MESOPOTAMIA NEWS “FALSE MEMORIES”: Die Causa Hingst – Fragen und erste Antworten zu einem Skandal der Blogosphäre

DER SPIEGEL – RELOTIUS II.   / DIE BLOGGERIN DES JAHRES  2017  – Von Klaus Graf

Worum geht es? – “Mit einer erfundenen jüdischen Familiengeschichte soll die in Dublin lebende deutsche Historikerin Marie Sophie Hingst die Leser ihres Blogs „Read on my dear, read on“ (mittlerweile offline) sowie das Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem getäuscht haben. Das berichtet der „Spiegel“.

So fasst die WELT den Fall zusammen, über den ich gestern bereits kurz berichtet habe: Relotius und die Folgen: Medien gehen in Sack und Asche. Oder: die Bloggerin des Jahres 2017 hat eine Menge erfunden.

Wieso interessiert mich das?

Da es um eine Bloggerin geht, die zugleich promovierte Historikerin ist, das mir (aus der Ferne) wohlvertraute Stadtarchiv Stralsund eine prominente Rolle spielt und ich mich hier sehr oft mit Fakes befasst habe, liegt es auf der Hand, dass mich die Causa fesselt.

Welche Quellen konnte ich nutzen?

Mir lag (da der gedruckte Spiegel noch nicht in meinem Briefkasten war) der hinter einer Paywall befindliche Artikel von Martin Doerry vor:

Eintrag “In der Fake-Welt” aus Munzinger Online/Der Spiegel, URL: http://www.munzinger.de/document/25CODESCO-SP-2019-023-53747 (abgerufen von Verbund der Öffentlichen Bibliotheken Berlins am 1.6.2019)
Originalquelle: Der Spiegel 23/2019, S. 112-115

Ich habe die Google-Websuche (einschließlich des Google-Caches) herangezogen und Twitter (Suche nach Hingst, mllereadon, #Readonmyfake, gerade 160 Tweets von heute).

Warum ist eine transparente Darstellung, wie sie hier versucht wird, so wichtig?

Dem SPIEGEL geht es ums Geschäft, daher gibt es den Artikel nur auf Papier oder hinter einer Bezahlschranke. Auch SPIEGEL ONLINE sieht es nicht als seine journalistische Aufgabe an, mit genauen Quellenangaben und Links zu arbeiten. Es gibt hier nur eine Kurzfassung, die den Paywall-Artikel bewerben soll. Als einzigen sachlichen Link gibt SPIEGEL ONLINE einen Bericht über #KunstgeschichteAlsBrotBelag an.

Vorbildlich dagegen die WELT (am oben angegebenen Ort), die ihre Angaben mit Links dokumentiert.

Es ist leider im Online-Journalismus nicht üblich, zu einem Thema die relevanten Links aus anderen Medien zu sammeln und ggf. zu kommentieren. Die längst dahingegangene Netzeitung hatte dergleichen realisiert. Zur Causa Relotius muss man sich also die Materialien zum Faktencheck seiner Artikel aus diversen Quellen zusammensuchen, wenngleich der Wikipedia-Artikel eine große Hilfe ist. Bei der Causa Hingst ist der Löschantrag in der Wikipedia absehbar, sollte jemand auf den Gedanken kommen, der Bloggerin (!) einen Artikel widmen zu wollen. Aber davor bewahrt uns sicher die männerfixierte, Web 2.0-skeptische Adminmafia …

Es wäre zu wünschen, die Medien würden anfangen, in der Art der Wikipedia alles, worauf es ankommt, mit Einzelnachweisen zu belegen und die entsprechenden Dokumente dauerhaft zu veröffentlichen, soweit das juristisch (Persönlichkeitsrecht, Urheberrecht) zulässig und ethisch (Quellenschutz!) vertretbar ist.

Die Öffentlichkeit hat ein Anrecht auf Informationen – als Grundlage der Meinungsbildung. Da die beanstandeten Falschdarstellungen öffentlich erfolgten (im Blog, auf Twitter, auf Veranstaltungen) und durch den Holocaust-Bezug zweifelsohne ein öffentliches Interesse besteht, müssen sie auch öffentlich – auch mit Namensnennung – diskutiert werden. Ja mehr man an Hintergründen (unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Autorin) weiß, um so besser kann man ein eigenes Urteil fällen.

