MESOPOTAMIA NEWS : BANKROTT IN KURDISTAN IRAQ

In Kurdistan begehrt die Jugend gegen die Herrschenden auf

Wie ein Lehen haben die beiden grossen Kurdenparteien im Nordirak die Region und ihren Reichtum unter sich aufgeteilt. Die Verlierer sind die Jugendlichen, doch sind sie immer weniger bereit, dieses System des Klientelismus hinzunehmen.

Inga  Rogg, Jerusalem16.12.2020, 05.30 Uhr NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Bei den jüngsten Protesten wurde auch das Büro der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) in Suleimaniya in Brand gesteckt.

Die kurdische Regionalregierung in Erbil ist pleite. Schon seit Monaten kann sie die staatlichen Angestellten und Pensionäre nicht mehr voll bezahlen. Anfang des Monats reichte es den Lehrern in Suleimaniya, Tausende gingen in der zweitgrössten Stadt der Region auf die Strasse. Die Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion im Nordirak gingen daraufhin mit Tränengas, Gummigeschossen und teilweise mit scharfer Munition gegen die Demonstranten vor. Ein Dutzend Personen wurde getötet, die Lage bleibt angespannt.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich der Unmut über die ausbleibenden Gehaltszahlungen auf der Strasse entlädt. In den vergangenen drei Jahren haben Ärzte, Lehrer und andere öffentliche Bedienstete immer wieder gegen die Regierung protestiert. Wie im Rest des Landes ist der öffentliche Sektor in Kurdistan aufgebläht. Mindestens 1,3 Millionen Einwohner – mehr als ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung – verdienen ihren Lebensunterhalt beim Staat, Zehntausende beziehen Pensionen oder Hinterbliebenenrenten.

Streit um Öleinnahmen mit Bagdad

Kurdistan hat eine eigene Regierung, ein eigenes Parlament, eigene Sicherheitskräfte und eine eigene Justiz. Die Regierung und das Parlament des Iraks haben darauf keinen Einfluss. Auch in der Wirtschaftspolitik geht der Teilstaat eigene Wege. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 schlossen die Kurden mit internationalen Ölfirmen Verträge über die Erschliessung der Ölfelder im Nordirak ab, auch das an Bagdad vorbei.

Trotzdem ist die Regionalregierung von den Überweisungen der Zentralregierung abhängig. Ohne sie kann Erbil seine Angestellten nicht bezahlen. Vor sechs Jahren kam es zum Eklat. Nachdem sich die Kurden geweigert hatten, die Ölexporte über Bagdad abzuwickeln und die Einnahmen in den Haushalt des Gesamtstaats einzuzahlen, stellte die Zentralregierung ihre Zahlungen an Erbil ein. Seitdem haben die beiden Seiten den Konflikt mit Ad-hoc-Vereinbarungen immer wieder kurzzeitig entschärft, gelöst ist er aber bis heute nicht.

Die Corona-Krise hat den Konflikt erneut verschärft. Wegen des Verfalls des Erdölpreises sind auch Bagdads Kassen leer, mehrfach musste die Regierung von Mustafa al-Kadhimi Geld bei der Zentralbank aufnehmen, um ihre Ausgaben zu decken. Im August vereinbarte der Ministerpräsident mit den Kurden, dass sie die Einnahmen aus den auf 250 000 Fass pro Tag gedeckelten Ölexporten sowie die Hälfte ihrer Zolleinnahmen an die Zentralregierung überweisen. Im Gegenzug sollte Erbil monatlich rund 271 Millionen Dollar erhalten.

Politiker in Bagdad werfen den Kurden indes vor, ihren Teil der Vereinbarung nicht einzuhalten. Vergangenen Monat verabschiedete das irakische Parlament einen weiteren Nothaushalt, der von den Kurden den Transfer sämtlicher Einnahmen verlangt, bevor sie weitere Zahlungen erhalten. Nun wird verhandelt – wieder einmal.

KDP und PUK herrschen wie Lehensherren

Auch wenn die beiden Seiten auch dieses Mal wohl einen Kompromiss finden werden, wird er das grundsätzliche Problem nicht lösen: Der Generationenvertrag funktioniert nicht mehr. Nach dem harten Vorgehen der Sicherheitskräfte in Suleimaniya breiteten sich die Proteste in Windeseile auf rund ein Dutzend kurdische Städte aus. Diesmal waren es nicht die Angestellten, sondern deren Kinder, die auf die Strasse gingen. Um die Jahrhundertwende geboren, sind sie die Verlierer der Boomjahre nach dem Sturz von Saddam Hussein.

Wie ein Lehen haben die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von Masud Barzani und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) des inzwischen verstorbenen Jalal Talabani die Region und deren Reichtum unter sich aufgeteilt. Wer durch Kurdistan fährt, sieht auf den Bergen und in den Städten ihre Villen. Ihre Familien sind dick im Ölgeschäft, Grossaufträge schanzen sie ihren eigenen Firmen oder denen von engen Parteifreunden zu. Parlamentarische Kontrolle? Fehlanzeige. Die Oppositionspartei Goran, die vor einem Jahrzehnt grosse Hoffnungen auf Reformen weckte, ist inzwischen selbst Teil der Regionalregierung und von inneren Flügelkämpfen

Während die Barzanis, Talabanis und ihre hohen Parteifreunde immer reicher wurden und die Macht in Partei und Regierung vom Vater auf den Sohn oder den Neffen überging, finden die Jugendlichen keine Jobs und müssen erleben, wie ihre Väter nicht mehr wissen, wie sie die Familie durchbringen sollen. Die Wut der Jugendlichen entlud sich nun vor allem an der von der PUK kontrollieren Peripherie.

In Städten wie Kalar, Derbendikhan, Kifri, Chamchamal, Said Sadik oder Rania, alle berühmt für ihre lange Geschichte der Rebellion, steckten sie Parteibüros und öffentliche Gebäude in Brand. Die Sicherheitskräfte rückten mit Militärfahrzeugen an, die sie für den Kampf gegen die Extremistengruppe Islamischer Staat erhalten hatten, und schossen scharf. Zehn Demonstranten wurden getötet, der jüngste war gerade einmal 13 Jahre alt. Auch zwei kurdische Soldaten kamen ums Leben.

Gewaltsame Unterdrückung der Proteste

Ministerpräsident Masud Barzani erklärte zwar, friedliche Proteste seien ein Grundrecht, nannte die Unzufriedenen aber Randalierer und verbreitete Verschwörungstheorien. Hunderte von Demonstranten wurden festgenommen, unter ihnen auch Journalisten. Zudem durchsuchten Sicherheitskräfte den oppositionellen Fernsehsender NRT in Suleimaniya und machten ihn dicht. Drei weitere Sender warnte die Regierung davor, über die Unruhen zu berichten. Andernfalls müssten sie mit «schweren rechtlichen Konsequenzen» rechnen.

Angesichts des harten Vorgehens der Sicherheitskräfte sind die Proteste abgeflaut. Die kurdische Regierung hat Reformen versprochen. Doch die jungen Kurden haben das Vertrauen in das bestehende System verloren. Damit sie es zurückzugewinnen, müssten die Mächtigen ihre schon oft wiederholten Ankündigungen endlich umsetzen und den Privatsektor und die Rechtsstaatlichkeit stärken. Mit Versprechungen allein werden sie die unzufriedene Jugend auf Dauer nicht ruhigstellen können – auch nicht mit Repression.