MESOPOTAMIA NEWS NEUE PARADOXE PAROLE : „RECHT & LINKS GEMEINSAM GEGEN FASCHISMUS IN BERLIN! „

Corona & Verschwörungen : Ist die Lüge an der Macht?

  1. Mai am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin: Die Polizei greift durch . – Hinter der Seuchenbekämpfung wirkt ein geheimer Plan: Immer mehr Menschen glauben so etwas, die Verschwörungstheorien breiten sich von den Rändern in die Mitte aus. Den ungeheuerlichsten Verdacht hegen zurzeit die Eliten selbst.

Das Grummeln wird lauter, das „Grundrauschen“, wie die Verfassungsschützer es nennen. Nicht einfach ein Unmut, wie er nach den Wochen drastischer Einschränkungen allseits erwartet worden ist. Vielmehr ein grundsätzlicher Verdacht, dass die Politik, die die deutsche Regierung und ein Großteil der Regierungen der Welt ergriffen haben, nicht die notwendige Gefahrenabwehr ist, als die sie sich ausgibt. Sondern dass in Wahrheit etwas ganz anderes dahinter steckt, etwas Dunkles, über das die verschiedensten Vermutungen kursieren, die aber alle in einem übereinkommen: Es ist eine Verschwörung gegen das Volk, ein Coup gegen die Demokratie.

Zum Beispiel Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, am 1. Mai: Auch an diesem Tag folgen wieder etwa dreihundert Menschen einem Aufruf der „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ und drängen an den Absperrgittern vorbei zur Volksbühne.

„Widerstand 2020“ steht auf handgemalten Plakaten. Schon in den vergangenen Wochen hatten sich am selben Platz sogenannte Hygiene-Demos mit wachsender Teilnehmerzahl zusammengefunden. In einer Zeitschrift, deren dritte Ausgabe mit einer Auflage von 380 000 Exemplaren herausgekommen ist, wird zur Rebellion gegen „den Griff zur Macht durch das Horror-Regime“ aufgerufen. Das Virus erscheint da als bloßer Vorwand: „Corona ist nicht oder nicht wesentlich bedrohlicher als jede andere Grippewelle.“

In Wirklichkeit geschehe Folgendes: „Die Regierung projiziert ihre eigene Panik wegen des Zusammenbruchs des Finanzmarktkapitalismus auf uns.“ Die Polizei ist am 1. Mai entschlossen, die Infektionsschutzgesetze einzufordern, und trägt Demonstranten vom Platz, achtzig werden vorübergehend festgenommen. Auch eine linke Gegendemonstration „Reclaim Rosa Luxemburg Platz“ findet sich ein. Die Initiatoren der Hygiene-Demos waren, als schon zu Dercon-Zeiten aktive Volksbühnen-Besetzer der Initiative „Staub zu Glitzer“ und frühere Mitglieder des antikapitalistischen „Haus Bartleby“ (beide Institutionen distanzieren sich heute von ihnen), zunächst selber dem linken Lager zugeordnet worden, auch weil ihre Zeitschrift mit Texten von Giorgio Agamben bestückt ist.

Doch auf ihren Zusammenkünften wurden immer mehr bekennende Rechtsextreme gesichtet. Ein sich als „Volkslehrer“ bezeichnender Demonstrant gab dafür die Parole aus: „Rechts und links gegen BRD-Faschismus in Berlin“.

Erst mal sieht es so aus, als würden bei den Verschwörungstheoretikern die ohnehin schon umherschwirrenden Ideen einfach auf die Corona-Konstellation übertragen.

Wer immer schon vom Zusammenbruch des Kapitalismus überzeugt war, erkennt ihn jetzt als wahren Grund für die Seuchenbehauptung. Wer schon früher die Flüchtlinge als Teil eines geheimen Plans sah, eine neue Weltordnung ohne nationale Souveränität zu installieren, sieht diesen jetzt in der globalen Virusbekämpfung vollendet, mit Leuten wie Bill Gates, George Soros oder den Rothschilds als Hintermännern. Impfgegner wittern ein Komplott, um weltweit Zwangsimpfungen durchzusetzen, 5G-Gegner argwöhnen in den Funkmasten den wirklichen Auslöser der Epidemie. Und wer schon vorher der verblüffend weit verbreiteten Geschichte glaubte, dass irgendwo in Amerika Kinder von einer sadistischen, von einflussreichsten Kreisen geschützten Clique gefangen gehalten und gefoltert werden, neigt jetzt zu der Annahme, Trump inszeniere die Corona-Krise zu dem Zweck, diese Kinder zu befreien (das sogenannte Adrenochrom-Komplott).