Jeder solcher Hochstapler-Fall regt zu allgemeinen Fragen an, die über ihn selbst hinausgehen. Journalismus, Blogosphäre und geschichtswissenschaftliche NS-Erinnerungskultur wären gut beraten, auch in dieser Causa selbstkritisch zu reflektieren und die Fakten zu sichern.

Dieser Beitrag versucht, eine sachliche, differenzierte Auseinandersetzung anzustoßen. Es ist willkommen, ihn und andere Zusammenfassungen zu verlinken, damit ein möglichst tragfähiges Netz an Informationen entsteht.

Was soll erfunden worden sein?

Bisher konzentrieren sich die Vorwürfe auf drei Punkte:

1. Die jüdische Familiengeschichte der Autorin einschließlich der Holocaust-Opfer
2. Die Flüchtlingssprechstunde der Autorin zum Thema Sex
3. Das indische Slumprojekt der Autorin

Was sagen die Quellen des Stadtarchivs Stralsund zur Familie der Autorin?

Drei nicht genannt werden wollende Archivare hatten für den SPIEGEL-Redakteur und Autor des Enthüllungsstücks Doerry eine kleine Präsentation vorbereitet: “Vor ihnen auf einem runden Tisch lagen Aktenordner sowie großformatige Kopien mit Stammbäumen und anderen biografischen Angaben”.

»Frau Dr. Hingst«, so lautet das quasiamtliche Urteil der Archivare, habe sich eine fiktive Familiengeschichte angeeignet. »Bis auf einige Namen ist alles frei erfunden.«

Was vielleicht nicht so schlimm wäre, wenn die Historikerin nur harmlose Spekulationen unter die Leute gebracht hätte. Tatsächlich aber hat Hingst die Namen von 22 angeblichen Holocaust-Opfern, allein 8 davon aus Stralsund, dem Archiv der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem gemeldet – 22 Menschen, von denen die meisten gar nicht existierten. Die Unterlagen des Stadtarchivs und weitere Quellen zeigen: Nur drei Personen haben wirklich gelebt. Keiner von ihnen war Jude, keiner wurde ermordet.

Und Marie Sophie Hingst hat ihre Legenden nicht nur in Yad Vashem hinterlegt, sondern auf vielen Wegen verbreitet: in Vorträgen und Gesprächen mit Kommilitonen etwa, vor allem aber in ihrem 2013 begonnenen Blog »Read on my dear, read on«, in dem sie gern und immer wieder von ihrer angeblich jüdischen Großmutter erzählt, ein Blog übrigens, mit dem sie von den Goldenen Bloggern zur »Bloggerin des Jahres 2017« gewählt wurde und der inzwischen fast 240 000 regelmäßige Leser zählt.

Detailliert breitet Doerry familiengeschichtliche Details aus, wobei aus meiner Sicht das öffentliche Interesse an der Aufklärung den Datenschutz überwiegt:

Wer Hingst bei Twitter folgt, bekam aber auch ein Foto des Schreibens aus Yad Vashem zu sehen, mit dem ihr für die Übergabe der angeblichen Familiendokumente gedankt wurde. 15 Formulare hatte sie am 8. September 2013 handschriftlich ausgefüllt und unterschrieben, 7 weitere wurden digital versandt. Mit diesem Schritt hatte sich Marie Sophie Hingst erstmals in die Parallelwelt einer zweiten, fiktiven Existenz begeben: als Kind einer jüdischen Familie, die viele Angehörige im Holocaust verlor – und die es in Wirklichkeit niemals gab.

Die väterliche Familie Hingst ist im Konvolut falscher »Pages of Testimony«, wie die Opferblätter in Yad Vashem genannt werden, gleich achtmal vertreten. Die Existenz von sechs Personen, die sie in Jerusalem nannte, alle angeblich Brüder ihres Großvaters, konnte das Stralsunder Archiv ausschließen, die Namen fehlen in den vollständig erhaltenen Akten des Standesamts.

