MESOP : SPRACHKOLUMNE – Der FÜHRERIN entgegen

Sprachkolumne : Der Führerin entgegenarbeiten / Warum „Jüdinnen?“

Von Daniel Scholten

Der Blick in die Vergangenheit der deutschen Sprache reicht anderthalb Jahrtausende weit bis zu Fibeln und Gürtelschnallen, auf denen unsere Vorfahren einander in Runen ihre Zuneigung bekundeten. In all dieser Zeit findet sich kein Moment, in dem die Anwesenheit einer Frau nicht der Erwähnung wert gewesen wäre.Die von unseren Politikern so verehrten (Bürger und) Bürgerinnen sind als Begriff wie die Fülle der deutschen Städte über achthundert Jahre alt. In unserem Mittelalter wimmelt es von beckerinnen, weberinnen, wirtinnen, zouberinnen, arzatinnen, meisterinnen, friuntinnen und sogar einer marnerin, einer Seefahrerin. Unter uns Germanen begannen zuerst die Goten im 4. Jahrhundert nach Christus mit dem Schreiben. Auch sie ließen Frauen nie unerwähnt: frijond-s (Freund) f frijond-i (Freund-in). Unser Blick reicht weit über das Germanische hinaus. Die frühesten Schriftbelege der indogermanischen Sprachfamilie, bei der das Germanische nur einer von dreizehn Zweigen ist, stammen von den Hethitern und sind dreieinhalb Jahrtausende alt. Frauenbezeichnungen schöpften sie wie wir mit einem Suffix: haˇsˇsus (König) f haˇsˇsuˇs-ˇsaraˇs (König-in).

Die Motion, wie man solche Frauenableitungen fachlich nennt, ist in der indogermanischen Kultur überall Brauch und verdrießt uns erst, seit sie keine tatsächliche Frau aus Fleisch und Blut mehr voraussetzt, sondern Programm ist.

Unser Programm lautet: Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung und andere angeborene Eigenarten sollen niemand davon abhalten, das aus seinem Leben zu machen, was er möchte. 

3 Zum Weiterlesen empfehlen sich Cemil Aydin, The Politics of Anti-Westernism in Asia. Visions of World Order in Pan-Islamic and Pan-Asian Thought. New York: Columbia University Press 2007; Arif Dirlik, Global Modernity. Modernity in the Age of Global Capitalism. Boulder: Paradigm 2006; Wang Hui, The Politics of Imagining Asia. Cambridge: Harvard University Press 2011; Ananya Vajpeyi, Righteous Republic. The Political Foundations of Modern India.Cambridge: Harvard University Press 2012. 

»Gesucht wird schnellstmöglich Bundesligafußballtrainer / Bundesligafußballtrainerin. – Bewerbungen bitte bis Samstag 15 Uhr 29 an den Hamburger Sport-Verein e.V., Sylvesterallee 7, 22525 Hamburg!«

Mit Sicherheit keine Stellenanzeige, die Frauen anlockt. Dennoch zwingt die Sitte den Inserenten, Frauen ausdrücklich (Trainerin) zu einer Bewerbung einzuladen.

Die Sitte, nicht das Gesetz. Das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) beschäftigt sich zwar mit Stellenausschreibungen, erschöpft sich dabei aber in dem Gebot, dass nichtqualifizierende Eigenschaften wie Hautfarbe oder Geschlecht bei der Auswahl aus den Bewerbern keine Rolle spielen dürfen. Formulierungsvorgaben oder die Sprache selbst kommen darin nicht vor. 

Das schafft juristischen Kommentaren und Gerichten die Gelegenheit, sich an der Sprache abzuarbeiten. Im Jahr 2011 gab das Oberlandesgericht Karlsruhe in höherer Instanz einer Frau recht, die sich erfolglos auf eine Anzeige beworben hatte. Weil die Frau alle qualifizierenden Eigenschaften wie Ausbildung und Erfahrung besaß, folgerte das Gericht aus der schlichten Anzeigenüberschrift Geschäftsführer, dass die männliche Form die Bewerberin von vorneherein diskriminierte.

