MESOPOTAMIA CULTURE NEWS : DIE NEUEN SOUVERÄNISTEN / DER CARL SCHMITT AUS GÜTERSLOH – ULRICH SCHACHT : SELMAYR – Deutsche Profile eines Dritten Totalitarismus I

 

Jede totalitäre Herrschaft geht von einem neuen Menschenbild aus, es ist dies geradezu per defi­nitionem das Merkmal, das sie von den klassischen Formen der Zwangsherrschaft unterscheidet. Ihr revolutionärer Anspruch zielt nicht allein auf den Umbau des Staates; sie schreibt nicht nur neue Gesetze vor, fordert nicht nur neue Ordnungsprinzipien oder neue Formen des Zusammenlebens, sondern: den neuen Menschen. 

Joachim Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches

 

Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, >wie es denn eigentlich gewesen ist<. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augen­blick einer Gefahr aufblitzt.

Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen

 

Prolegomena

 Es ist wahr: Geschichte wiederholt sich nicht. Im Detail. Ebenso wahr ist, dass Geschichte wiederkehrt: im Prinzip. Denn Geschichte ist logisch: anthropo-logisch. Das heißt: menschenbedingt. Die Menschenbedingtheit der Geschichte jedoch ist ihre Natur. Dass es deshalb eine vom Menschen gemachte geben könnte, im Sinne ratio­naler Konstrukte finaler Fasson, wäre Gegen-Natur, ist irrationale Rationalitätsillusion, ist nur die Vorausset­zung ihrer Katastrophen. Je absichtsvoller Geschichte zu machen versucht wird, heißt das, um so katastrophischer  das Ergebnis: Ordnungs-Machwerke, taumelnd zwischen  Herrschaftsanarchie und Willkürherrschaft.  Un-Ordnung, bis sich Erschöpfung breitmacht.  

Nach Kriegen sprechen die Erschöpften von Frieden, nach Terrorzeiten von Freiheit. Frieden und Freiheit sind so, im szenischen Historienspiel, Kürzest-Pausen zwischen den mit Unglück beschriebenen Blättern der Geschichte, nach denen aufgespielt wurde, und jenen, auf denen zukünftige Glückszeiten nacherzählt werden sollen. Hegel zufolge bleiben sie weiß.

Es gebe keine geschichtlichen Lern-Orte, sagt Hegel auch noch. Seine Vernunft-Illusion widerspricht dem nur vordergründig, ist sie doch, dialektisch gefasst, zuletzt noch meta-geschichtlich zugeschliffen. Geschichte wird so zum dunklen Fortsetzungs-Roman einer Spezies, die sich erst vergriff und dann verwechselte: Nicht sie hat den Baum der Erkenntnis gepflanzt; noch weniger vermag sie Früchte zu ernten. Der Geschmack daran ist lediglich Erinnerung, seine Rekonstruktion synthetisch. Je weiter entfernt vom Ur-Ort die Versuchsreihe durchgeführt wird, umso künstlicher das Produkt, umso schädlicher seine Wirkung, umso vergifteter die Genießenden.

 Von ihnen ist hier die Rede. Sie sind unter uns. Aber ihre Gesichter lehren uns nichts. Oder nur, daß sie so aussehen wie wir. Was heißt das?

Das heißt, wie immer, daß die Gefahr groß ist; so groß wie immer heißt aber nicht unausweichlich. Die Ausweich-Bewegung, um die es hier  geht, immer wieder, ist keinen geschichtsprogrammatische  insofern, als sie sich selbst nichts verspricht, Zukunftshorizont hinein, aber erzählt. Geschichte ist ihr nicht progressives Praxis-Projekt, wohl aber retrospektive Geistesgegenwart: in Form von Geschichten. Worüber? 

 

Über selbstverschuldete Unmenschlichkeit, zum Beispiel. Also »Aufklärung über die Aufklärung«: nach Horkheimer und Adorno einzige Waffe gegen sie, nach ihrem Sieg, der geschichtliche Totalität Substanz ist, das Totalitäre Methode. Paradiesisches Endziel, verharmlost im Begriffs-Komparativ Rousseaus: »Gesellschaftsvertrag«, »Zivilgesellschaft«, »Zivilreligion«. Was bedeutet, um Menschenfreund­liches, wie suggeriert, geht es hier nicht. Es geht, spätestens seit Morus, um den Kampf zwischen Totalitären und Anti-Totalitären. 

