MESOPOTAMIA NEWS DER „MENSCH LEBT DURCH DEN KOPF“ : DIE NEUROLOGISCHEN LANGZEIT- FOLGEN

Corona-Langzeitfolgen: Covid-19 im Kopf

Vergesslich, unkonzentriert oder sogar depressiv: Eine Corona-Infektion kann Spuren im Gehirn hinterlassen. Was über neurologische Schäden bekannt ist. – Von Tom Kattwinkel  DIE ZEIT –  25. Dezember 2020, 21:07 Uhr

Als Christian Hübner am Telefon von seiner Covid-19 Erkrankung erzählt, stockt er gelegentlich – manchmal fielen ihm mitten im Satz die einfachsten Worte nicht mehr ein, sagt er. Sein Kopf sei eben noch immer nicht der Alte. Dabei ist es knapp acht Monate her, dass sich der 40-jährige Familienvater und Altenpfleger mit dem neuartigen Coronavirus angesteckt hat, relevante Vorerkrankungen hatte er nicht. Rund zwei Wochen liegt Hübner um Ostern mit Gliederschmerzen, Fieber und Atembeschwerden zu Hause im Bett, während sich seine ebenfalls infizierte, aber unter anderen Symptomen leidende Frau um das knapp zweijährige Kind kümmert.

Die psychische Belastung bemerkt er erst, als es ihm körperlich langsam besser geht. Noch wochenlang leidet er unter Stimmungsschwankungen, fühlt sich depressiv und ist leicht reizbar. Heute, etwa acht Monate später, ist das emotionale Tief zwar überwunden, Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme sind aber geblieben. “Früher habe ich professionell Theater gespielt und ohne Probleme seitenweise Text auswendig gelernt. Heute muss ich manche Abschnitte häufiger lesen, um den Inhalt überhaupt zu verstehen”, erzählt er.

 

Mit seinen Erfahrungen ist der junge Familienvater nicht allein. Forschende am Londoner King’s College gehen davon aus, dass nach Covid-19-Erkrankungen häufig kognitive Defizite auftreten könnten. Zuvor hatten sie die Ergebnisse von 84.285 Intelligenztests ausgewertet. Dabei schnitten Teilnehmende, die an Covid-19 erkrankt waren, signifikant schlechter ab – auch nach leichten Verläufen. Die Ergebnisse liegen derzeit als vorveröffentlichte Studie vor und werden noch von unabhängigen Forschenden überprüft (medRxiv: Hampshire et al., 2020, Preprint). Wie aber lassen sich die vorläufigen Ergebnisse erklären?

Schon erste Fallberichte aus Wuhan in China – wo das neue Coronavirus im Winter 2019 erstmals unter Menschen aufgetreten war – legten nahe, dass eine Infektion mit dem Coronavirus das Nervensystem beeinträchtigen könnte. Neben Atemnot litten akut Erkrankte unter beispielsweise Kopfschmerzen und Verwirrtheit, oder neigten zu Schlaganfällen (Jama: Mao et al., 2020). Überraschend war das grundsätzlich nicht, da ähnliche Zusammenhänge bei früheren Epidemien mit Sars oder Mers beobachtet werden konnten, Erreger, die dem jetzigen Virus sehr ähnlich sind (Lancet: Ellul et al., 2020). Ähnlich, nur eben nicht gleich.

Neu war zum Beispiel, dass vier von fünf Betroffenen zeitweise nichts schmecken oder riechen können – für Letzteres gibt es mittlerweile eine Erklärung. Forschende der Medizinischen Hochschule von Harvard in Boston in den USA fanden heraus, dass bei einer Infektion mit dem Coronavirus nicht etwa der Riechnerv selbst, sondern bestimmte Zellen im Gewebe des Naseninneren geschädigt werden. Diese umgeben den Nerv und versorgen ihn unter anderem mit Nährstoffen. Die Erkenntnis ist eine gute Nachricht. Es ist nämlich davon auszugehen, dass sich diese Zellen innerhalb einiger Wochen erneuern und damit der Geruchssinn ohne Einschränkungen zurückkehrt.

Verwirrt und geistig abwesend

Welche anderen neurologischen Folgen ein Corona-Infekt haben kann –  und wir häufig das ist –
im Fall einer Infektion auftreten können, lässt sich mit wachsenden Fallzahlen etwas genauer sagen. In einer größeren Stichprobe von Patientinnen und Patienten, die in New Yorker Krankenhäusern behandelt wurden, lag der Anteil bei 13,5 Prozent. Am häufigsten beobachteten Ärztinnen und Ärzte Verwirrtheitszustände oder zeitweise Störungen des Bewusstseins, seltener auch Krampf- oder Schlaganfälle. Bei drei Personen traten vorübergehend Lähmungserscheinungen auf. Als Risikogruppe für solche Folgen der Covid-19-Infektion galten vor allem ältere Männer mit Vorerkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck (Neurology: Frontera et al., 2020).