Dieses Urteil steht und fällt mit dem in der Urteilsbegründung ausgebreiteten Dreisatz, Geschäftsführer würde sich auf Männer beschränken, wenn sich Geschäftsführerin auf Frauen beschränke. Das Gericht räumt zwar die Kluft zum Sprachgebrauch ein, bei dem unter Geschäftsführer geschlechtsindifferent der Führer eines Geschäfts verstanden wird, erklärt ihn aber ohne Begründung für unmaßgeblich.

Wenn ein Urteil aber weder auf einem Gesetz noch auf allgemeiner Gewohnheit gründet, worauf gründet es dann? Und wie hätte der Beklagte ahnen sollen, dass er dagegen verstößt? Wie ist sein angebliches Motiv zu erklären, mit Geschäftsführer auf Männer abzuzielen, wenn der Sprachgebrauch nichts wiegt? Denn wer Sprache gebraucht, dem muss man unbedingt Sprachgebrauch unterstellen.

Die Urteilsbegründung zitiert den ersten Absatz eines juristischen Kommentars.

Darin heißt es, der Ausdrucksweise sei nach AGG Rechnung getragen, wenn Doppelformen (Geschäftsführer/ -in) oder neutrale Oberbegriffe (Geschäftsführung) verwendet werden. Den zweiten Absatz des Kommentars hat das Gericht aus gutem Grund unterschlagen:

 

»Aber auch wenn allein die prima facie männliche Bezeichnung verwandt wird, kann der Gesamtkontext der Ausschreibung ergeben, dass eine Geschlechtsdiskriminierung nicht beabsichtigt wird.

Es entspricht dem allgemeinen Sprachgebrauch, dass eine männliche Bezeichnung

verwandt werden kann, ohne allein auf männliche Arbeitnehmer hinzuweisen.

«1 Kommentar und Gericht gelangen zu entgegengesetzten Folgerungen, liegen aber gemeinsam in der Ad-hoc-Annahme falsch, es würde sich bei Formen wie Geschäftsführer um männliche Formen handeln. 

Sprache ist nichts anderes als Sprachgebrauch.

Es gibt keine über den Wassern des Rheins schwebende Göttin Germania oder wahres Deutsch, das uns in den Genen steckt. Sprache ist, wie wir sprechen. Wenn Geschäftsführer dort nicht als männlich gilt, wie kann es dann dennoch männlich sein, aber auch für Frauen verwendet werden? Was ist aus dieser Warte von Begriffen wie Bohrer, Seufzer und Büstenhalter zu halten?

Ikonizität

Ein wesentliches Konstruktionsprinzip der Sprache ist Ikonizität. Das Wohlverhältnis von Inhalt und Form ist auf dieser

1 Gregor Thüsing u.a., Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. § 11 AGG. München: Beck 2012.

Ebene der Sprache keine Frage des Geschmacks, sondern zwingend wie die Klammerregeln in der Algebra. Geschäftsführerin ist der Form nach länger als Geschäftsführer, es enthält mit dem Suffix -in ein Kompositionsglied mehr. Und auch inhaltlich enthält die Motionsform mehr, nämlich die Information, dass das Bezeichnete eine Frau ist, das heißt ein bestimmtes biologisches Geschlecht hat. Bezöge sich Geschäftsführer ausdrücklich auf Männer und schlösse Frauen aus, müssten wir darin ein Kompositionsglied finden, das diese Information – nur Männer, aber keine Frauen – enthält.

Wir finden es aber nicht. Das einzige Kompositionsglied in Geschäftsführer, nämlich -er, steckt auch in Geschäftsführ-er-in. Nach der Deutung des Gerichts wäre diese Form so zu deuten:

Geschäftsführ-_-_. Wobei es annimmt, _ würde _ von rechts nach links annullieren.