Zwei der von ihr genannten Mitglieder der Familie Hingst haben wirklich gelebt, nämlich ihr Urgroßvater Hermann Hingst und seine Frau Marie. Den beiden dichtete sie jüdische Vorfahren an, Marie zum Beispiel soll eine gebürtige Cohen gewesen sein, außerdem sei das Paar 1942 von den Nazis ermordet worden. Ansonsten blieb sie weitgehend bei der Wahrheit: Hermann und Marie wohnten den »Pages of Testimony« zufolge in der Großen Parower Straße in Stralsund – was stimmt. Und Hermann war von Beruf Lehrer – was ebenfalls stimmt.

Das Stralsunder Stadtarchiv besitzt einen Personalfragebogen der Mecklenburger Landesregierung aus dem Oktober 1947, den Hermann Hingst zum Zwecke einer Weiterbeschäftigung in der Sowjetischen Besatzungszone ausfüllen musste. Darin sind nicht nur sein Beruf und seine evangelische Religionszugehörigkeit vermerkt, sondern auch seine Kinder: zwei Töchter und ein Sohn namens Rudolf, 1917 geboren, von Beruf Pfarrer.

Rudolf war Marie Sophies Großvater, ab 1956 arbeitete er als Pastor in der Friedrichstädter Gemeinde in der Lutherstadt Wittenberg, er starb bereits 1977. Rudolfs Ehefrau, ebenjene Großmutter, von der Marie Sophie so gern erzählt, hieß Helga Louisa Brandl. Dass sie Zahnärztin war und 1922 geboren wurde, berichtet Hingst in ihrem Blog. Dass sie evangelisch war wie auch ihr Vater, natürlich nicht.

Urgroßvater Josef Karl Brandl bekommt bei Hingst allerdings einen leicht veränderten Namen. In den »Pages of Testimony« heißt er Jakob Brandel und wurde angeblich zusammen mit Frau und Kindern 1942 in Auschwitz umgebracht.

Neben den 14 Opferblättern für die Familien Hingst und »Brandel« hat die Historikerin noch acht weitere Dokumente für im Holocaust umgekommene Personen mit den Familiennamen »Rosenwasser« und »Zilberlicht« eingereicht, hier soll es sich offenbar um ihre mütterlichen Vorfahren handeln. Diese Menschen tauchen allerdings sonst in ihren Erzählungen nie auf.

Tatsächlich haben die von Hingst in Yad Vashem gemeldeten Personen nirgendwo Spuren hinterlassen: Weder in den Digital Collections des International Tracing Service noch im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz, noch im Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland sind die Namen der 22 angeblichen Holocaust-Opfer auffindbar.

Doerrys abschließender Wertung kann man zustimmen:

Solche Hochstapeleien sind kein Verbrechen, aber skandalös sind sie allemal. Wer Holocaust-Opfer erfindet, verhöhnt im Nachhinein all jene, die wirklich von den Nazis gequält und umgebracht wurden.

Gibt es Parallelen zu dieser Hochstapelei?

Ja. Doerry verweist auf den vom SPIEGEL (und Doerry) aufgedeckten Fall des Wolfgang Seibert, des inzwischen zurückgetretenen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Pinneberg, der sich ebenfalls eine jüdische Familiengeschichte ausdachte.

“Mit Marie Sophie Hingst haben wir einen Relotius in Gestalt eines Wilkomirski”, kommentiert der Perlentaucher. Die Wikipedia weiß: “Binjamin Wilkomirski ist ein Pseudonym des Schweizers Bruno Dössekker (* 12. Februar 1941 in Biel als Bruno Grosjean), der sich unter diesem Namen als Holocaust-Überlebender darstellte.” Von dort führt ein Link auf Misha Defonseca. Die belgische Autorin musste ihrer Verlegerin rund 16,3 Millionen Euro für ihre erfundenen Holocaust-Memoiren zurückzahlen.

“Ich, das Opfer: Falsche autobiografische Zeugnisse von Weltkrieg, Naziterror und Konzentrationslagern haben eine lange Tradition”, legte im Oktober 2018 das Neue Deutschland dar.

