MESOPCULTURE : DIE PSYCHOANALYSE DES ISLAM – UNTERSUCHUNGEN VON OLIVIER ROY & FETHI BENSLAMA – NEUE BÜCHER – Von Susanne Schröter

 Es nicht um Glauben & Religion sondern um Durchsetzung + Eroberung / Also auch nicht um Religionsreform

Der Umstand, dass junge Muslime es für die Erfüllung ihres Lebens halten, Men­schen, die sie nicht kennen und die ih­nen kein Leid angetan haben, mit einem Auto zu überfahren, mit Äxten zu zerha­cken oder mit Sprengstoff in Stücke zu reißen, ist erklärungsbedürftig. Insbeson­dere wenn es sich um Jugendliche han­delt, die in Europa geboren und aufge­wachsen sind und keine traumatisieren­den Kriegserfahrungen besitzen.

Beunru­higend ist, dass die Angriffe auf Fahrgäs­te öffentlicher Verkehrsmittel, auf Pas­santen in Fußgängerzonen, auf Besucher von Musikveranstaltungen, auf Kunden von Supermärkten und in Finnland auch auf eine einen Kinderwagen schiebende Mutter explizit im Namen des Islams durchgeführt wurden. Dass die Täter ih­ren eigenen Tod nicht nur in Kauf neh­men, dem geradezu anstreben, verstört zusätzlich. Warum radikalisieren sich junge Muslime in der beschriebenen Form? Was treibt sie um, und was wollen sie? Die Wissenschaft hat bislang drei Er­klärungsansätze vorgelegt, die nicht un­bedingt kompatibel sind. Der erste be­hauptet, der Islam habe ein intrinsisches Gewaltproblem und müsse sich grundle­gend reformieren, um potentiellen Atten­tätern die Legitimationsgrundlage zu nehmen. Der zweite unterscheidet zwi­schen Islam und Islamismus, wobei Letz­terer als radikale Sonderform einer im Normalfall friedlichen Religion definiert wird. Der dritte versucht, Gründe jen­seits der Religion zu identifizieren, und behauptet, der Islam werde von Extre­misten lediglich als wohlfeile Maske missbraucht, hinter der sich ganz andere Motive verbergen.

Der französische Politologe Olivier Roy hat sich einen Namen als Vertreter der letzten These gemacht und stets be­kundet, der Terrorismus sei keine Folge

Olivier Roy: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod”. Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors. Aus dem Französischen von Christiane Seiler. Siedler Verlag, München 2017. 176 S., geb., 20,— €

Fethi Benslama: „Psychoanalyse des Islam”. Aus dem Französischen von Monika Mager und Michael Schmid. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017. 352 S., geb., 30,— €.

der Radikalisierung des Islams, sondern der Islamisierung der Radikalität. Er wurzele im Wesentlichen gerade in der Entfremdung der Muslime von islami­schen Traditionen. In seinem neuen Buch, das im Französischen den schlich­ten Titel „Le djihad et la mort” trägt, in der deutschen Übersetzung durch die Verwendung eines berühmten Zitats des Al-Qaida-Führers Abu Dudschan al-Af­ghani aber einen deutlich dramatische­ren Titel erhalten hat, führt er diesen Ansatz erwartungsgemäß weiter. An­hand der Biographien von Attentätern zeigt er, dass diese sich zu Lebzeiten we­nig um die Normen ihrer Religion ge­schert hatten, dass sie Alkohol und Dro­gen konsumierten, Freundinnen hatten und kriminell wurden. Zudem sei ihre re­ligiöse Bildung wenig fundiert gewesen. Vielmehr versuchten sie, sich in der Öf­fentlichkeit als Superhelden zu präsen­tieren und als ultimative Rächer einer er­niedrigten islamischen Weltgemein­schaft aufzuspielen.

Das sozialrevolutionäre Argument der Dschihadisten sei jedoch konstruiert. Man beziehe sich nicht auf reale Miss­stände, sondern montiere Bilder zu einer fantastischen Geschichte. Unüberseh­bar, so Roy, seien Anleihen bei Compu­terspielen, scheine ein medienaffiner Narzissmus auf, der selbst den Tod auf der Ebene eines Spiels inszeniert. Zen­tral sei der Nihilismus der Terroristen, die Gewalt nicht mehr als Mittel zur Er­reichung eines Zieles, sondern als ultima­tives Ziel an sich verstünden. Roy spricht von Psychopathen und Todessüchtigen, die in der Ideologie des IS lediglich die passende Rahmung für ihre Aktivitäten finden. Der suizidale Mässenmörder sei aber keine genuin islamistische, sondern vielmehr eine „höchst zeitgemäße” Erscheinung, meint Roy und verweist auf Amokläufer ohne ideologische Fundie­rung — wohl wissend, dass dieses Argu­ment schnell zu Beliebigkeit und theore­tischer Unschärfe führen kann.

Roy verortet sein Buch innerhalb ei­ner Kontroverse. Bereits im ersten Kapi­tel nennt er seine wichtigsten Kritiker: den Islamwissenschaftler Frafflis Bur­gat, der Roy vorwirft, die politischen Ursachen des Dschihadismus zu vernach­lässigen, und den Sozialwissenschaftler Gilles Kepel, der ihn beschuldigt, die ge­genwärtige Radikalisierung des Islams auszublenden. Beiden kommt er nun ent­gegen und versucht, die Einwände in sei­ne eigene Theorie zu integrieren, um sie im letzten Kapitel allerdings neuerlich zu­rückzuweisen. Der Erfolg des IS bestehe darin, so sein Fazit, dass er mit der Angst des Westens vor dem Islam spiele. Dabei gäbe es diesen gar nicht.