Der eindeutigen Praxis ging immer die zweideutige Vision voraus: »Utopia«, sagt Vilem Flusser in seiner »Nach­geschichte« deshalb, Totalitätsträumereien dieser Art und ihre den Menschen nur immer wieder versklavende Ziel-Folgen aufklärend, ist das KZ. Das KZ aber, so Flusser weiter, eine Idee des Westens: sein Traum. Seine Erfüllung. Die ihn zur Praxis zu bringen versuchen, nennt er darum nicht Monster, nicht einmal Fanatiker, sondern Heroen, Idealisten, Künstler. Anders gesagt: Heroen, Künstler, Idealisten sind »Unbedingte«.  

Unbedingte dieser Art haben die Vernichtungs-Effizienz der Französischen Revolution garantiert, der bolschewistischen, der na­tionalsozialistischen: Intellektuelle Mehrzweckwaffen des jeweiligen Fortschritts- und Rettungsmodells, bewährten sie sich mit erstklassigen Durchgriffskonzepten aus der zweiten Reihe, nach den führenden Galionsfiguren, ihnen zuarbeitend im Rhythmus klandestiner Macht- und offener Berufungsteilhabe: in Stäben, Verwaltungszen­tren, Entwicklungsbüros, Forschungseinrichtungen.  

Nicht zuletzt aber auch in Liquidationskommandos, deren Befehlsvisionen sie zuvor in Texturen der Sachbezogenheit verwandelt haben, in vernichtungstechnische Bedienungs­anleitungen. Hinterzimmer-Utopisten, sie alle, sind sie zugleich intellektuell hochtourig und damit positions­bewegliche Praktiker des Perfekten wie Perfiden, Idee und Umsetzung amalgamieren in und mit ihnen ins Untrenn­bare: Die Welt als Wille und Vorstellung. Die wirkliche aber hat solchem Typus am Beginn des 21. Jahrhunderts eine fundamentale Erkenntnis zu verdanken: Fast oder lange unsichtbar, gibt es ihn unter jedem politischen Vorzeichen. Was oder wer ihm widerspricht, wird eliminiert: zunächst theoretisch, dann rhetorisch, schließlich gewaltsam.

Bevor die Gewalt physisch wird, entfaltet sie sich organisatorisch: Der totale büro­kratische Apparat, dem Kafkas Romane Das Schloß und Der Prozeß Sprachvision und politische Blaupause zugleich geworden sind, erscheint auf der Bildfläche der Geschichte: Die scheinzivilisierte Verhaftung Josef K.s widerspricht dem nicht, nur weil der hier gemeinte Dritte Totalitarismus nicht verhaftet wie einst Wohlfahrtsaus­schuss, GPU oder Gestapo zusammen. Sie entspricht ihm vielmehr, hat er doch eine Proteus-Natur, die Jaspers in »Im Kampf mit dem Totalitarismus« (1954) »uni­versal« nennt und zugleich erkennt als »die furchtbare Drohung der Zukunft der Menschheit in der Massenord­nung«, »losgelöst aller jener Politik, die durch Prinzipien nationalen, geschichtlichen, verfassungsmäßig-rechts­staatlichen Daseins bestimmt« sei.  

»Ihn zu durchschauen« wäre deshalb »nicht leicht«, sei er doch »wie eine Appa­ratur, die sich in Gang setzt, indem sogar die Akteure sie oft nicht mehr begreifen«. Die Fahnen aber, die über den Gebäuden seiner Apparate flattern, arbeiten heral­disch nach wie vor mit Sternen, wie einst mit Sonnen­rädern und technischen Motiven, von der Sichel bis zu Hammer, Spaten, Zahnrad und Feldhacke. Die flatternden Tücher vereinen so Himmel und Erde: Die Neue Ord­nung, vor ihrer Realisierung, beweist sich unübersehbar zuerst in ihren Symbolen. Ihre jeweils jüngste Realisation aber ist das jeweils neueste Projekt des Todes: im Namen endgültigen Lebens.