Zu dem 2002 erschienenen Sammelband “Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein” (nicht Open Access verfügbar, daher für transparente Aufarbeitungen nicht ohne weiteres zugänglich – man muss das Buch kaufen oder sich per Fernleihe oder sonst verschaffen; nur einen Artikel fand ich online) gibt es mehrere längere Online-Rezensionen: Deutschlandfunk, Literaturkritik, HSOZKULT.

“Ein Essay über das Erinnern, die Kultur der Selbstviktimisierung und gefälschte Holocaustbiografien” von Wolfgang Heuer aus dem Jahr 2005 ist online.

Im Artikel “Literaturwissenschaft” der Docupedia lesen wir:

Das Verhältnis von Fiktionen und Fakten unter Aspekten der „false memory” zu erörtern haben vor allem Erinnerungsgeschichte und kulturelle Gedächtnisforschung seit einigen Jahren vorgeschlagen und damit ein neues Forschungsfeld eröffnet. Seit weitaus längerer Zeit beschäftigt sich allerdings die Literaturwissenschaft – häufig anhand von konkreten Fällen aus der Literaturgeschichte – mit diesem Thema. Ein Fall wie derjenige Binjamin Wilkomirskis macht die Notwendigkeit und die Chancen einer solchen Erkundung deutlich und zeigt die disziplinübergreifende Relevanz der „false memory” und die Synergieeffekte eines interdisziplinären Austauschs zwischen Zeitgeschichte und Literaturwissenschaft: Binjamin Wilkomirski veröffentlichte 1995 im zur Suhrkamp-Gruppe gehörenden Jüdischen Verlag das Buch „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948″. Die im Stil einer Autobiografie verfasste Publikation beschrieb in fragmentarischer Form und hauptsächlich aus der Perspektive eines Kindes Erlebnisse aus dem Leben des Ich-Erzählers aus der Zeit des Nationalsozialismus in Lettland und anderen Ländern. „Bruchstücke” wurde in neun Sprachen übersetzt und von der Kritik hoch gelobt. Der Autor selbst trat immer wieder vor einem interessierten öffentlichen wie fachwissenschaftlichen Publikum als Zeitzeuge und Experte auf. 1998 wurde Binjamin Wilkomirski dann als Bruno Doessekker entlarvt; sein vermeintlicher Lebensbericht entpuppte sich als Fälschung und war damit in das Reich der Fiktion verwiesen.

Dieser Fall hat nicht nur Anlass gegeben, literaturbetriebliche und kulturindustrielle Praktiken zu hinterfragen. Vor dem Hintergrund des erinnerungskulturellen Umgangs mit NS-Geschichte und Holocaust löste er Debatten aus, die nicht nur Aspekte wie die Identitäts- und Authentizitätsproblematik, die Relevanz von Traumatisierungen und die Bedeutung kultureller Rezeptionsmuster verhandelten, sondern auch um Fragen nach den Überschneidungen historiografischer und literaturwissenschaftlicher Zuständigkeit kreisten.

In einem breiteren Kontext thematisierte der Guardian im Februar 2019 das Verhältnis von Fiktion und autobiographischer Realität: “Authors who fabricated literary personas share how their fantasies became nightmares”.

Das soll als Kontextualisierung genügen, die LeserInnen dürfen gern weitere Funde beisteuern. Während ich dies schreibe hat Felicitas Noeske bereits mit der entsprechenden Recherche begonnen (Kommentar in Archivalia).

Was hat es mit der Sex-Sprechstunde für Flüchtlinge auf sich?

Doerry bezieht sich hier auf einen Faktencheck der ZEIT-Redaktion, die, wie von mir schon gestern gemeldet, 2017 einen weitgehend erfundenen Gastbeitrag veröffentlicht hat. Der Faktencheck (ohne Namensnennung):

https://blog.zeit.de/glashaus/2019/05/31/gastbeitrag-2017-taeuschung-verdacht/

“Die Autorin hat Teile ihrer Biografie erfunden, andere verfälscht, und mit großem Aufwand jahrelang öffentlich vorgetäuscht, eine Person zu sein, die sie nicht ist. Selbst Teile ihres engeren Umfelds scheinen ihren Schilderungen bis heute zu glauben. Wir haben die Autorin mit diesen Recherchen konfrontiert, sie möchte sich derzeit nicht dazu äußern.”