„Hier herrscht jetzt totale Diktatur!“

Nichts Neues also, könnte man denken. Doch die Unsichtbarkeit und die den ganzen Erdball umspannende, alles durchdringende Totalität des Virus macht ihn zu einer Art Urbild jeglichen Verschwörungsdenkens: zu einer Metapher und zugleich dem Beweis dafür, dass die gesamte Realität, wie die Macht sie uns vorstellt, eine Lüge sein könnte. Diese Konstellation scheint den Verschwörungstheorien gerade jetzt eine besondere Dynamik zu geben. Die Amadeu-Antonio-Stiftung beobachtet, dass zurzeit auch viele Leute, die bisher nicht an derlei glaubten, nun davon überzeugt seien, von der Regierung belogen zu werden; Corona sei für sie eine Art „Erweckungserlebnis“. In einem von der rechten Zeitschrift „Compact“ verbreiteten Video von einer Demonstration in Chemnitz ruft eine Frau: „Hier herrscht jetzt totale Diktatur!“

Ein bereits als E-Book erhältlicher Essay des Bremer Politikwissenschaftlers Philip Manow, der am 18. Mai unter dem Titel „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“ bei Suhrkamp als gedrucktes Buch erscheinen soll (160 Seiten, 16 Euro), lenkt den Blick auf die Rolle, die Verschwörungstheorien bei der Auseinandersetzung darüber spielen, wer das Volk ist und wer es repräsentieren darf. Ihr Nährboden sei eine prinzipielle Ungewissheit, die zur Demokratie von Anfang an gehört habe. Nie ist völlig sicher, ob der Amtsinhaber etwa nach einer verlorenen Wahl die Macht auch tatsächlich wieder zurückgeben wird; „to keep the country in suspense“, formuliert Präsident Trump diese Unsicherheit irritierend glaubhaft.

Manow folgt dem Historiker François Furet, für den schon die Französische Revolution ihre besondere Dynamik durch die immer präsente Vorstellung einer ihre Errungenschaften bedrohenden aristokratischen Verschwörung erhielt. „Deshalb ist die Besessenheit von der Verschwörung“, schrieb Furet, „ein allgemeiner Diskurs, der auf beiden Seiten der Macht getätigt wird.“ Beim Kampf um die Legitimität der Herrschaft hätten die Vorstellung eines Volkswillens und die Vorstellung eines Komplotts gegen den Volkswillen die beiden Seiten der „demokratischen Fiktion der Macht“ gebildet.

 

Die Zeitung, die auf der „Hygiene-Demo“ in Berlin am 1. Mai verteilt wird : Bild: Jens Gyarmaty

 

Heute spiele sich der Kampf überwiegend innerhalb der Demokratie ab, in den letzten Jahren als wechselseitiger Verdacht, die Demokratie völkisch deformieren oder internationalistisch auflösen zu wollen. Manows Buch beschäftigt sich vor allem mit den Paradoxien des Populismus und dessen Abwehr: Von Anfang an hätten sich die Theoretiker der Demokratie mit der Frage beschäftigt, wie sich der die demokratischen Werte oder andere Prinzipien des Zusammenlebens ablehnende „Pöbel“ aus der Demokratie ausschließen lasse. Deshalb erkennt Manow in den Polarisierungen, die die deutsche Gesellschaft vor Corona in Atem gehalten haben, eine Demokratisierung und eine Entdemokratisierung zugleich. Im Moment scheinen diese Schlachten in den Hintergrund getreten zu sein, doch auch in dem Brodeln unter der Oberfläche jetzt kann man Versuche entdecken, den „grundsätzlich leeren Ort“, den für Manow die politische Macht in der Demokratie darstellt, mit Worten neu zu besetzen.

Das Zentrum der Politik ist womöglich leer!

Die Absonderlichkeit vieler Verschwörungstheorien darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie jederzeit von den extremen Rändern in den offiziellen, vermeintlich seriösen Diskurs überwechseln können, sobald sie sich nur in einen Rahmen offiziell anerkannter Interessen einfügen lassen. So galt die Idee, dass das neue Coronavirus in einem Forschungslabor in Wuhan erzeugt worden und dann absichtlich oder unabsichtlich nach draußen getragen worden sein könnte, anfangs nur als eine abwegige, von Wissenschaftlern frühzeitig als extrem unwahrscheinlich qualifizierte Spekulation. Als sie sich aber Präsident Trump zu eigen machte, mahnten nun auch seriöse Politiker und Medien im Westen an, China solle sich einer Untersuchung des Verdachts stellen – und dies, obwohl Trumps Versuch, damit von eigenem Versagen in der Krise abzulenken, allen offensichtlich war. Aber da die Verschwörungstheorie in das als zunehmend dringlich empfundene Narrativ der Abwehr chinesischer Machtansprüche passte, wurde die Beweispflicht plötzlich umgekehrt: Sie lag nun nicht mehr bei denen, die die Theorie aufgebracht hatten, sondern bei denen, die sie widerlegen sollten.

