MESOPOTAMIA NEWS : DER MOHR HAT NOCH LÄNGST NICHT SEINE SCHULDIGKEIT GETAN ! / WER WORTE VERBIETET = VERBIETET DIE SPRACHE!

Angelika Overath ist Schriftstellerin – Luchterhand  29 Juni 2020

Aber wir blasshäutige Mädchen und Buben aus der Großstadt, wir waren schwarzgebrannt! Wir kamen aus einer fernen, wilden Weite. Denn was sollte das „Morgenland”, von dem wir keine Ahnung hatten, denn sonst sein?

Warum wir große Ohren hatten, wussten wir nicht. Aber offensichtlich war es wunderbar, „große Ohren” zu haben. Später habe ich mich natürlich gefragt, wie die „Ohren” zum Morgenland kamen? Als Reimwort zum „Mohren”? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass wir dieses Lied liebten. Dass es uns wild und stark machte, so stark, dass Schwester Hummel manchmal abwinkte und ein Maikäferlied vorschlug.

Maikäfer: Wir tauschten sie. Wir hatten Schuhschachteln (im besten Fall vom Salamandergeschäft mit Lurchi drauf), in die wir mit der Schere Löcher stachen. Dort lebten unsere eingesammelten Maikäfer auf Gras und Löwenzahnblättern. Es gab Maikäfer mit verschiedenen Farbtönungen. Die begehrtesten, weil seltensten, waren die „Mohrchen”. Sie hatten schwarze Köpfe. Es gab auch Füchse (rötliche Köpfe), aber ich weiß das nicht mehr genau, auch nicht mehr den Tauschwert. Aber für ein „Mohrchen” musste man mehrere andere Maikäfer hergeben. Oder man gab es gar nicht her.

Immer deutlicher kam dann das Morgenland ins Wohnzimmer. Da standen die Heiligen Drei Könige, Caspar, Melchior und Balthasar, die dem Stern gefolgt waren, an der Weihnachtskrippe. Kleine, schön bemalte Figuren aus Gips. Sie wurden auch „Weise aus dem Morgenland” genannt. Sie brachten dem Jesuskind Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und es war egal, ob Caspar oder Melchior nun der schwarze König war. Das konnte sich ändern.

Gut, im Konsum, wo noch hinter der Theke verkauft wurde und alles direkt abgewogen, hockte ein Negerkind auf der hölzernen Schachtel, in die man Geld einwerfen sollte. Und wenn man es tat, nickte es für eine Weile.

Das hatte etwas mit der Mission der Heidenkinder zu tun. Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass mir das schon damals suspekt war. Und so eine Kiste gab es auch nicht im Kindergarten und nicht in unserer Kirche.

Heute kann ich den Dokumentarfilm „I Am Not Your Negro” über James Baldwin immer noch nicht ohne Tränen in den Augen ansehen und nicht, ohne dass sich mir die Finger zur Faust ballen. Das hat sicher auch mit einer seltsamen Sentimentalität zu tun. Schwarz hat viele Farben.

Der Vater einer meiner besten Freundinnen war Nationalspieler in der Fußballmannschaft von Kamerun; ihre Mutter ist eine deutsche Sportlehrerin. Im Unterschied zu mir, die ich Reportagen aus Benin, von der Elfenbeinküste und aus Kamerun geschrieben habe, war sie noch nie auf dem Heimatkontinent ihrer Mutter. Ihre Haut ist dunkel, ihre Locken ein Wasserfall. Meine Königin von Saba.

Meine Freundin ist schwarz, sage ich zu meiner entfernten Cousine bei einem Familientreffen in Karlsruhe.

Das würde ich niemals sagen, sagt meine Cousine. Die Menschen sind doch gleich. Aber nein, sage ich, die Menschen sind nicht gleich. Die einen haben blaue Augen und die anderen braune. Meine Cousine funkelt mich giftig an. Ich frage: Wenn ich sage, dass ich meine Freundin schön finde, gerade weil sie schwarz ist, ist das dann rassistisch? Meine Cousine überlegt kurz. Dann sticht sie in ihre Schwarzwälder Kirschtorte und sagt: Ja.

Heute lebe ich im Engadin in der Schweiz. Das Engadin ist eines der höchsten bewohnten Täler Europas. Schwer zu bewirtschaften. Seit dem fünf-zehnten Jahrhundert zogen Menschen immer wieder aus dem Tal nach Venedig, bald nach ganz Italien und Europa –

und machten schließlich in fast tausend Städten als „Zuckerbäcker” ihr Glück. So ist etwa das Cafe Florian in Venedig eine Gründung von Engadinern. Wenn die Männer, und zunächst waren es vor allem Männer, die loszogen und dann ihre Familien vielleicht nachholten, in ihre Heimatdörfer zurückkamen, brachten sie ihren Frauen „Morins” mit.

 

Vermutlich kamen die ersten Morins aus Venedig. Letztlich ist ihre Herkunft nicht geklärt. „Morins” sind emaillierte Ohrenanhänger. („Und haben so große Ohren”: Wer weiß, wie das alles zusammenhängt.)

 

Es gibt „Morins” in zwei Typen, als Sklave und als König. Wer durchs Engadin reist, wird diese Ohrenanhänger immer wieder sehen. Es tragen sie Frauen, die im Engadin leben oder sich dem Engadin verbunden fühlen. Lange Zeit wurden die Morins in den Familien vererbt. Mittlerweile gibt es junge Goldschmiede, die das Handwerk des Emaillierens lernen und „Morins” nach den alten Modellen herstellen. Sie sind sehr teuer.

 

Das alles fällt mir ein, wenn ich lese, dass in der Schweiz gerade die „Mohrenköpfe” aus den Regalen geräumt werden. In Deutschland sind sie schon lange verschwunden. Heißen- sie jetzt nicht „Schaumküsse”?

 

Können wir ohne das Wort „Mohr”, ohne das Wort „Neger”, ohne das Wort „Weib” über Diskriminierung und Schönheit und Identität sprechen? Wörter changieren mit ihren Kontexten. In Wörtern steckt Geschichte, stecken Geschichten. Wörter haben spezifische Widerstände, an denen wir steigen wie ein Drache gegen den Wind. Wenn wir Angst vor Wörtern haben, wie sollen wir den Mut finden zu eigenen Gedanken?

 

Angelika Overath ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien ihr Roman „Ein Winter in Istanbul” (Luchterhand Literaturverlag).