Mein Kommentar: Noch einige Tage kann man den Artikel “Das Problem mit dem Penis. Viele Geflüchtete haben in ihrer Heimat nie über Sex gesprochen. Das führt nicht nur im Bett zu Problemen. Nun lernen sie es bei dem “Fräulein, das immer über Sex redet”. Von Sophie Roznblatt” nachlesen. Es wäre besser, würde man solche Artikel nicht depublizieren, sondern mit Erläuterung im Netz belassen. Aus gedruckten Zeitungsausgaben schneidet man ja auch die Fakes nicht heraus.

Deutschlandfunk Nova hat entsprechende Podcasts aus dem Netz genommen. Auch das trägt nicht zu unvoreingenommener Meinungsbildung bei.

Was kann man über das indische Slumprojekt sagen?

Doerry und seine Helfer konnten nichts verifizieren:

ein Slumkrankenhaus nämlich, das Hingst im zarten Alter von 19 Jahren zusammen mit einem Freund in Neu-Delhi gegründet haben wollte. Hingst hatte dort angeblich nicht nur Patienten – ohne ärztliche Ausbildung – behandelt, sondern auch Sexualaufklärung für junge indische Männer betrieben.

Genaue Orts- und Zeitangaben fehlen ebenso wie Fotos, die die Existenz der kleinen Klinik belegen könnten. Soweit bekannt, war Hingst 2015 einmal für drei Monate in Neu-Delhi gewesen, allerdings bei einem germanistischen Sommerseminar über Franz Kafka. Erst danach berichtete sie von der Klinikgründung im Jahr 2007.

Die Angaben zum Indienprojekt waren jedoch ebenso widersprüchlich wie die über ihre jüdische Familie: Mal hatte sie im »Slum« Okhla – in Wahrheit ein Stadtteil im Süden Delhis – eine eigene Klinik gegründet, mal in einer schon bestehenden Klinik gearbeitet, mal betrieb sie in Delhi nur ein »slum support scheme«, also eine Art Sozialprojekt.

Wer sind die Aufklärer?

Doerry apostrophiert sich zweimal in dem Text als “Redakteur aus Hamburg”. Im SPIEGEL (via Munzinger) wird er so porträtiert:

Martin Doerry,geboren 1955, ist promovierter Historiker und Autor mehrerer Bücher zur Geschichte des Nationalsozialismus. Seit 1987 arbeitet er beim SPIEGEL, unter anderem als Leiter des Kultur- und des Deutschlandressorts, von 1998 bis 2014 als stellvertretender Chefredakteur. Seither schreibt er als Autor für den SPIEGEL.

Auch der Wikipedia ist von einer Anstellung als Redakteur nichts bekannt. Allerdings spricht die Hausmitteilung des SPIEGEL zum Stück über Hings ausdrücklich von ihm als Redakteur. Im Impressum S. 124 ist er dem Kultur-Ressort, aber nicht der Redaktion, sondern der Gruppe der “Autoren, Reporter” zugeordnet.

Den von ihm gewählten szenischen Einstieg (“Den drei Männern vom Archiv war die Angelegenheit sichtlich unangenehm. Etwas verlegen saßen sie an diesem Nachmittag Anfang April in einem Büro des Stralsunder Stadtarchivs”), der seit Relotius in Verruf gekommen ist, kann man nicht kritisieren, da die Quelle angegeben wird. Doerry war selbst anwesend.

Es gab laut Doerry eine kleine Gruppe von Leuten, die sich über Hingsts Geschichten austauschten:

Die vielen Unstimmigkeiten sind aufmerksamen Lesern irgendwann aufgefallen. Die Historikerin Gabriele Bergner aus Teltow bei Berlin – sie gilt als Expertin für internationale Personenrecherchen – zählte zu den Ersten, die einen Verdacht schöpften. Bald bildete sich um sie ein kleines Team von Rechercheuren, darunter eine Anwältin, ein Genealoge und ein Archivar, die sich per Mail über die jeweils neuesten Hirngespinste von Marie Sophie Hingst austauschten. […] Im Dezember 2018 wandte sich Gabriele Bergner an den SPIEGEL.

