MESOP : VOM SCHEITERN GROSSER IDEEN – DIE MECHANIK LINKER FORTSCHRITTSONTOLOGIE ALS WELTENPLAN

  • Rede- + Wahlverbot für Nichtabiturienten – Wie Linksintellektuelle die „Kleinen Leute“ abschaffen möchten –

EXIT / VON RAINER HANK

„Wir sind nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit und kennen sie nicht. Dieses kecke Antizipieren eines Weltplanes führt zu Irrtümern, weil es von irrigen Prämissen ausgeht.”

Jacob Burckhardts Mahnung am Anfang der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen”, die der große Basler Historiker im Jahr 1868 als Einführungsvorlesung über das Studium der Geschichte gehalten hat, kann dem Schock des „Brexit” vom 24. Juni 2016 jenen Schuss Nüchternheit versetzen, der jetzt dringend nötig ist. Keck haben die europäischen Eliten Jahrzehnte lang antizipiert, die Weltgeschichte laufe zielstrebig („ever closer”) auf die „Vereinigten Staaten von Europa” hinaus, könne allenfalls durch ein paar Bremser an der Einigungslokomotive der europäischen Fortschrittsgeschichte verzögert werden. Sie lagen falsch. Es gibt keinen Weltplan.

Deshalb haut daneben, wer jetzt durch das Netz twittert, der Brexit sei der erste große Sieg für die Rückwärtsfraktion. Solche Tweets sind getragen von ebenjener irrigen Prämisse, der Schöpfer habe seine Schöpfung mit einer guten Fortschritts- und einer bösen Rückschrittsfraktion eingerichtet und schaue seither dem Weltgeschehen zu, bis am Ende die Guten sich durchgesetzt haben.

Mehr noch: Solch kecke Überheblichkeit trägt gerade dazu bei, dass die neuen Angst-, Wut- und Stimmbürger glauben, dass es heute darum geht, „das Volk” gegen „Eliten” zu verteidigen, die sich in gemeinsamer sogenannter Verantwortung in die Staatsapparate zurückgezogen und ihre Wähler sich selbst überlassen hätten, wie der Soziologe Wolfgang Streeck gerade in einem fulminanten Vortrag über “Kapitalismus und Demokratie” mahnte. Wie viel Hochmut zeigt sich, wenn jetzt allerorten verächtlich über die ungebildete und überalterte englische und walisische Landbevölkerung und Arbeiterschaft hergezogen wird. Wenn Linke so reden, dann offenbaren sie, was ihnen Demokratie, Volkssouveränität und die „kleinen Leute” wert sind. In Wahrheit sind die  Intellektuellen vor allem beleidigt, dass die Weltgeschichte sich nicht nach ihren ach so klugen Entwürfen richtet. Doch in der demokratischen Öffentlichkeit kann es kein Redeverbot für Nichtabiturienten oder Geschichtsvergessene geben, um  noch einmal Wolfgang Streeck zu zitieren. Wäre ja noch mal schöner!

Der Soziologe hat recht: Wenn die in Europa Verantwortlichen die naheliegende Frage nach der Schließbarkeit von Grenzen, der Aufnahmfähigkeit einer Gesellschaft für Immigranten oder dem Platz nationaler Handlungsfähigkeit im geeinten Europa unter Bekundung von Abscheu aus dem Verfassungsbogen ausschließen oder gar als Erscheinungsform rassistischer Traditionsbestände denunzieren, dauert es nicht lange, bis die Ausgegrenzten sich so verhalten, wie man es von Ausgegrenzten erwartet – populistisch nämlich.

Womöglich haben die Eliten (zu denen wir Medien ja irgendwie auch gehören) es sich selbst zuzuschreiben, wenn jetzt eintrifft, was sie doch mit aller Gewalt verhindern wollten. Womöglich wäre es jetzt an der Zeit, anstatt immer nur die sehr grob geschnitzte Populismus-Keule zu schwingen, endlich genauer hinzuschauen, wer sich hinter den abschätzig Separatisten genannten Brexiteers verbirgt, um das Vorurteil zu relativieren, Neo-Nationalisten könnten nichts anderes als Neonazis sein. Trotz des großen Boheis, der in den vergangenen Wochen auch hierzulande um den Brexit gemacht wurde, haben viele übersehen, dass im Lager der Abtrünnigen sich längst nicht nur xenophobe Alte und krawallige Hooligans tummeln, die am liebsten Zäune errichten und Zölle einführen würden, um sich aus Enttäuschung vom Rest der Welt auf ihrer Insel abzuschotten.