Wer gewissenlos ist, dem mangelt es an Gewissen. Das Suffix –los löscht gewissen nicht.

Das Gewissen wird erst angesprochen, und einem dann abgesprochen. Als Information bleibt es erhalten. Darin liegt ein Schritt, der »Geschäftsführ-_-_« fehlt, hier tilgt _ nämlich_ im Inhalt gänzlich, in der Form (-er-)bleibt _ jedoch bestehen.

Ein solches Verfahren ist mit der Architektur unseres Sprachzentrums als autonomer Denkinstanz nicht zu vereinen. Es handelt sich um einen Irrtum einer anderen Denkinstanz, in der Sprache gar nicht verarbeitet wird: des Verstandes.

Der Irrtum entspringt allerdings gar nicht der Wortbildung, sondern einer anderen Annahme unseres Verstandes: Der Geschäftsführer ist maskulin, die Geschäftsführerin feminin. Der juristische Kommentar lässt keinen Zweifel daran, dass seine gesamte Annahme auf dem Genus der beiden Wörter gründet: ein männliches Wort, das aber im Sprachgebrauch auch für Frauen verwendet wird.

Maskulinum und Femininum

Das grammatische Geschlecht und seine schlampige Verteilung über die Hauptwörter unserer Sprache erklärt man sich als Ottonormaldeutscher üblicherweise so, wie es seltsamerweise auch der Sprachwissenschaftler Guy Deutscher seinen Lesern erklärt: »Warum entwickeln so viele Sprachen unregelmäßige Genera?

Über die Kindheit von Genussystemen wissen wir nicht viel, denn in den meisten Sprachen ist die Herkunft der Genusmarkierungen völlig unklar. Doch die wenigen Anhaltspunkte, die wir haben, lassen die allgegenwärtige Irrationalität ausgebildeter Genussysteme besonders eigenartig erscheinen – denn alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Genera in ihrer Frühzeit absolut logisch verteilt waren.«2

Es gab also ein Goldenes Zeitalter, in dem alle unbelebten Dinge sächlich (Neutra) und unter den Lebewesen die Männer und Männchen maskulin und die Frauen und Weibchen feminin waren.

Im Eifer eines langen Gefechts und durch die Sorglosigkeit des Alltags ist diese logische Verteilung dann wohl zu einer Unordnung sondergleichen verkommen.

Werfen wir einen Blick auf andere indogermanische Sprachen wie das Französische oder das Russische, stoßen wir dort auf die gleiche Unordnung wie im Deutschen. Bei genauem Hinsehen findet sich in der überall gleichschlimmen Unordnung dieselbe Struktur. Ebenso in Sprachen, die vor langer Zeit gesprochen wurden, im Lateinischen zum Beispiel, im Griechischen oder im ältesten Indisch aus den Veden. Die Unordnung ist nämlich aus dem Urindogermanischen ererbt.

Guy Deutscher könnte einwenden, das Goldene Zeitalter liege dann eben noch vor dem Urindogermanischen. Die Ursprache des gesamten Menschenge-

 

2 Guy Deutscher, Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. Übersetzt von Martin Pfeiffer. München: dtv 2012.

schlechts ist schließlich um ein Vielfaches älter als die Ursprache der indogermanischen Sprachen.3 Das klingt so plausibel, wie es falsch ist. Unser Genussystem ist in späturindogermanischer Zeit entstanden und funktioniert heute nach der gleichen strengen Mechanik wie damals. Sie ist nur nicht so beschaffen, wie es unser gesunder Menschenverstand erwartet.