 Am 25. Februar 2013 erscheint in der Rubrik »Gegen­wart« der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein ganz­seitiger Aufsatz unter der geradezu biblische Dimensionen anreißenden Überschrift: »Der neue Bund«. Mitnichten aber zeichnet ein Theologe als sein Autor, sondern eine Politikerin. Sie stammt aus Luxemburg und ist zu diesem Zeitpunkt Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und EU-Justizkommissarin.  

Ihr Name: Viviane Reding, eine promovierte Humanwissenschaftlerin des Jahrgangs 1951, die es nach ihrem Studium an der Sorbonne in den heimischen Journalismus zieht, zur Tageszeitung Luxemburger Wort. Von 1986 bis 1998 ist sie Vorsitzende des Luxemburger Journalistenverbandes, schon seit 1979 aber sammelt sie quasi politische Positionen und Funktionen wie andere Briefmarken. Später wird sie von Romano Prodi entdeckt und Kommissarin für Bildung, Kultur, Jugend, Medien und Sport. Prodis Nachfolger

Barroso übernimmt die offenbar bewährte Multifunk­tionärin und macht sie zur Kommissarin für Medien und Informationsgesellschaft. In dieser Zeit setzt sie, nach einem Masterplan ihres Sprechers Martin Selmayr, durch populistische Gebührenmagie dem Projekt einer kon­tinentalen Kommunikationsfiktion zuarbeitend, die Senkung der EU-weiten Roaming-Gebühren durch. Das fällt auf und beflügelt ihre wie seine Karriere endgültig: 2010 erreicht Viviane Reding in der Kommission Barroso II die Position, die sie zur Zeit des Erscheinens des Auf­satzes »Der neue Bund« innehat. Ihr bisheriger Sprecher wird nun ihr Kabinettschef. 

Viviane Reding, öffentlich eher im Habitus einer biederen und zugleich arrivierten Geschäftsfrau klein­städtischen Formats auftretend, kennt der aufmerksame Zeitgenosse zu diesem Zeitpunkt ihrer Karriere aber kaum von visionären Texten, sondern vor allem von einer maßlos verleumderischen Attacke gegen Frankreich. Vor dem Hin­tergrund wachsender Roma-Slums in Paris waren diese mit polizeilicher Gewalt geräumt und die illegalen Be­wohner per Flugzeug in ihre Herkunftsländer Rumänien und Bulgarien abgeschoben worden. Angesichts solch völlig legitimer Ordnungsmaßnahme gegen eine wachsende Verwahrlosung und Kriminalisierung der betroffenen Stadtgebiete infolge der territorialexpansiven Anwendung des Schengen-Dogmas verglich die erst seit wenigen Monaten im Amt befindliche EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft den Vorgang indirekt mit NS-affinen Säuberungsaktionen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges.  

Zugleich regte sie ein Verfahren gegen die Französische Republik wegen der Verletzung des Grundsatzes des freien Personenverkehrs an. Der fak­tische Zustand vor Ort als Prämisse der polizeilichen Maß­nahme wie auch die scharf umrissene Verursachergruppe selbst hatten im ideologischen Konzept der Kommis­sarin keine Relevanz, allein die vertragliche Rechts­abstraktion und ihre totalitär anmutende Auslegung zählten. Die unhinnehmbare Beschädigung der Lebens­qualität der betroffenen Pariser Bürger sowie anhaltende Missachtung der nationalen Gesetzgebung durch die illegale Besetzerpraxis waren offenkundig nachrangig zu gewichten gegenüber einer möglichen Beschädigung der EU-Freizügigkeits-Utopie und ihrer Verfassungs-­Fiktion, die im Kern einer rein ökonomistisch basierten Verflüssigungsideologie aller Welt- und Lebensverhältnisse folgt. Frankreich weist die Attacke scharf zurück; die Justizkommissarin räumt ein Missverständnis ein. Sie hat sich, was das französische Souveränitätsbewusstsein betrifft, verkalkuliert.

