste Art und Weise, die man sich vorstellen kann.
ZEIT ONLINE: Die Giftgasangriffe wurden von der Obama-Regierung als rote Linie markiert. 2012 hatte Obama angedroht, sollte Assad noch mehr Giftgaseinsätze durchführen, würden die USA militärisch eingreifen. Doch ein Einmarsch ist nie erfolgt, ernsthafte Folgen musste Assad nicht fürchten.
Higgins: Trotz der Bemühungen der Obama-Regierung hat Assad es geschafft, Angriffe mit Sarin durchzuführen. Er hat schnell gemerkt, dass es keine Konsequenzen für ihn hat. Allerdings: Wenn das Regime merkt, dass es nach einem Giftgasangriff eine öffentliche Reaktion gibt, hält es sich danach mit Giftgasangriffen zumindest kurzzeitig zurück. Die Vergeltungsschläge von US-Präsident Donald Trump nach den Angriffen auf Chan Scheichun 2017 und Duma 2018 führten dazu, dass das Regime Giftgasangriffe eine Zeit lang aussetzte. Trumps Angriffe folgten zwar keiner Strategie, aber sie hatten in Syrien einen direkten Effekt.
ZEIT ONLINE: Sie wollen mit Ihrer Arbeit Falschnachrichten entkräften. Über Syrien kursieren seit Jahren zahlreiche Verschwörungstheorien, die dazu dienen sollen, Assad von seinen Kriegsverbrechen freizusprechen. Warum werden gerade bei Syrien die Fakten so erheblich verdreht?
Higgins: Im Internet können sich Menschen mit ähnlichen Haltungen sehr einfach auf bestimmten Seiten und in bestimmten Gruppen zusammenfinden. Die Mitglieder dieser Communitys erhalten durch solche Filter immer ähnliche Quellen, die sie in ihren Weltbildern stärken, was dazu führt, dass diese Leute immer extremer und lauter werden. Man konnte das erstmals nach dem Nato-Angriff auf Libyen sehen, wo sich in Internetforen Kriegsgegner zusammenfanden, die am, wie ich es nenne, Golfkrieg-Störungs-Syndrom litten: Leute, die seit dem Einmarsch der USA in den Irak 2003 alles, was der Westen im Ausland tut, als imperialistisch ablehnen, weil sie vermuten, dass das Ziel ein regime change ist wie damals im Irakkrieg. Diese Haltung ist auch bei Syrien zu sehen. Hinzu kommen die russischen Medien und Politiker, die versuchen, anhand von Verschwörungstheorien russische Propaganda zu verbreiten. Seit Russland sich am Syrienkrieg beteiligt und für Assad Gebiete bombardiert, existiert ein starkes Pro-Putin-Narrativ, das sich mit dem der Assad-Unterstützer mischt. Sie alle verbreiten ziemlich viel Unsinn.
Im Sumpf der Verschwörungstheorien
ZEIT ONLINE: Dazu gehört der amerikanische Journalist Seymour Hersh, einst eine Reporterlegende, der in den vergangenen Jahren mehrfach behauptet hat, die Giftgasangriffe in Syrien seien inszeniert gewesen. Sie selbst haben sich mit Hersh deswegen angelegt.
Higgins: Es gibt eine Reihe von älteren Journalisten und Persönlichkeiten, die ihre Haltung als gesundes Misstrauen gegenüber der Regierung sehen, dabei aber nur immer weiter in den Sumpf der Verschwörungstheorien gezogen werden. Die Welt hatte nach den Giftgasangriffen von Chan Scheichun einen Bericht von Hersh veröffentlicht, der auf Verschwörungstheorien und gefälschten Beweisen beruhte. Das war sehr beschämend.
ZEIT ONLINE: Als Begründung dafür, dass sie solchen Verschwörungstheorien anhängen, sagen viele Leute: In Syrien sei alles so komplex, es sei nicht möglich, unabhängige Informationen zu bekommen. Hören Sie das nicht ständig?
Higgins: Absolut. Das Problem ist, dass den Aussagen mancher Leute vertraut wird, nur weil sie bekannt sind oder einen Professorentitel an einer renommierten Universität haben. Wir hören oft, dass Zeugen bestimmte Dinge erfunden haben könnten. Zeugenberichte können manchmal irreführend sein, nicht weil die Personen ein politisches Interesse verfolgen, sondern weil sie sich an Tatsachen anders erinnern, als sie waren. Auch Videos können täuschen, weil sie nur bestimmte Ausschnitte zeigen und andere auslassen. Deswegen versuchen wir bei Bellingcat, alle verfügbaren Informationen zusammenzufügen, um ein realistisches, plausibles Szenario zu erstellen.
ZEIT ONLINE: Ihre Arbeit ist auch wichtig für juristische Strafverfolgung. 2017 hatte der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl, der sich auf Ihr Open-Source-Material stützte, für einen libyschen Warlord erstellt. Auch bei Untersuchungen zu Luftschlägen im Jemen kamen Ihre Recherchen zum Tragen. Wie verbreiten Sie Ihre Ergebnisse?
Higgins: Die von uns verwendeten und entwickelten Online-Open-Source-Recherchetechniken sind heute für Organisationen wie die Uno, die OPCW und den Internationalen Strafgerichtshof von Interesse. Wir teilen diese Techniken auch mit der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und anderen Gremien, die sich darauf konzentrieren, Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen und Gerechtigkeit herzustellen. Wir arbeiten auch daran, Systeme zu entwickeln, durch die unsere Informationen in öffentlichen Archiven zugänglich werden.
ZEIT ONLINE: Es gibt erste erfolgreiche Bemühungen, Funktionäre des Assad-Regimes für ihre Verbrechen vor Gericht zu bringen. In Deutschland beginnt diese Woche der weltweit erste Prozess zu Staatsfolter in Syrien. Was müsste getan werden, um den Opfern der vielen Kriegsverbrechen in Syrien wenigstens etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen?
Higgins: Die Verbrechen gehen ja noch weiter. Es sollte viel mehr Druck auf die syrische Regierung geben, durch stärkere Sanktionen zum Beispiel. Es hätte immer Möglichkeiten gegeben, die Giftgasangriffe zu stoppen, etwa durch gezielten Abschuss der Hubschrauber, die Giftgas abwerfen. Es gab Hunderte Giftgasangriffe, es sind systematische, konstante Verbrechen. Klar ist: Wenn man Assad nicht aufhält, werden andere Diktatoren ihm folgen. Wenn Diktatoren das Gefühl haben, mit allem davonzukommen, werden sie immer weiter machen.