Die Sprecher des Urindogermanischen lebten als halbnomadisches Clanvolk am Schwarzen Meer oder nördlich davon und trieben Viehwirtschaft. Grammatisches Geschlecht existierte nicht. In der späten ursprachlichen Phase, kurz vor dem Abwandern der ersten Clans aus der Sprachgemeinschaft, wird das Subjekt in Sätzen mit einer Handlung, die ein Objekt erfordert (transitive Aussagen: Der Mann pflückt einen Apfel), durch die Endung –s markiert. Es ist jenes -s, das später im Lateinischen als -(u)s (amicu-s, leg-s f lex, communi-s) und im Griechischen als -(o)s (philo-s, Stygs f Styx) die typische Endung maskuliner Substantive werden wird. Bei uns im Westgermanischen ist es lange geschwunden: urgermanisch daga-s f gotisch noch dag-s, aber deutsch Tag und englisch day.

Es liegt in der Natur einiger Dinge, nie als Subjekt auf ein Objekt einzuwirken.

Zum Beispiel eine Leber: Sie beeinflusst zwar als Subjekt den Blutzuckerspiegel als Objekt, doch ein prähistorischer Halbnomade bekam eine Leber nur beim Ausweiden von Tieren zu Gesicht.

Lebern aß man, als Subjekt konnten sie höchstens schmecken, rötlich glänzen oder sich glibberig anfühlen, aber sonst kann eine Leber nicht viel unternehmen. Sie sitzt schließlich fest. Deswegen trat das Leberwort jekwr nie als s-Wort auf.

Durch schieren Mangel an Gelegenheit.

Das Joch

Aus dem Lexem jeug- mit der Bedeutung »anschirren« lässt sich durch die Endung -m das Nomen jugó-m mit der Bedeutung »angeschirrt, das Geschirre« bilden. Solche m-Wörter bezeichnen das Ergebnis einer Handlung. Das ist zwar grundsätzlich abstrakt (das Geschirre als Verknüpfung), mündet aber nicht selten in einem Gegenstand, einem Joch nämlich, das heißt einer Schlaufe aus Riemen und Seilen, die man Rindern um den Hals legt, um sie zu führen oder vor einen Wagen zu spannen. 

In diesen m-Wörtern liegt der Same für das Neutrum: lateinisch iugum (Joch), punctum (Stich), donum (Geschenk). Wie das deutsche Perfekt ich habe gehabt aus ich habe ein Gehabtes mit dem Partizip als Objekt mit Akkusativendung zum Verbum haben entstanden ist, sind auch m- Wörter wie jugó-m als Ergebnis einer Handlung Objekte, sodass die ihnen typische Endung -m zur allgemeinen Akkusativendung auch für s-Wörter wurde: lateinisch amicu-m (den Freund), griechisch tò-n phílo-n.

Früher oder später wurden m-Formen auch als Subjekt verwendet. Dabei wurde ihr typischer Ausgang auf -m nicht durch -s ersetzt, weil er bei ihnen zur Wortbildung gehört und aus einer Handlung (jeug-) erst ihr Ergebnis (jugó-m) macht.

Das ist die Geburt des Neutrums. Sie bestimmt zugleich für alle Zeiten, dass Neutra im Nominativ und im Akkusativ dieselbe Form haben:

3 Das Urindogermanische endete spätestens vor 5000 Jahren und dauerte davor nicht länger als wenige Jahrtausende. Was die harten Fakten der Sprechfähigkeit des Menschen angeht,tiefer Kehlkopf, hohe Zunge, Atemkontrolle, Genstand und Größe und Grobstruktur desGehirns, lässt sich nach aktuellem Forschungsstand nichts dagegen vorbringen, dass auchdie Neandertaler sprachen und die Anfänge des Sprechens in weiter Ferne beim späten Homo erectus zu suchen sind.

Mit der zivilisatorischen Entwicklung der Indogermanen sprießen die m-Wörter in Fülle. Neutra sind bis heute das bestimmte Ergebnis von bestimmten Handlungen und grundsätzlich Abstrakta:

Das Leid ist, was man leidet; das Wort (lateinisch verbum) ist, was man sagt (urindogermanisch werdh-o-m zur Wurzel werdh- »sagen«); das lateinische factum (Tatsache) ist, was man getan hat (facere).