Die Umma, die islamische Weltgemeinschaft, sei näm­lich „bestenfalls ein frommes Gebilde und schlimmstenfalls eine Illusion”. Wie der Linksextremismus, der untergegan­gen sei, weil er das internationale Proleta­riat nicht gefunden habe, so werde sich auch der islamische Extremismus irgend­wann auflösen, prophezeit er, weil er die Uroma nicht finde.

Wem diese Schlussfolgerung zu opti­mistisch oder zu wenig islamwissen­schaftlich fundiert erscheint, dem sei zu­sätzlich die Lektüre des Buchs von Fethi Benslama empfohlen. Benslama ist wie Roy einer der international renommier­ten Experten auf dem Gebiet der Erfor­schung des Dschihadismus. In Deutsch­land ist er allerdings , noch wenig be­kannt, was vielleicht an seinem weniger eingängigen Schreibstil liegt. Die Bücher von Roy erschließen sich auch dem Lai­en ohne Mühe und lassen sich fast „ne­benbei” lesen. Benslama lädt dagegen den Leser zu einer Entdeckungsreise ein und führt ihn in Sphären der Theorie, Poesie und Theologie. In „ Psychoanaly­se des Islam” verbindet er diese Bereiche in Form von Geschichten, die an Schehe­razade in “Tausendundeiner Nacht” erin­nern, der im Buch auch eine erzähleri­sche Schlüsselrolle zukommt.

Anders als in seinem vor kurzem auch auf Deutsch erschienenen Buch „Der Übermuslim”, in dem er sich wie Roy speziell mit den Hintergründen für dschihadistische Gewalt befasst, spannt Benslama jetzt einen weiten Bogen VQM Islamismus, der Ideologie, die, seiner Auffassung nach, dem Dschihadismus zugrunde liegt, zum Islam. Beide stün­den in einem nicht endgültig geklärten Verhältnis zueinander. „Der Islamismus ist sicher nicht der ganze Islam”, schreibt er, „aber man kann ihn auch nicht als bloße Abirrung abtun.” Er sei, führt er mit einem Verweis auf Hannah Arendt aus, die „islamische Version der Krise der Moderne”, die „alle Merkmale einer totalitären Massenideologie auf­weist”.

In weiten Teilen liest sich das Buch als erhellende Studie über die missglückte Modernisierung in der islamischen Welt, die dieser von außen aufgenötigt, jedoch niemals selbständig angeeignet, ge­schweige denn weiterentwickelt wurde. „Man kann sagen”, schreibt Benslama, “dass sich die Modernisierung ohne die dafür notwendige Kulturarbeit ereignet hat.” Im Sinne Freuds versteht Benslama Kultur als vermittelnde Instanz zwischen dem Subjekt und dem Kollektiv. Das Feh­len dieser Vermittlung und das eher mi­metische Nachahmen der Moderne durch die herrschenden Eliten hätten zu einem Prozess der Entsubjektivierung breiter Massen der Bevölkerung in den is­lamischen Ländern geführt.

Die Scham, „als Subjekt abgedankt” zu haben, habe den Boden für eine Re­gression bereitet, die als Sehnsucht nach dem Ursprung verstanden werden kön­ne. Die Obsession einer reinen und voll­kommenen Vergangenheit, eines golde­nen Zeitalters des Islams, treibt Islamis­ten bekanntermaßen um, und sie steckt in der Konstruktion der Salaf, der from­men Altvordern, die Salafisten zu ultima­tiven Vorbildern stilisieren. Würde man Benslamas These auf die jungen Radika­len in den Pariser Vorstädten anwenden, von denen Roy spricht, dann würde ver­ständlich, warum sie anfällig für den nihi­listischen Todeskult sind, und man käme um eine Pathologisierung des Phäno­mens herum. Einig ist sich Benslama mit Roy darin, dass die Suche nach dem Ur­sprung keineswegs in die Vergangenheit, sondern in eine ungewisse Zukunft führt. Die Religion, die in Auflösung be­griffen sei, werde mit Elementen der Mo­derne geflickt, insbesondere mit Anlei­hen aus der Wissenschaft. „Der Szientis­mus, der den religiösen Diskurs infil­triert”, schreibt Benslama, „ist sehr prä­sent, so als ob die Religion den Gläubi­gen die Ordnung der alten Wahrheit nicht ausreichend garantieren könnte.”

Doch Benslama geht es nicht nur um den Terror im Namen des Islams oder um die von korrupten Eliten verhinderte Aneignung der Moderne, sondern auch um die Konstituierung des weiblichen und männlichen Subjekts und ihre Bezie­hungen zueinander. Als Ausgangspunkt seiner Erörterungen wählt er die Revolu­tion der Geschlechterverhältnisse in Tn­nesien unter Bourguiba, der mit der Ver­kündigung des unabhängigen Staates die politische und rechtliche Gleichstellung der Frauen verordnete. Dann löst sich Benslama jedoch von der politologi­schen Perspektive und beginnt sein ei­gentliches Vorhaben: sprachgewaltige Er­kundungen profaner und religiöser Lite­ratur der islamischen Welt, aus deren Texten er die Spuren einer als verstörend erlebten Macht der Frau herausarbeitet. Der Versuch, diese Macht einzuhegen oder gar auszulöschen, durchziehe die Geschichte des Islams genauso wie die des Islamismus.

Benslamas intellektuelle Exkursionen werden durch die Klammer der Psycho­analyse zusammengehalten. Letztend­lich will er prüfen, ob sich der „Ursprung des Islam in die Sprache der Dekonstruk­tion Freuds übersetzen” lässt. Auch das gehört zu den überraschenden Perspekti­ven auf wichtige Themen der Gegenwart, die Benslama den Lesern mit diesem Buch eröffnet.

SUSANNE SCHRÖTER 20 Okt 2017

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