 I I 

Verkalkuliert hat sich damit vor allem aber ein anderer, ist diese Kommissarin aus Luxemburg doch im Zusammen­hang mit ihren EU-rechtsdogmatischen Auf- und Ausfäl­ligkeiten, was zu diesem Zeitpunkt offenes Geheimnis ist und die FAZ später von einem »geradezu symbiotischen Verhältnis« der beiden sprechen lässt, primär die Stimme ihres Herrn — auch wenn der, dem sie sie leiht, rangmäßig unter ihr steht.  

Sein Name: Martin Selmayr, ihr Kabinetts­chef. Ein in Passau promovierter deutscher Jurist des Jahr­gangs 1970, gebürtiger Bonner, hochbegabter, polyglotter Spross einer Familie mit hohen Offizieren im Range von Wehrmachts- und Bundeswehrgenerälen. Einer der Groß­väter war erster Chef des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), der Vater Ministerialbeamter in Verteidigungs­ministerium und Kanzleramt.  

Im von ihm selbst bearbei­teten Wikipedia-Eintrag bekennt Selmayr seine politische Nähe zur CDU, ohne Mitglied zu sein. Lange nur Insidern ein Begriff, ist er seit kurzem europaweit, wenn nicht weltbekannt, genauer: seit seiner »Blitzernennung« am 1. März 2018 zum Generalsekretär der Europäischen Kommission und damit zum Chef der zentralen EU-Verwaltungsbehörde in Brüssel, die mit Hilfe einer geradezu korruptiv hoch bezahlten Beamtenschaft, der über 30.000 ideologisch auf Supranationalismus programmierte Kader angehören, mehr als 500 Millionen Europäer in 28 Mitgliedsstaaten wirtschafts-, währungs- und rechtspolitisch nicht nur anzuleiten und zu kontrollieren, sondern zugleich zu einem einheitlichen Staatsvolk umzuformen versucht.  

Formalrechtlich nicht anfechtbar, ist der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des Deutschen Martin Selmayr, nach etlichen, zum Teil parallelen Zwischenstationen im universitären Bereich wie im internationalen Bankensektor, zum mächtigsten EU-Beamten vom EU-Parlament jedoch empört kritisiere worden, weil zwischen der Berufung vom stellvertretenden zum Generalsekretär am 21. Februar 201E nur wenige Minuten vergingen. In einer aus gegebenen Anlass durchgeführten Pressekonferenz spricht der

französische Journalist Jean Quatremer (Liberation) von einem »brillant ausgeführten Putsch«, der »dem deutschen Bürokraten fast totale Kontrolle über die Maschinerie gegeben« habe. 

Diese monströse Verwaltungs-Maschinerie zu Brüssel könnte, was seine organisationsmorphologische Erschei­nung wie ideologische Ziel-Effizienz betrifft, als eine Art Organisations-Amalgam aus dem Revolutionsungeist des Büros der Kommunistischen Internationale (KI) im seiner­zeitigen stalinistischen Moskau und dem des Reichs­sicherheitshauptamts (RSHA) im nationalsozialistischen Berlin identifiziert werden.  

Jedenfalls trifft auch auf sie zu, was Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955) den »Organisationsformen totalitärer Bewegungen«, neben einer »beispiellosen Originalität«, als antriebiges Arbeitscharakteristikum zuschrieb: »Sie haben die Aufgabe, die zentrale ideologische Fiktion um die das Lügengespinst der Propaganda jeweils neu gewoben wird, in die Wirklichkeit umzusetzen und in der noch nicht totalitären Welt Menschen so zu organisieren, daß sie sich nach den Gesetzen dieser fiktiven Wirklichkeit bewegen.«  

Martin Selmayr, nun im Zentrum einer solchen extrem bedrohlichen Macht-Maschine, diente zuvor über drei Jahre lang EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als Kabinettschef, dessen Wahlkampfleiter er ebenfalls gewesen war. Mit ihm schaffte er, was ihm mit Viviane Reding, hinter der er ein volles Jahrzehnt in verschiedenen Positionen agierte, noch misslungen war. Doch blieb er nach deren Abgang als Kommissarin offenbar geradezu gestärkt im Spiel und damit, wie schon zuvor, die graue Eminenz hinter der führenden Figur, das strategisches Gehirn auch seines neuen Dienstherrn. 