Während die Bewegung „Leave EU” von der Unabhängigkeitspartei Ukip des radikalen Volkstribuns Nigel Farage dominiert wird, sammelten sich unter dem Dach von „Vote Leave” des wortgewaltigen Justizministers Michael Grove durchaus weltoffene Leute, denen jeglicher hinterwäldlerischer Mief abgeht. Schaut man sich deren Programme an und nimmt noch dazu die Äußerungen einer Gruppe von „Economists for Brexit” um den Okonomie-Professor Patrick Minford, so werden selbst die Böswilligen den radikal-liberalen Impetus dieser Leute anerkennen müssen, die in gut britisch-schottischer Aufklärungstradition für Freihandel, Wettbewerb und Rechtsstaatlichkeit optieren – und in gut republikanischer Tradition das Recht demokratischer Selbstbestimmung unabhängig von Brüsseler Vorgaben für sich reklamieren.

Für den mit ihnen sympathisierenden Bestsellerautor und Banker Matt Ridley (,;The Rational Optimist”) ist der Brexit ein Fortschritt an Globalisierung, weil die Welt von heute keiner regionalen Zollunionen wie der EU mehr bedarf, die Währungen und Regeln harmonisiert. Dabei mag offenbleiben, ob die Briten am Ende einen Preis für die Freiheit des Exits in Form von Wohlfahrtsverlusten zahlen müssen oder langfristig sogar ökonomisch gewinnen werden. Ein für alle Mal ist nun klargeworden, dass die EU- kein Gefängnis ist, sondern ein Club, in den man eintreten und aus dem man austreten kann. Will irgendjemand im Ernst behaupten, die Vorteile der EU überwögen eindeutig die Nachteile -nach all den europäischen Krisen der vergangenen Jahre? Das sozialwissenschaftliche Gesetz der Pfadabhängigkeit, jenes in sozialen Gruppen scheinbar immer geltende Trägheitsgesetz, muss seit Freitag jedenfalls gründlich revidiert werden.

Wie es überhaupt kommen konnte, dass globalisierte Radikalliberale und protektionistische Rechtspopulisten in dasselbe Brexit-Horn tuten, ist freilich bis heute ein Rätsel, das noch der Aufklärung harrt. Martin Wolf, einflussreicher Chefökonom der „Financial Times”, dekretierte in der vergangenen Woche: Jene Liberalen im Leave-Lager, die über freie Märkte schwadronierten, sollten sich der Gesellschaft schämen, in die sie sich begeben haben.”

Tatsächlich passen liberale Offenheit und nationalistische Abschottung nicht wirklich zusammen. Aber zugleich zeigt sich auch eine merkwürdige Dialektik, wonach gerade aufgeklärte Bürger, welche die Werte und Errungenschaften einer liberalen Gesellschaft verteidigen, in dem Maße nationalistisch-protektionistische Töne anschlagen, in dem sie ihren Liberalismus und die ihm verdankten sozialstaatlichen Errungenschaften durch das Fremde und die Fremden gefährdet sehen. Das liberale Ideal der Freizügigkeit – des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen und auch Menschen – findet seine Grenze am Recht jedes Clubs, selbst zu bestimmen, wer bei ihm Mitglied werden darf -man nennt dies Souveränität. Der Club lässt sich dieses Recht nicht vom romantischen Ruf nach globaler Verbrüderung streitig machen.

Diese Dialektik von Liberalismus und Protektionismus findet sich nicht nur in Großbritannien und nicht nur in Europa. Auch die AfD hat in Deutschland einmal als wirtschaftsliberale Partei begonnen, deren Programmatik dann aber nicht nur aus Gründen des Stimmenfangs ins dumpf Nationalistische umschlug. Am Ende haben sich die Wirtschaftsliberalen unter Bernd Lucke von der AfD abgespalten – und sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden.