Für die Bandbreite der Symptome gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Forschende fanden heraus, dass das Coronavirus Gefäßinnenwände angreifen kann und die Bildung von kleinen Blutverklumpungen begünstigt. Rauschen diese entlang der Gefäße ins Gehirn, können sie kleinere Äste verstopfen und einen Schlaganfall auslösen (Journal of Thrombosis and Thrombolysis: Fan et al., 2020).

Die Immunabwehr reagiert über

Komplizierter gestaltet sich die Frage, was bei einer Infektion im Gehirn selbst passiert. Schon länger ist bekannt, dass bestimmte Erreger, darunter auch Coronaviren, ins zentrale Nervensystem einwandern können (Advances in experimental biology and medicine: Desforges et al., 2014). Es wäre also denkbar, dass auch das jetzige Coronavirus ins Gehirn gelangt und dort Nervenzellen schädigt. Um das zu überprüfen, haben Pathologinnen und Pathologen am Hamburger Universitätsklinikum (UKE) 43 Gehirne von Verstorbenen, die Covid-19 hatten, genau untersucht.

Tatsächlich fanden sie das Virus in etwa jedem zweiten Gehirn (Lancet: Matschke et al., 2020). “Man geht aktuell davon aus, dass die Viren entlang von Nervenfasern, entweder über den Riechnerv oder ausgehend von der Lunge, ins Gehirn einwandern können”, erklärt Christian Gerloff, einer der Autoren der Studie und Direktor der Neurologie am UKE.

Es scheint aber nicht der Hauptmechanismus zu sein, dass die Viren direkt Nervenzellen im Gehirn schädigen. Die nachweisbare Menge sei ziemlich gering und zudem auf bestimmte Bereiche des Gehirns begrenzt, sagt Gerloff. Vielfältige neurologische Symptome, wie sie zum Beispiel in New York beobachtet wurden, ließen sich damit alleine nicht erklären. Etwas anderes fällt bei den Patienten und Patientinnen, die in Hamburg untersucht wurden, auf: In vier von fünf Gehirnen finden sich in Gewebeproben unter dem Mikroskop fast überall aktivierte Immun- und Entzündungszellen – auch dort, wo eigentlich gar kein Virus vor Ort ist.

Das spricht für eine anderen Mechanismus, der schon häufiger im Zusammenhang mit Covid-19 beschrieben wurde: Ein Überreaktion des körpereigenen Immunsystems. Übereifrige Immunzellen und Botenstoffe könnten Nervenzelle im Gehirn beschädigen. Dort wirken die Entzündungsprozesse auf umliegendes Gewebe zudem wie ein dauerhaftes Störsignal.

Denkbar wäre, dass eine solche Überreaktion auch bei weniger schweren Verläufen nach durchgemachter Infektion noch eine Weile in bestimmten Hirnarealen zu finden ist. Das wäre ein Erklärungsansatz für anhaltende Konzentrationsstörungen, wie sie Christian Hübner beschreibt. Die jetzigen Erkenntnisse seien bei aller berechtigter Sorge auch eine gute Nachricht, sagt Gerloff. Zwar gebe es ein Signal, dass auch nach leichten bis mittleren Verläufen zeitweise Denkschwierigkeiten auftreten könnten, aber: “Ich würde nach wie vor davon ausgehen, dass die nicht dauerhaft bleiben. Schließlich haben die Patienten keine strukturellen Hirnschäden, von denen wir wissen”, beruhigt der Mediziner.

Wie häufig die Denk- oder Konzentrationsstörungen nach durchgemachter Covid-19-Erkrankung insgesamt vorkommen und ob es gewisse Risikofaktoren gibt, lässt sich derzeit nicht beantworten. In der Post-Covid-Ambulanz am Universitätsklinikum Jena habe man bisher etwa 70 Patientinnen und Patienten betreut, die mit den Folgen ihrer Infektion zu kämpfen haben, schreibt Andreas Stallmach, Direktor der Klinik für Innere Medizin. Davon klagten rund 20 Prozent – teilweise auch nach leichten Verläufen – über meist leichte kognitive Defizite.