III 

Wer ist dieser Mann, wo kommt er her, was ist sein Ziel, was denkt er? Und welchen Totalitätsfuror wird die Behörde nun entfachen, an deren Spitze er jetzt das letzte Wort hat, mit achtundvierzig Jahren und einem Ruf, der in den Medien zwischen »Rasputin«, »Monster« und »Machiavelli« changiert, denen vielfach kolportierte Charaktereigenschaften und Handlungsstärken wie intellektuelle Brillanz, schier unschlagbare Faktenkom­petenz, rüdeste Machtattitüden und -machinationen kongenial entsprechen.  

Mit solchem Vermögen gleicht er auf frappierende Weise zahlreichen Vertretern jener »Generation des Unbedingten«, die der Historiker Michael Wildt in seiner bahnbrechenden Arbeit über das »Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes« als systemisches Phänomen rekonstruiert und den militant-revolutionären Teil einer »kämpfenden Verwaltung« iden­tifiziert hat, die »der weltanschaulichen Unbedingtheit eine adäquat entgrenzte Struktur bot«. Der jugendliche und zugleich hochintelligente bis intellektuelle Typus, vom Juristen über den Historiker, Germanisten, Mediziner bis zum Zeitungswissenschaftler, dem hier politisch wie mora­lisch fast uferloser Entfesselungsspielraum geboten wurde, der schließlich in den ungeheuerlichen Abgrund von Massenmord und Selbstzerstörung führte, war jung »nicht im Sinne des üblichen Generationenkonflikts, sondern als Entwurf einer neuen Welt, die aus dem Zusammen­bruch der alten den Appell wie die Unbedingtheit ihres Anspruchs begründete«. 

Das entscheidende Zeugnis des Denkens von Martin Selmayr, neben seiner Passauer Dissertation Die Ver­gemeinschaftung der Währung, dürfte jenes von ihm mindestens inspirierte, wenn nicht gar ausformulierte visionäre Papier sein, das unter dem Namen Viviane Redings in der FAZ erschien und im Kern die angriffs­operativ angelegte Generalklage verbreitet: »Es ist auf das historische Zusammentreffen von Neoliberalismus und Nationalstaatssouveränismus zurückzuführen, dass in Maastricht nicht die Vereinigten Staaten von Europa geschaffen wurden, sondern nur eine unvollendete Union.«

 Deshalb sei es »an der Zeit den Begriff der Vereinigten Staaten von Europa wiederzubeleben«, bräuchten wir doch »eine klare, ambitionierte Vision für die Zukunft unseres Kontinents, für ein starkes und demokratisches Europa, das sehr viel mehr ist als nur ein großer Markt und eine stabile Währung«. Dass die vorgebliche Autorin in ihrem Text das Modell der Ver­einigten Staaten von Amerika im selben Atemzug relativiert und anpreist, dass sie das Endziel des EU-Projekts, einer Einheit von Währungs- und Politischer Union, mit Hilfe des anachronistisch auf das deutsch-französische Ver­hältnis fixierte Kriegserinnerungs-Pathos Helmut Kohls sowie einer archivarischen Friedens-Rede Victor Hugos zu legitimieren versucht, dass sie den Neoliberalismus am Beispiel der Briten nicht ganz unzutreffend kritisiert, zugleich aber wie selbstverständlich den »Fiskalpakt […] in

die EU-Verträge« zu überführen wünscht — all das sind nur einige der variierenden Motive in einem dialektischen Ver­wirrspiel, um der in den Einleitungssätzen zugegebenen »aktuellen Schulden-, Finanz- und Legitimitätskrise Europas« durch eine aberwitzige Flucht nach vorn zu ent­kommen, auf breitest möglicher Gesinnungs-Front, dazu ideologisch frivol aufgeladen durch Schein-Besorgtheit, was die Interessen der EU-Bürger betrifft, an deren Ende allerdings etwas steht, das die »Geschichte der totalitären Demokratie«, wie sie in Jacob L. Talmons gleichnamigem Werk am Beispiel der jakobinischen, bolschewistischen und nationalsozialistischen Revolution rekonstruiert wurde, nur um die neueste Version anreichern würde: 

 »Die Herrschaft der ausschließlich und alles lösenden Doktrin der totalitären Demokratie läuft den Lehren der Natur und der Geschichte zuwider. Natur und Geschichte zeigen die Zivilisation als die Entwicklung einer Vielheit von historisch und pragmatisch entstandenen Zusammen­stellungen des sozialen Daseins und sozialen Strebens, nicht als eine Errungenschaft des abstrakten Menschen auf einer einzigen Daseinsebene.«

 

IV 

Allerdings findet sich diese Pointe tendenzanalog mit­nichten in Redings Texi, der sich vor allem mit Rettungs­pathos tarnt, sondern in Selmayrs schon erwähnter, publizierter Dissertation Das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion Europas. Erster Band: Die Vergemein­schaftung der Währung (Baden-Baden 2002).  