 

  1. Mai am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin : Bild: Jens Gyarmaty

 

Im Rahmen der sogenannten Lockerungsdiskussion nehmen sogar viele Stellungnahmen seriösester Stützen der Gesellschaft die Form einer Verschwörungstheorie an – so als wäre das Virus in seiner Noch-nicht-Berechenbarkeit eigentlich keine Realität, sondern eine Ideologie. Mit einem Mal wird das rhetorische Muster, das man bisher bloß von selbsternannten Marginalisierten in ihrem Kampf mit den „Eliten“ her kannte, nunmehr auch von Vertretern der Eliten selbst benutzt und gegen einen angeblich vom Virus und den Virologen usurpierten Staat gewendet: Man wird doch wohl noch sagen dürfen… Plötzlich fühlen sich Ökonomen, Politiker, Rechtsprofessoren, Lobbyisten, die gerade noch die Mitte der Gesellschaft behaupteten und verteidigten, durch den Virus-Diskurs an den Rand und in die Defensive gedrängt. Man wird doch wohl noch sagen dürfen, dass Freiheit, Wirtschaft, Schule und menschliche Kontakte wichtig für die Gesellschaft sind, sagen sie und positionieren sich damit gegen einen imaginären Gegner, der das angeblich bestreitet.

Aber die Verschwörungstheorie, die sie gegen die Einschränkungen der Corona-Politik in Stellung bringen, unterscheidet sich in einem zentralen Punkt von den Verschwörungstheorien der Ränder: Während jene einen obskuren, böswilligen Plan hinter der Virusbekämpfung argwöhnen, ist der unheimliche Verdacht der Eliten, dass dahinter gerade kein Plan steckt: Das Zentrum der Politik ist womöglich leer! Von „nicht ausreichend begründeten Zumutungen“ spricht Wolfgang Kubicki und kritisiert wie viele andere, dass die Wissenschaftler alle etwas anderes sagen und dass die Regierung ihre Kriterien für den Grad der Eindämmung laufend ändere. Sein Parteikollege Christian Lindner forderte daher ein „Konklave von Virologen und Epidemiologen“, damit die sich endlich einigen.

Das Virus entzieht sich den Regeln der Kommunikation

Sie halten da also die Rede vom Virus, wie sie als Grund für die Einschränkungen des öffentlichen Lebens angegeben wird, offenbar nicht nur für einen Anschlag auf das Volk und seine Institutionen und Regeln, sondern auch auf das Prinzip, dass erst die Kommunikation die Realität herstellt, auf die die Politik reagieren kann. Doch heimtückischerweise entzieht sich das Virus bisher den Regeln der politischen Kommunikation und daher zum Teil auch den streng angemahnten Verhältnismäßigkeitsprüfungen: Die unterschiedlichen Modellierungen und daraus abgeleiteten Eindämmungskriterien sind bloß wechselnde statistische Annäherungsversuche, nicht die Realität des Virus selbst. Auch wenn die Modellierungen vorläufig, ungenau oder widersprüchlich sind, bleibt die Realität doch bestehen. In einer solchen Situation kann sich die Verantwortlichkeit der Politik gerade darin erweisen, sich mit Programmen zurückzuhalten und nicht auf eine einzige Wirklichkeitsbeschreibung zu setzen, ohne dabei die Expertise der Wissenschaftler anzuzweifeln – die notwendigen Öffnungsüberlegungen mit Gegenrechnungen zu begleiten, was passiert, wenn sich das Virus anders verhält als vorausgesehen.

Geht man nach den bisher hohen Zustimmungsraten zur Eindämmungspolitik, können große Teile der Gesellschaft mit dieser Unberechenbarkeit offenbar rationaler umgehen, trotz der vielen Härten, die sie im Leben hervorbringt. Sie vermissen ihre gewohnte Bewegungsfreiheit, bestehen aber auch auf der Freiheit, sich vor einer unvorhergesehenen, außergewöhnlichen Bedrohung auf unvorhergesehene und außergewöhnliche Weise zu schützen. Verschwörungstheoretiker aller Spielarten, die für das Volk zu sprechen beanspruchen, halten das wohl für Verblendung.