Dinge und Gegenstände bezeichnen Neutra nur dort, wo ein solches Ergebnis jenseits der Grammatik in der realen Welt ein Gegenstand ist: Urindogermanisch *jeug- »anschirren, verbinden« f jugó-m »Geschirr(e)« f altindisch yuká-m, griechisch zygó-n, lateinisch iugum,urgermanisch jukan f englisch yoke,deutsch Joch.

Es kann aber nicht nur ein einziges Genus geben. Im Kontrast zum Neutrum stehen die alten s-Wörter. Ihr Genus nennen wir am besten Standardgenus.

Was nicht ausdrücklich Neutrum ist, ist Standardgenus. Das steht im Gegensatz zum juristischen Kommentar, der in Maskulinum, Femininum und Neutrum drei gleichrangige und spezifische Genera sah.

In der Natur ist jeder Mensch von der Zygote an eine Frau, das heißt ein Mensch mit großen, vorproduzierten Eizellen. Nur wenn sich im Genom eine SRY-Sequenz findet, wird aus der Frau ein Mensch mit Hoden abgeleitet: ein Mann. Ein Hoden ist eine transportable Fabrik, die fortwährend kleine und einfachere Eizellen mit geringerer Haltbarkeit produziert. Auch grammatische Genussysteme müssen asymmetrisch konstruiert sein, mit einem unspezifischen

Standardgenus und spezifischen Ableitungsgenera, andernfalls versagen sie.

Entlehnen wir ein Wort aus dem Englischen, erhält es das Standardgenus: der Code, der Gig, der Thread, der Hoax und viele, viele mehr. Substantive werden nur dann Neutra, wenn sie eine Hands-Wörter m-Wörter Subjekt amicu-s iugu-m Objekt amicu-m iugu-m lung oder das Ergebnis einer Handlung als Abstraktion bezeichnen: das Tuning, das Must-have. Sie sind dann abstrakte Ableitungen.

Der Smoking sieht zwar aus wie ein Gerund auf -ing, bezeichnet aber keine Handlung und bleibt im Standardgenus.

Alle fließt

Auf diesem Entwicklungsstand im Urindogermanischen mit zwei Klassen, s-Wörtern und m-Wörtern, gehören alle Personenbezeichnungen zum Standardgenus. Diese Schicht findet sich in vielen späteren Sprachen erhalten, etwa griechisch ho pai-s (der Knabe) neben he pai-s (das Mädchen) oder unsere Fragefürwörter wer? (lateinisch qui-s) gegenüber was? (lateinisch quid). Beim Personalpronomen wurde zu er und es erst später sie aus einer anderen Wurzel gebildet.

Zu jener Zeit sagten die ersten Clans der Gemeinschaft Lebewohl und zogen nach Süden. Aus ihnen ging der anatolische Zweig des Indogermanischen hervor, darunter das Hethitische und andere Sprachen, die zwar alle bereits in der Antike ausgestorben, aber gut belegt sind.

Diese Belege aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus sind die ältesten, die sich in einer indogermanischen Sprache finden.

Die anatolischen Sprachen haben ein Standardgenus (atta-s »Vater«, amma-s »Mutter«), das formal unserem Maskulinum entspricht, und ein Neutrum (juga-n »Joch«). Das Femininum kennen sie nicht.

Dieser letzte Schritt vollzieht sich im Gemeinindogermanischen erst nach der Abspaltung der Anatolier.

Neutra bilden im Späturindogermanischen keinen Plural, wie wir ihn als Mehrzahl von Einzelteilen gebrauchen. Heute verstehen wir unter der Mehrzahl Wörter mehrere einzelne Wörter, die wir nur aufzählen, die aber zusammen keine Aussage ergeben. Damals bildeten Neutra hingegen etwas, was wir unter Worten verstehen: ein Kollektiv aus Wörtern,die zwar aus mehreren bestehen, sich zusammen aber wie eins verhalten.