Hier spricht der Autor, trotz des fiskalpolitischen wie geld­geschichtlichen Hauptnarrativs, machtpolitisch Klartext: Der »Übergang zum Euro« ist ihm nicht nur ein »his­torisch beispielloser Schritt auf dem Weg der europäischen Integration«, sondern die daraus resultierende Währungs­- und Wirtschaftsunion ein Akt geradezu »kultureller Revolution«.

 Da die »Einführung des Euro« jedoch »nicht durch die parallele Begründung einer Politischen Union — etwa in Gestalt der Vereinigten Staaten von Europa —begleitet« wurde, die Wirtschafts- und Währungsunion Europas deshalb eines »stabilen politischen oder gar staatlichen Rahmens« ermangele, könne sie sich zuletzt nur auf die »rechtliche Grundlage« verlassen, wie sich »die Verrechtlichung dieser Vorgänge« überhaupt »als das eigentliche Erfolgsrezept« der EG bezeichnen lassen könnte.

 

Aus dieser geschichtsprozessualen Bewegung, tarnlako­nisch zur Sprache gebracht, die tatsächlich aber die Beset­zung fremden Territoriums durch die Invasion einer Paragraphen-Armee organisiert und im Gefolge einen Rechtskodex zum Besatzungsstatut degradiert, ergibt sich für Selmayr so etwas wie ein souveränitätsvernichtender Fundamentalsyllogismus.

Recht ist in seinen Augen reines Liquidationsinstrument, er selbst mutiert dabei, ausrottungsbereit, zum kalten Feind nationalstaatlicher Souveränität: »Mehr noch als sonst im Gemeinschafts­recht ist vom Rechtsanwender im WWU-Recht verlangt, sich von seinem nationalen Vorverständnis zu lösen und Rechtstexte nicht nur in ihren unterschiedlichen Sprach­fassungen zu lesen, sondern stets im Einklang mit den das gesamte WWU-Recht durchziehenden Zielbestimmungen zu verstehen.« Vor solchem Hintergrund aber ist ihm der Vertrag von Maastricht »ein Paradigmenwechsel, da er die WWU nicht in die intergouvernementalen Pfeiler der EU, sondern in deren vergemeinschaftlichten Kern integriert und damit ausnahmslos supranationalem Recht unterworfen« habe.

 

Selmayrs im Kontext oft gebrauchte »Unterwerfungs«- Begrifflichkeit spiegelt die offen totalitäre Konsequenz seines Denkens: »Qualitative Neuerungen für die Rechts­natur der Europäischen Gemeinschaft ergeben sich im übrigen aus der Verankerung der >Unumkehrbar­keit< und >Unwiderruflichkeit< der WWU im primären Gemeinschaftsrecht, denn diese erfordern eine Neube­wertung der Diskussion um die Mitgliedsstaaten als >Herren der Verträge<.«

 

An diesem Punkt wird klar, dass Selmayr, was die Souveränität der EU-Mitgliedsstaaten betrifft, in scheinrechtlich abgesicherten Staatsstreich­kategorien denkt, analog zur seinerzeitigen »Theorie von der begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten«.