Bergners Selbstdarstellung:

https://www.memento-berlin.de/ueber-mich/

Was weiß man über die Historikerin Hingst?

Wenig. Doerry gibt an, sie sei 31 Jahre alt.

Aufgewachsen in einer Akademikerfamilie in Lutherstadt Wittenberg, hat Hingst in Dessau Abitur gemacht und in Berlin, in Lyon und in Los Angeles Geschichte studiert. 2013 ging sie nach Dublin, wo sie am Trinity College promovierte.

Die Dissertation konnte ich in Bibliothekskatalogen und auch im OPAC des Trinity College in Dublin zunächst nicht auffinden, aber nur, weil ich zu schlampig gesucht hatte. Sie ist unter dem Titel “One phenomenon, Three perspectives. English colonial strategies in Ireland revisited, 1603-1680” seit 2018 Open Access einsehbar:

http://hdl.handle.net/2262/83834

Auf ihrer seit 2014 nicht mehr gepflegten Website am Trinity-College heißt es: “I received my undergraduate and graduate education in Berlin, Lyon and Los Angeles and graduated in 2013 with an MA in Early Modern History from Freie Universität Berlin. I started my PhD in 2013 and am under the supervision of Micheál Ó Siochrú.” Als sie an ihrem College Ende 2017 das ‘The Future of Europe Project’ der Financial Times mit einem Artikel “Europeans should not abandon a collective identity” gewann, teilte das College zu ihrer Biographie mit:

Marie Sophie Hingst studied History and East Asian Studies in Berlin, Lyon and Los Angeles. She joined Trinity College Dublin in 2013 for a PhD thesis on English colonial strategies in 17th century Ireland under the supervision of Micheál Ó Siochrú and Mark Hennessy and was a graduate fellow at the Trinity Long Room Hub Arts and Humanities Research Institute from 2015 to 2017.

Apart from history, she is engaged in humanitarian work and runs an awarded slum clinic in New Delhi with a focus on Women’s Healthcare.

[Nachtrag: Dankesrede

Doerry behauptet: “Bei der Preisverleihung in Dublin – man kann sie im Internet hören – erzählte sie wieder vom Leidensweg ihrer vermeintlich jüdischen Familie und verglich deren Schicksal mit dem der Flüchtlinge, die heute an Europas Küsten strandeten.” Davon höre nicht nur ich nichts im vom Tagesspiegel (fälschlich) verlinkten Video (das sich auf einen anderen Anlass bezieht), und auch im Artikel der FT von Hingst steht davon nichts.]

Could social media help your academic career? Das diskutierte man am 1. April (!) dieses Jahres in Dublin. Zum Panel gehörte Hingst, über die man zusätzlich zu den oben gemachten Angaben des College erfährt: “She was also awarded ‘Blogger of the Year’ at Germany’s #goldeneblogger awards in 2018. She currently works as a disruptor at Intel.”

Die wenigen Dokumente auf Academia.edu sind unverdächtig. Sie verfasste – noch am Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin – einen Tagungsbericht für HSOZUKULT und einen Aufsatz über Egon Erwin Kisch in der Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 2014 (kein Volltext verfügbar).

Wie reagierte Hingst auf die Vorwürfe?

Doerry schreibt:

Am vergangenen Sonntag ließ Marie Sophie Hingst schließlich über einen Anwalt aus München mitteilen, dass die Texte in ihrem Blog »ein erhebliches Maß an künstlerischer Freiheit für sich in Anspruch« nähmen. »Es handelt sich hier um Literatur, nicht um Journalismus oder Geschichtsschreibung.« So ähnlich steht es mittlerweile auch in ihrem Blog.