Aus der Einzahl werdh-o-m (Wort) wird das Kollektiv werdh-a (Worte).

Weil ein Kollektiv als Einheit agiert, steht das Verb zu dieser Zeit im Singular: Deine Worte ist schön. Pánt-a rhé-ei.

All-e Ding-e fließ-t. Klingt nach einem Spleen der Griechen, den die Römer nicht mitmachten: Omni-a mut-antur, nihil interit. All-e Ding-e veränder-n sich bloß, nichts vergeht.

Es handelt sich jedoch um keinen Spleen, sondern um ein Relikt aus jener Phase des Späturindogermanischen, die wir in unserem Szenario bisher erreicht haben. Das Hethitische und seine anatolischen Schwestersprachen lassen daran keinen Zweifel: Jug-a lagaru! Die Joche soll sich neigen!

Pizz-a, Itali-a, Thusneld-a

In späturindogermanischer Zeit machen die Sprecher zivilisatorisch und technisch enorme Fortschritte. Viele Techniken (Handlungen) bringen Werkzeuge oder Gegenstände hervor, die in der  Menge kein Kollektiv sind, sondern einfach nur mehrere. Drei Joche bilden keinen Jochpark, sondern sind drei Gegenstände.

Ebenso werdh-a: Sie waren nach damaligem Verständnis mehrere einzelne Wörter, was wir daran erkennen, dass Wort noch im Deutschen und verbum im Lateinischen Neutra bleiben. Solche Begriffe standen in der a-Form fortan mit dem Verb im Plural: Deine Worte sind schön.

Wo der Plural in seiner Bedeutung kollektiv war, vor allem bei Abstraktem,stand das Verb weiterhin im Singular, und die a-Form wurde bald als Singular gedeutet und auch so dekliniert: lateinisch anim-a (Seele), griechisch demokrati-a, althochdeutsch bluom-a (Blume; Anmerkung: Das althochdeutsche a ist über Umwege neu entstanden). Denn eine Blume ist, was blüht. Eine Blumenwiese ist ein Blühkollektiv.

Das ist das Femininum. Genau betrachtet ist es gar kein Kollektiv (die Worte), sondern ein abgeleitetes Abstraktum (Wort-heit). Darum sind so viele abstrakte Sachen feminin: die Liebe, die Kunst, die Demokratie.

Erkunden wir die Dreifaltigkeit unseres Genussystems an einem Beispiel: Das urindogermanische Lexem wegh- bedeutet »bewegen«. Aus ihm geht als Verb im Deutschen wegen hervor, das sich erst in der frühen Neuzeit in mehrere Verben aufspaltet: bewegen, wiegen (das Bewegen zur Bestimmung des Gewichts), wägen, wagen. Bildet man aus dem Lexem ein

s-Wort, erhält man die direkte Nominalisierung der Bedeutung und bleibt im Standardgenus: wegh-o-s f der Weg. Das ändert sich bei vielen Ableitungen nicht:

wegh-n-o-s (der zu Weg gehört) f der Wagen. Es sind allein die beiden Abstraktableitungen des Urindogermanischen, m-Wörter für bestimmte Abstrakta (das Geschirre) und a-Wörter für unbestimmte (Schirrerei, Schirrung, Schirrkeit), aus denen eigene Genera entstehen.

Das Neutrum das Gewicht ist, was man wiegt/bewegt oder was etwas wiegt, also das Ergebnis des Bewegens oder Wiegens, und zwar ein ganz Bestimmtes.