 

Das Gemeinschaftsrecht, konstatiert er apodiktisch, habe mit dem Euro »einen Politikbereich vollständig aus dem nationalen Zusammenhang« herausgelöst, um ihn »aus­schließlich auf Gemeinschaftsebene anzusiedeln«. Die Gemeinschaftswährung betreffe so »erstmals einen Kernbereich der Staatlichkeit«. Ihre Absicherung durch Gemeinschaftsrecht aber bedeute wiederum den »Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem Recht der Mitglieds­staaten kraft seiner Unmittelbarkeit und seiner Auto­nomie gegenüber den nationalen Rechtsordnungen». Das »Auslegungsmonopol« für das Gemeinschaftsrecht jedoch habe allein der Europäische Gerichtshof, »die nationalen Gerichte« seien »nicht befugt, Handlungen der Gemeinschaftsorgane für ungültig zu erklären«. »Nach der Rechtssprechung des EuGH« schließlich käme »im Kollisionsfall dem Gemeinschaftsrecht Vorrang vor jeder Art von nationalem Recht zu«, auch wenn es sich dabei »sogar uni die Verfassung selbst« handele. Das expandierende EU-Recht als ebenso offene wie transgressiv angewandte Staatsstreich-Technik.

 

Großbritannien ist dieser eliminatorischen Logik durch Austritt entkommen, Polen und Ungarn wehren sich noch. Was Polen betrifft, so ist der einstige Sklavengebiets-Status als »Generalgouver­nement« tief in der erinnerungspolitischen DNA verankert.

 

V

 

Martin Selmayr, momentan zweifellos der Hauptvertreter einer neuen europäischen »Generation des Unbedingten«, dürfte allerdings mehr antreiben als nur die persönliche Leidenschaft für grenzüberschreitende juristische Jahr­hundertkonstruktionen invasiven Charakters — auch ihn, heißt das, dürfte zuletzt ein ideologisches Motiv beherr­schen, die flirrende Utopie einer Vernichtungs-Schöpfung, der er furchtloser Herold und dienendes Instrument zugleich sein will: ein Unbedingter. Elite. Avantgarde.

 

Aber woher könnte sie stammen, worauf könnte sie wirk­lich zielen? Da es für eine klare Antwort starke Indizien gibt, muss die Frage nicht mit Spekulationen beant­wortet werden. Das erste Indiz ist Selmayrs letzte Tätig­keit, bevor er in den Dienst der Brüsseler Superbehörde eintrat: Von 2001 bis 2004 leitete er die EU-Vertretung

der Bertelsmann AG in Brüssel, deren Stiftungsrat heute auch Viviane Reding angehört.

 

Das zweite ist der Palimpsest-Charakter jenes Textes mit Namen »Der neue Bund«. Er ist die Überschreibung eines ganzen Buches, das 1923 erstmals erschien: Pan-Europa. Sein Autor: Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi.

Der österreichische Adelsspross und Diplomatensohn mit japanischer Mutter wurde 1894 in Tokio geboren und starb 1972. 1924 gründete er die Paneuropa-Union, der er 1923 sein gleichnamiges Programm in Buchform auf einem Schloss in Österreich schrieb und für die er bis in die fünfziger Jahre europaweit prominente Politiker als Aushängeschilder gewann.

 

Zur selben Zeit verfasste ein anderer Österreicher ebenfalls ein programmatisches Buch, in deutscher Festungshaft, nach einem gescheiterten Putsch. Es hieß: Mein Kampf sein Autor: Adolf Hitler. Beide Bücher sind verhängnisvolle Textemanationen geopolitisch und geschichtsphilosophisch dilettierender Männer, die auf die Katastrophe des Ersten Weltkrieges sektiererisch antworteten, obskurantistisch, aber zugleich quasi seitenverkehrt in ihrer eliminatorischen Ziel­vorstellung, die beiden zur Zwangsvorstellung wurde:

 