Ein letzter Schachzug also, die Spuren zu verwischen. Der Text des Anwalts enthält nicht etwa ein Dementi ihrer Lügengeschichten, sondern formuliert nur einen neuen, ästhetischen Anspruch. Bis dahin hatte sie Kritikern, die die Authentizität des Blogs infrage stellten, erbittert widersprochen. Jetzt werden die Legenden sicherheitshalber zu Literatur erklärt.

Außerdem ließ sie durch ihren Anwalt erklären, dass sie »zu keiner Zeit« im »Rahmen von Texten mit realen Lebensdaten Unwahrheiten über ihre eigene Familiengeschichte verbreitet« habe. Sie habe zwar eine »Liste von 22 Personen aus dem Nachlass ihrer Großmutter« Yad Vashem übergeben, sie aber nicht selbst überprüft. Eine »Liste« wohlgemerkt. Tatsächlich hatte sie selbst 22 Formulare ausgefüllt. Nun soll also die tote evangelische Oma an allem schuld gewesen sein.

Bleibt nur noch die Frage, wie Yad Vashem mit den gefälschten »Pages of Testimony« umgeht. Am Anfang dieser Woche hat der Stralsunder Oberbürgermeister das Auswärtige Amt in Berlin auf die »Falschdarstellung« in den Opferbögen hingewiesen und darum gebeten, die Gedenkstätte Yad Vashem offiziell zu informieren.

Das Blog https://readonmydear.com/ ist offline. Im Google-Cache findet sich die von Doerry erwähnte – gut geschriebene – Rechtfertigung vom 22. Mai (die Hervorhebung auf dem Bild stammt von mir).

Die WELT zitiert aus der Kopie des Blogs im Internet Archive:

Deutsch ist meine Großmuttersprache. Meiner Großmutter verdanke ich alle deutschen Wörter, die ich habe. Deswegen gibt es hier kleine Wörter und spitze Wörter, manche Wörter hinken, andere springen, und manchmal verlaufen sich die Wörter im Dickicht der Nacht oder können nichts sehen durch den dicken Nebel. Manchmal lächeln die Wörter und öfter noch sind die Wörter müde. Wörter und ihre Geschichten also, darum soll es hier gehen.

In Irland sehe ich aus dem Fenster das Meer. In Berlin wohne ich einem Haus, das in dem Jahr gebaut wurde, in dem mein Urgroßvater Wien verließ, in Neu-Delhi verbringe ich sehr viel Zeit in einem Slum, der mehr Einwohner hat als ganz Irland. Mein Herz schlägt für Vrchotovy Janovice, ein kleines Dorf, in dessen Schloss Karl Kraus für Sidonie von Nadhérny Gedichte schrieb. Zu Hause, soweit man das sein kann, bin ich wohl in den Büchern.

Hingsts Twitter-Account @MlleReadOn ist nicht mehr öffentlich. Hingst hat sich öffentlich gestern geäußert, was aber nur ihre bestätigten Follower sehen konnten. Auf eine Stellungnahme von Hingst reagierte offenbar der folgende Tweet.

Dazu passt:

Noch zugänglich ist: Academia.edu (wie oben). Den Instagram-Account konnte ich gestern Abend noch sehen, er ist nun auch privat.

Wie reagierte die Presse?

Langsam trudeln immer mehr Artikel und Stellungnahmen der etablierten Medien ein.

Soeben verurteilte Caroline Fetscher im Tagesspiegel Hingsts Erfindungen: “Die Bloggerin Hingst hat eine dramatische jüdische Familiengeschichte erfunden. Eine abgründige Geschmacklosigkeit – gegenüber den wahren Holocaust-Opfern […]. Doch Hingst, die auf Podien und Tagungen in der Doppelrolle als Historikerin und Nachkommin verfolgter Juden auftrat, ging es offenbar um mehr als Karrieresprünge und Ruhm. Sie scheint den Nimbus der Opferrolle gesucht zu haben, das selbsterhöhende Pathos leidgetränkter Schicksale, eine erlogene Dornenkrone, ein Narrativ ohne jedwede reale Substanz.” In diesem Stil geht es gnadenlos weiter.