Neben der Neurologie zeigt sich in der Ambulanz noch eine andere Dimension der Erkrankung, die Psyche. Etwa zwei Drittel der Behandelten litten unter depressiven Verstimmungen, so wie auch Christian Hübner. Er erinnert noch gut an die quälenden Gedanken und Ängste. “Normalerweise bin ich ein Kontrollfreak”, erklärt er, “aber dieses Virus hat mir das Gefühl von Kontrolle komplett genommen. Du weißt weder, was es jetzt noch langfristig mit dir und deinem Körper machen kann, nur dass es keine wirkliche Therapie gibt.” Nachts habe seine Frau häufiger überprüft, ob er noch ausreichend Luft bekomme, weil die Atmung so schwach gewesen sei, berichtet der Familienvater und ergänzt: “Das macht etwas mit dir, das macht Angst.”

Schlafstörungen und Niedergeschlagenheit

Eine Analyse von Forschenden aus den USA zeigt, dass die Fälle aus Jena und Hübner keineswegs alleine stehen. Sie untersuchten, ob in den ersten drei Monaten nach überstandener Coronavirus-Infektion psychische Erkrankungen auftraten, und werteten dazu die Daten von mehr als 60.000 Infizierten aus – mit einem beunruhigenden Ergebnis. Gut 18 Prozent wurden im Beobachtungszeitraum psychiatrisch auffällig, 5,8 Prozent betraf es in ihrem Leben zum ersten Mal. Am häufigsten entwickelten Betroffene Angststörungen, Schlafstörungen oder depressive Verstimmungen (The Lancet: Taquet et al., 2020).

Aber ist wirklich der Virus selbst daran schuld? Ganz genau lässt sich das nicht sagen. Wahrscheinlich sei ein Zusammenspiel aus Umweltfaktoren und der Biologie, erklärt Stefan Borgwardt, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) in Lübeck. “Man weiß, dass viele psychische Erkrankungen mit dem Immunsystem zusammenhängen”, sagt er. Studien zeigen, dass Depressionen, Angststörungen oder Fatigue häufig mit Entzündungsprozessen des Nervensystems einhergehen (Frontiers in Immunology: Lee et Giuliani, 2019). Zwar sind genauere Mechanismen für Covid-19 noch nicht untersucht, das Bild würde aber zu den Beobachtungen aus Hamburg und den Beschreibungen eines überaktiven Immunsystems passen.

Ängste und die Isolation in der Pandemie kommen hinzu

Genauso könnten aber auch Auswirkungen der aktuellen Situation aufs Gemüt schlagen, erklärt Borgwardt. Ob es Angst um Gesundheit, Familie, Freunde oder sogar die wirtschaftliche Existenz ist – Ansatzpunkte gebe es einige. Auch übliche Bewältigungsstrategien funktionierten nicht wie sonst, sagt der Psychiater. “Vieles, was wir sonst Patienten mit Angststörungen oder Depressionen empfehlen, nämlich sich nicht sozial zurückzuziehen, Freunde zu treffen, wenig Onlinezeit zu haben, wenig Alkohol zu trinken und viel Sport zu treiben, ist momentan entweder nicht möglich oder fällt zumindest schwerer.” Deswegen gelte es, Bewältigungsstrategien auf die neue Situation anzupassen.

Das heißt: Anstelle des Glühweins auf dem Weihnachtsmarkt, trifft man sich mit seinem Heißgetränk virtuell per Video, bestenfalls alkoholfrei versteht sich. Oder man greift einmal mehr zum Telefon und hält auf diese Weise Kontakt zu Familie und Freunden. Genauso wichtig sei, auf sich selbst achtzugeben, sagt Borgwardt. Dazu gehört Bewegung an der frischen Luft, regelmäßiger Sport, ausreichend Schlaf und eine gesunde Ernährung. An der jetzigen Situation, so belastend sie für manche sei, könne man vorerst nichts ändern. Was in dieser Lage helfen könne, sei eine bewusste Akzeptanz zu leben, rät der Psychiater. Frei unter dem Motto: Es ist so, wie es ist, und ich mache das Beste daraus.

Manchmal helfen aber auch die besten Freunde und Ratgeber nicht weiter. Für den Fall gibt es mehrere Wege: Der einfachste und schnellste führt zur Hausärztin. Seit 2017 können Betroffene darüber hinaus auch ohne Überweisung einen ersten psychotherapeutischen Gesprächstermin unter der Rufnummer 116117 vereinbaren. Dort bekommen sie innerhalb von vier, in dringenden Fällen von zwei Wochen einen Termin. Am Ende hilft vielleicht noch ein Gedanke: Das Leben, wie wir es kannten, wird früher oder später zurückkehren. Bis dahin gilt es, auf sich selbst und andere zu achten, füreinander da zu sein und die Ausbreitung des Virus möglichst gemeinsam zu verhindern.

Wie kommen wir trotz Corona seelisch und körperlich gut durch die dunklen Jahreszeiten? Unser Schwerpunkt “Kopf hoch” widmet sich den Herausforderungen in diesem Winter.