Die wohl prominenteste Figur für den ideologischen Umschlag von liberaler in nationale Gesinnung ist der charismatische Niederländer Geert Wilders, der als Liberaler in der weltläufig-holländischen Kaufmannstradition und als Bewunderer ausgerechnet eines EU-Kommissars, des Liberalen Frits Bolkestein, seine politische Laufbahn begann, sich nach der Jahrtausendwende zu einem Neokonservativen amerikanischen Typs häutete und inzwischen eine sehr eigenständige Spielform des rechtsextremen Populismus repräsentiert mit krass antiislamistischen Tönen, aber ohne jeglichen Antisemitismus und mit ausgeprägt libertärem Gedankengut. Der liberalen und nationalen Opposition gemein ist allemal der Überdruss am staatlichen Leviathan, der in der Karikatur der Brüsseler Krake der Kritik verfällt. Die Ton angebenden linksintellektuellen Eliten bestärkt das in ihrem Glauben, es schon immer gewusst zu haben, dass Neo-Liberalismus und Neokonservatismus des gleichen bösen Geistes Kind sind.

Ob es indessen die beste Idee ist, wenn diese Eliten aus dem Brexit nun den Schluss ziehen, jetzt müsse ein „Kerneuropa”, angeführt von Franzosen und Deutschen, nach dem Motto „Die Reihen fest geschlossen”, noch enger zusammenrücken, kann man bezweifeln. Zu weit auseinander liegen, aller deutschfranzösischen Freundschaft zum Trotz, die ideengeschichtlichen Prägungen in den beiden Ländern: Der deutsche Kapitalismus in der Tradition der föderalen, sozialen Marktwirtschaft und der französische Kapitalismus in der Tradition des  zentralistischen Interventionismus sind so schnell nicht zu harmonisieren, wie die Politiker es gerne hätten. Wer es nicht glaubt, soll sich noch einmal den Verlauf der Euro-Krise vergegenwärtigen.

Weil es nicht im allgemeinen Bewusst sein ist, kann es auch nicht schaden, zu erinnern, dass die Anzahl souveräner Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg nicht ab-, sondern zugenommen hat. Der Anlauf zu einer harmonisierten supranationalen Politik in der Europäischen Union ist historisch die Ausnahme, nicht die Regel: auf den Weg gebracht aufgrund der besonderen Situation nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Die Europäische Union ist ein historisches Experiment darüber, ob gegen den internationales Trend nationaler Vielfalt ein Staatenbund mit Tendenz zum Bundesstaat existenzfähig sein wird.

Tatsächlich macht einen die Euro- und EU-Krise der vergangenen Jahre misstrauisch, ob Globalregierungen funktionieren. Denn weder ließ sich – eine Idee der Deutschen – die geldpolitische Disziplinierung durch Maastricht („no bail out”) auf der Gemeinschaftsebene durch setzen, noch hat – eine Idee der Franzosen – die Krise zu einer größeren demokratischen und ökonomischen Vergemeinschaftung innerhalb der EU geführt, weder in der Geld-, noch in der Fiskal- oder Sozialpolitik. Genau aus jener rationalen Erkenntnis dieses Versagens speisen sich Autonomiebewegungen wie das Referendum in Großbritannien.

Dani Rodrik, ein linker Harvard-Ökonom mit europäischen Wurzeln, hat in Blogbeiträgen der vergangenen Tage sei nen Glauben revidiert, die EU sei der einzige Teil der Weltwirtschaft, der erfolgreich imstande sei, Hyperglobalisierung („der gemeinsame Markt”) mit Demokratie durch Schaffung eines „Europäischer Demos” unter einen Hut zu bekommen Wer so wie Rodrik denkt, muss zwangsläufig zum „Brexiteer” werden, denn der heutige Zustand der EU fesselt sowohl Marktkräfte, wie er erst recht allen demokratischen Basiserwartungen widerspricht eine europäische Regierung sei imstande den globalen Kapitalismus zu bezähmen. Globalregierungen sind immer schwache und nie starke Regierungen.

„Wie weit ist nun das Resultat Skeptizismus?”, fragt Jacob Burckhardt rhetorisch: Was sonst könnte daraus folgen, in einer Welt, wo Anfänge und Ende unbekannt sind und die Mitte in beständiger Bewegung ist?

FAZ 16 Juni 2016