Die FAZ hatte ein Interview mit Hingst, ohne deren Namen zu nennen, veröffentlicht und erklärt nun: “Auch nach Veröffentlichung des „Spiegel“-Artikels blieb Frau Hingst gegenüber der F.A.Z. bei ihrer Darstellung, was den Aufklärungsunterricht angeht. Wegen begründeter Zweifel an ihren Aussagen nehmen wir das Interview dennoch offline”. Die falsche Entscheidung!

Wie sind die Reaktionen auf Twitter?

Während gestern eindeutig die Verteidiger von Hingst vorherrschten, nimmt heute die Kritik unter dem Hashtag #readonmyfake zu. Angesichts des Umfangs der Diskussion wird meine kleine Sammlung von Stimmen alles andere als repräsentativ sein.

***

Siehe auch: http://de.wikimannia.org/Kost%C3%BCmjude

***

In der Hausmitteilung des SPIEGEL steht dazu:

“Marie Sophie Hingst hat sich in eine Parallelwelt hineinfatasiert”, sagte Doerry nach dem Gespräch, “zuweilen glaubt sie wohl sogar das, was sie sich ausgedacht hat.”

***

***

Einen Kommentar auf ZEIT ONLINE zum Flüchtlingsartikel gruben aus:

Das Bild eines Formulars für Yad Vashem:

***

Für die Rechten ist das Ganze ein gefundenes Fressen. Etwas aus dieser Ecke:

***

Es gibt wiederholt Kritik an Doerry.

Die beiden Sätze lauten: “Die Archivare in Jerusalem dürften erst mal mit Kopfschütteln reagieren: Da bringen die Deutschen schon sechs Millionen Juden um. Und dann erfinden sie auch noch 22 Opfer hinzu.”

Wie reagiert die Blogosphäre?

Anke Gröner äußert sich sehr kritisch zu Hingst:

https://www.ankegroener.de/blog/?p=31942

Es ist zum Kotzen, und ich bin sehr wütend. Wütend auf Hingst, wütend auf mich selbst, dass ich das Unwohlsein bequem zur Seite geschoben habe, aber auch wütend darauf, dass so viele in meiner Timeline sich auf Hingsts Seite schlagen, ohne den Spiegel-Artikel gelesen zu haben, der faktenreich belegt, worum es geht.

Es geht nicht darum, dass die Dame eventuell ihr Leben in Dublin ein bisschen aufgehübscht und Lichterketten in Bäume gehängt hat. Es ist egal, ob die Tasse, aus der sie morgens Tee trinkt, nun blau oder grün ist, ob das Kälbchen existierte oder welches Auto der Tierarzt fuhr, wenn es ihn denn gab. Mich haben gestern die vielen Reaktionen auf Twitter überrascht, in denen Hingst bescheinigt wurde, dass, selbst wenn das alles ausgedacht war, es doch immerhin schön zu lesen war.

Aber: Es macht einen Unterschied, ob man sich eine evangelische oder eine jüdische Großmutter erfindet. Es macht einen Unterschied, ob man sich eine Opferperspektive und damit eine Deutungshoheit aneignet, die man schlicht nicht hat. Es macht einen Unterschied, ob man Lesern und Leserinnen vortäuscht, ein Leben zu führen, das nicht existiert oder es von vornherein als ein literarisches Experiment aufzieht und kenntlich macht.

Wie bewerte ich die Causa?

Da sie mir erst seit gestern bekannt ist, wäre es vermessen, etwas anderes als eine sehr vorläufige Beurteilung abzugeben. Ich fasse mich daher kurz: Die Erfindung einer jüdischen Identität scheint, nach dem Doerry-Stück zu urteilen, bewiesen und lässt sich meines Erachtens nicht rechtfertigen. Ich mag Hingsts gefühligen Stil in ihrem Blog nicht, habe aber Verständnis für all jene, die sich gut von ihr unterhalten oder berührt fühlten. Es ist zu hoffen, dass Frau Hingst menschlich mit einem blauen Auge davon kommt und, wenn sich der Sturm gelegt hat, ihre Talente in anderer Weise als bisher, fälschungsfrei, ausleben kann.

Sachliche Kommentare sind willkommen!