Ebenso das Geweih (Gewiege), doch hier wurde das Abstraktum in einem weiteren Schritt auf einen Gegenstand übertragen, den ein Hirsch durch den Wald trägt. Die Waage ist das Bewegen und Wiegen als Abstraktion (in der Waage, in der Schwebe), die unbestimmte Bewegung oder Bewegerei also, und bezeichnet erst später ein Gerät für diese Tätigkeit. Ein weiteres Beispiel: der Fall, die Falle, das Fallen und das Gefälle.

 

So funktioniert das Genus seit dem Späturindogermanischen. Bis in unsere Zeit. Das Maskulinum ist das Standardgeschlecht, zum Neutrum gehören Substantive, die den Inhalt oder das bestimmte Ergebnis einer Handlung bezeichnen. Feminina sind Ableitungen mit komplexer abstrakter Bedeutung.

Dieses Dreiersystem hat einen einzigen Zweck: Wörter in Scharen zu bilden.

Das Indogermanische begann als Sprache eines winzigen Clanvolks, heute umspannt es die Erdkugel und hat den Mond erobert. Dieser Erfolg ist nicht durch Zeugungsfreude und Herrschsucht zu erklären, sondern durch einen einzigartigen evolutionären Vorteil, die Fähigkeit unserer Sprache nämlich, ihren Wortschatz im Nu zu erweitern und neuen Lebensräumen anzupassen.

Wie es das biologische Geschlecht Vielzellern erlaubt, sich von einer Generation zur nächsten rasant an neue Lebensbedingungen anzupassen, hat unser Genussystem nur eine einzige Aufgabe: neue Wörter nach einem simplen Schema zu erschaffen, die eine neue Welt beschreiben.

All unsere alten Baumnamen sind im Ursprung s-Wörter, die nachträglich feminin wurden: Die lateinische fagus ist keine Eiche, sondern Eichenartigkeit. Die Bäume, die Deutschland bis vor kurzem gänzlich bedeckt hatten, waren allerdings Buchen und dem Indogermanischen unbekannt, aber noch einigermaßen eichenartig. Deswegen nannte man sie buohha (Eichenartigkeit). Als das Schreiben aufkam, das damals irgendetwas mit den Buchen zu tun hatte, machte man das bestimmte Ergebnis des Schreibens zum Neutrum: das Buch.

Die Sprechstundenhilfe ist meine große Liebe

Personenbezeichnungen sind in diesem System grundsätzlich s-Wörter mit Standardgenus.

Weil unserem Sprachzentrum der Unterschied zwischen Mann und Frau so wenig zu vermitteln ist wie dem BIOS Ihres Computers, gewinnen wir geschlechtsspezifische Begriffe nur durch den Trick der Übertragung. Blanke Geschlechtsbegriffe sind entweder Metonymien, bei denen Sexualmerkmale wie das Glied (f lateinisch m¯as »Männchen«, daraus maskulin und Macho) oder die Gebärmutter (f deutsch das Weib) für den Rest der Person stehen, oder sie leiten

sich aus typischen Eigenschaften des Geschlechts ab, beim Mann zum Beispiel Körperkraft (lateinisch vir und deutsch Wer wie in Werwolf) und Zeugungsfähigkeit (griechisch an¯er), bei der Frau Gebärkraft (lateinisch femina »Säugende f Frau«). Nur solche Begriffe, die Männer als Männchen und Frauen als Weibchen bezeichnen sollen, sind wirklich geschlechtsspezifisch. Das Geschlecht liegt allerdings nicht in der Grammatik, sondern im Lexem.

Meist bezeichnet man Personen aber nicht nach ihrem Geschlecht, sondern in Bezug auf eine Sache: Schule f Schüler, schlingen f Schlingel. Die Wörter sind s-Wörter und ganz und gar geschlechtsunspezifisch.

Geschlechtsspezifische Ausdrücke lassen sich daraus nur durch den Trick gewinnen, dass man zunächst das Abstraktum ableitet und es auf eine Person anwendet, so wie man das Abstraktum Waage auf ein Gerät anwendet.