Wollte Hitler die Welt durch ein exklusives Aus­löschungsverfahren gegen alles Nicht-Arische »retten«, womit als Eliminationsobjekt vor allem Juden gemeint waren, proklamierte Coudenhove-Kalergi die geschicht­liche Enderlösung zum weltallgemeinen Guten durch einen inklusiven Völkervermischungsprozess, mit dem das Verschwinden des Nationalstaats parallel gehen sollte und das so vereinte Europa in Form »Vereinigter Staaten« einer von fünf angeblich existierenden globalen Macht-Blöcken werden: ohne Großbritannien, aber mit allen dazugehörigen seinerzeitigen westlichen Kolonien. Der so angezielte »Mensch der fernen Zukunft« würde »Mischling sein«, Vertreter einer »eurasisch-negroiden Zukunftsrasse«. »Äußerlich der altägyptischen ähnlich«, würde so »die Vielfalt der Völker durch die Vielfalt der Per­sönlichkeit« ersetzt. Seine Homogenisierungsphantasien durch totale Verschmelzungsprozesse korrelieren politisch schließlich mit einer Art elitärem Ständesystem, war es ihm zufolge doch »ein weitverbreiteter demokratischer Irrglaube, daß jede Nation zu allen Zeiten frei ist in der Wahl zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Freiheit und Staatstotalität«. Diese Art »kindischer Auf­fassung« übersehe, »daß es im Staatsleben Augenblicke« gebe, »in denen der subtile und komplizierte Staatsapparat der Demokratie einfach nicht mehr funktioniert und durch robustere Regierungsmethoden ersetzt werden« müsse (Totaler Mensch — Totaler Staat, 1937).

 

Dass Coudenhove-Kalergi Mussolinis Staatsver­ständnis eine Menge Rechtfertigung abgewinnen konnte, kann darum kaum überraschen. Der Linzer Sozial- und Wirtschaftsgeschichtler Michael Pammer spricht aus solchen und weiteren Gründen der Paneuropa-Bewegung »sektenartigen« Charakter zu und den Schriften ihres Gründers »Ideen, die einem >Neoaristokratismus< zuzu­ordnen« seien (Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary, Bd. 9, 2012).

 

 1950 erhält Coudenhove­Kalergi den ersten Internationalen Karlspreis zu Aachen und verkündet in seiner Dankesrede die »größte Hoffnung unserer Tage: die Vereinigten Staaten von Europa«. Sechzig Jahre später nimmt die seit 2005 amtierende Bundeskanz­lerin Angela Merkel den Coudenhove-Kalergi-Europapreis der Coudenhove-Kalergi-Stiftung umstandslos an und bekundet aus gegebenem Anlass, die Auszeichnung sei ihr Ansporn, mit ihrer Arbeit für Europa engagiert fort­zufahren. In dieser Arbeit wird sie seit langem, besonders in Krisensituationen wie der illegalen Einschleusung arabischer und nordafrikanischer Migrantenmassen seit Herbst 2015 durch den deutschen Staats- und Regierungsapparat, von Martin Selmayr unterstützt und von der Bertelsmann Stiftung in Gestalt von Konzern­chefin Liz Mohn nachhaltig inspiriert. Zuletzt fiel das zur Bertelsmann AG gehörende Gütersloher Verlagshaus, einst editorischer Ort hochqualifizierter christlicher und theo­logischer Literatur, darunter der Werkausgabe Dietrich Bonhoeffers, mit einer Umbenennung seines namens auf.

 

Es firmiert jetzt unter dem Logo Gütersloher Verlagshaus –  Die Vision einer neuen Welt“.

 

Die psychedelisch-bunten Saisonkataloge heißen fortan einheitlich »Zukunftsfreude«. Die darin angebotenen Bücher sind fast ausnahmslos entsprechende Propagandaliteratur.  Im Eröffnungskatalog »Frühjahr/Sommer 2017“ wird  »Zukunftsfreude als Markenkern» des neuen Verlagshauses  definiert, das »die Freude am Leben mit der Vision einer neuen Welt« verbinde.

Im ideologischen Präsens lautet die Botschaft: »Wir leben in einer Gesellschaft der offenen  Arme: Toleranz und Vielfalt bereichern unser Leben. Wir wissen, wer wir sind und wofür wir stehen. Deshalb haben wir keine Angst vor unterschiedlichen Weltanschaungen .  Im Verlagshaus zu Gütersloh, heißt das, hat Coudenhove- Kalergi schon gesiegt. Mit dem ehemaligen Bertelsmann  Botschafter in Brüssel Martin Selmayr arbeitet die neueste  »Generation des Unbedingten«, nicht zuletzt auch mit »robusteren Regierungsmethoden«, im machtpolitischen c Zentrum des Projekts Tag und Nacht daran, dass Deutschland, Europa und am Ende die ganze Welt so schön werden, wie sie schon jetzt in den neuesten Katalogen des Gütersloher Verlagshauses zum Vor-Schein kommt.

 

TUMUT 2018 SOMMER

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