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Hizbullah-Kritiker erschossen: «Er war ein streitlustiger Mensch mit klaren Prinzipien»

Der intellektuelle Publizist Lokman Slim war Schiit und ein scharfer Kritiker der proiranischen Schiitenmiliz Hizbullah in Libanon. Auch die Schweiz unterstützte seine Arbeit. Nun wurde der 58-Jährige kaltblütig ermordet.

Christian Weisflog Aktualisiert 04.02.2021, 18.01 Uhr  NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Ich hatte Lokman Slim vor zwei Jahren getroffen. Er holte mich im Stadtzentrum von Beirut in einem in die Jahre gekommenen Kleinwagen ab. Dann fuhren wir gemeinsam zu ihm nach Hause, in das vom schiitischen Hizbullah kontrollierte Stadtviertel Dahiye im Süden der libanesischen Hauptstadt. An einer Strassenkreuzung zeigte er mit dem Finger aus dem Fenster: «Sehen Sie, hier ist alles überwacht, überall Kameras.»

Der unerschrockene Hizbullah-Kritiker lebte umgeben von seinen Feinden, die wenig übrig haben für Freidenker wie ihn, der unter anderem das Existenzrecht Israels verteidigte. Gerade Dissidenten wie Slim aus der eigenen, schiitischen Glaubensgemeinschaft fürchtet «die Partei Gottes» am meisten. Trotz ständigen Drohungen kam für Slim ein Wegzug aus Dahiye, seinem Zuhause, nie infrage. Dies wäre für ihn einer Kapitulation gegenüber der islamistischen, repressiven und totalitären Ideologie des Hizbullah gleichgekommen.

Kampf gegen das Vergessen

Gemeinsam mit seiner deutschen Frau und Regisseurin Monika Borgmann veranstaltete Slim in seinem Haus Gesprächsrunden, Ausstellungen und Filmvorführungen. Gleichzeitig legte der Philosoph ein Archiv über die Greuel des libanesischen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 an, das vor allem auch das Schicksal der in syrischer Gefangenschaft verschwundenen Libanesen dokumentiert. Gemäss der Website seiner Nichtregierungsorganisation Umam wurden zuletzt aber auch Zeugnisse der im Oktober 2019 ausgebrochenen «Revolution» in Libanon gesammelt. Es gehe darum, die Lektionen aus der Vergangenheit an künftige Generationen weiterzureichen, um die Wiederholung der gleichen Fehler zu vermeiden, heisst es auf der Website.

International wurden Slim und Borgmann durch Dokumentarfilme bekannt. In «Tadmor» etwa spielen ehemalige Gefangene der gleichnamigen syrischen Haftanstalt ihre qualvollen Erlebnisse nochmals nach. Der Film wurde von der SRG mitproduziert. Auch die Schweizer Botschaft in Libanon gehört seit sechs Jahren zu den Sponsoren von Slims Organisation: «Die Schweiz unterstützt die digitale Dokumentierung und Archivierung einer breiten Palette historischer Quellen», sagt Botschafterin Monika Schmutz Kirgöz. «In Libanon gibt es keine gemeinsame Geschichtsschreibung, und die Bürgerkriegsvergangenheit wird erst seit kurzem explizit bearbeitet. Archive und Dokumentationen sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung.»

Ebenfalls eng mit Slim zusammengearbeitet hat Till Küster, der Nahost-Koordinator von Medico International. «Slim war ein streitlustiger Mensch und sehr herausfordernd in der Diskussion», sagt Küster im Gespräch. «Er hatte sehr klare Prinzipien und Vorstellungen, wie Libanon ein besseres Land werden kann. Und er hatte nie Angst, das öffentlich zu formulieren.»

Gerade in jüngster Vergangenheit nahmen die Drohungen gegen Slim jedoch zu. Nachdem Slim während der Massenproteste im Dezember 2019 an einer Gesprächsrunde auf dem Märtyrer-Platz über das aussenpolitische Konzept der Neutralität teilgenommen hatte, eskalierte die Situation. Die Anhänger des Hizbullah sehen in der Idee der Neutralität einen gedanklichen Schritt hin zur Normalisierung der Beziehungen mit Israel – ein absolutes Tabu für sie. Slim erhielt Todesdrohungen, Männer belagerten sein Haus und beleidigten ihn als «Verräter».

Mit Kopfschüssen ermordet

Am Mittwoch besuchte Slim einen Freund in Südlibanon, das mehrheitlich vom Hizbullah kontrolliert wird. Um halb neun Uhr abends macht er sich auf den Heimweg. Der 58-Jährige sollte nie in Dahiye ankommen. Er sei am Donnerstagmorgen in einem Mietauto gefunden worden, mit vier Kugeln im Kopf und einer im Rücken, berichtet «L’Orient Le Jour». Womöglich wird das Verbrechen aufgrund der korrupten Justiz in Libanon nie geklärt werden. Doch politische Morde an Kritikern des Hizbullah und der syrisch-iranischen Unterstützer ziehen sich wie eine lange blutige Spur durch die jüngere libanesische Geschichte.

Bei unserem Treffen vor zwei Jahren sprach ich mit Slim über Ayatollah Khomeinys islamische Revolution in Iran 1979, ihren Einfluss auf Libanon und den Aufstieg des Hizbullah. Die Mehrheit der Schiiten seien dem iranischen Revolutionsführer keineswegs zu Füssen gelegen, meinte er. Teheran habe seine Macht in Libanon mit Propaganda, finanziellen Anreizen und nackter Gewalt konsolidiert: «Die meisten Morde von Pro-Khomeiny-Kreisen in Libanon wurden an Schiiten verübt – unter ihnen nicht nur politische Aktivisten, sondern auch Philosophen und Dichter», erklärte mir Slim damals. Nun hat ihn wahrscheinlich das gleiche Schicksal ereilt.