Ein Mann kann eine Frau zum Beispiel meine Liebe, my love, mon amour oder mi’amore nennen. Aus einer anatolischen Sprache, dem Lykischen, ist uns ein solcher Fall belegt. Die Wurzel lehdbedeutet »zueinander passen«, das Abstraktum würde lehd-a lauten und das  Zueinanderpassen in seiner ganzen Komplexität bezeichnen. Wir nennen es Liebe.

 

Im Lykischen ist lada das gängige Frauenwort: die Liebe f meine Liebe (ist eine Frau) f Frau. Auch unser Motionssuffix -in war im Ursprung ein Zugehörigkeitsabstraktum, das Begriffe bildete, die wir heute mit -igkeit bilden würden.

Natürlich kann auch eine Frau einen Mann ihre große Liebe nennen. Der Trick, geschlechtsspezifische Ausdrücke durch Abstrakta zu gewinnen, funktioniert theoretisch auch beim Mann. Warum wurde er nur bei der Frau so ungeheuerlich produktiv, dass er zum Schema wurde? 

Früher sah man keine Not, das Geschlecht eines Menschen in Nomina agentis wie Schüler auszudrücken. Angewandt wurde der Trick nur in Fällen wie Königin, wo der König regierte und die Königin das zum König Gehörende war, seine Königsgemahlin. Im frühen Mittelalter war es erwähnenswert, wenn ein Mann einen weiblichen Freund hatte; er sprach deshalb von einer friuntin. In einer Gesellschaft, in der jedermann Bauer ist, gibt es keine Bezeichnungen dafür. Männer waren ihrer Natur nach Männer (Menschen) und Frauen ihrer Funktion nach deren Weib. Die Bezeichnung des Bauern ist im Deutschen erst entstanden, als neben dem Bauerndasein viele andere Berufe entstanden waren. In deutschen Landen fand man es erwähnenswert, wenn Frauen einen eigenständigen Beruf ergriffen (arzatin), und tut es bis heute (Ärztin) – in allen anderen germanischsprachigen Ländern dagegen nicht.

Daraus darf man nicht schließen, dass Formen wie Geschäftsführer ausschließlich Männer bezeichnen. Das tun nur Wörter, bei denen der Mann im Lexem steckt: der Herr, der Vater. An Geschäftsführ- ist nichts männlich.

Bürger bezeichnet geschlechtsindifferent alle Menschen, die Bürger sind, Bürgerin nur weibliche.

Bürger und Bürgerinnen bedeutet: Bürger, besonders auch die weiblichen. Das Unspezifische wird vor dem Spezifischen genannt. So sprach das Nürnberger Stadtrecht in der frühen Neuzeit von Juden und Jüdinnen, wo es um die Judensteuer, eine Abschlagszahlung gegen rassistisches

Misstrauen, ging. Dabei wollte man doppelt beim Heidengeld abkassieren, nicht nur wie üblich beim männlichen Familienoberhaupt (Haushaltsabgabe), sondern auch bei deren Frauen.

An weniger einträglichen Stellen spricht das Stadtrecht unspezifisch von Juden.

Oft wird heute in falscher Analogie zu Damen und Herren verkehrtherum von Bürgerinnen und Bürgern gesprochen, aber das ist zu verschmerzen, solange die Frau speziell erwähnt wird, wo es sie nur in seltsamer Minderheit gibt, zum Beispiel im Bundestag oder überall sonst, wo es um Macht geht.

Frauen ausdrücklich zu erwähnen, wo es wie bei den Nürnberger Jüdinnen um Gleichstellung geht, lautet die eigentliche Idee. Beim nächsten Mal werde ich zeigen, warum diese Idee gut funktionieren könnte, hätte sich daneben nicht eine auf Irrtümern gründende Ideologie etabliert und das politische Handeln erreicht: das Hirngespinst, unsere Sprache müsste geschlechtsneutralisiert werden.

Merkur 12, 2013