MESOP NEWSCULTURE IN LBGTQ-TIMES: RUSSISCHE FRAUEN ZUM #MeToo-Hype

EROS & CIVILIZATION  : „Soviel Vorgeschmack auf die Hölle /

So wenig Nachgeschmack vom Paradies“

Sex-Inquisition – Was russische Frauen kritisieren ! – Von Kerstin Holm FAZ-Feuilleton

Wie sich die Zeichen wandeln! Zur Zeit der Perestroika wurde die Bemerkung einer Russin, die während einer sowjetisch-amerikanischen Fernsehbrücke erklärte, in ihrem Land gebe es keinen Sex, zum Symbol der erotischen Kultur ihrer Heimat beziehungsweise deren Fehlens.

Das Zitat der Sowjetpatriotin meinte freilich auch, dass die Ressource Sex in Russland noch nicht für die Werbung genutzt wurde und dass es keinen Diskurs über das Thema gab. Inzwischen ist der Sex in der russischen Reklame so aufdringlich wie anderswo, und seit den neunziger Jahren wurde das Land wegen seiner schönen, aufgeschlossenen Frauen zu einem Mekka für westliche Erotomanen. Russinnen haben — darin ihrem Präsidenten Wladimir Putin vergleichbar — eher schlechte Karten in der Hand, die sie dafür souverän ausspielen. Statt auf Quoten und einen leistungsfähigen Rechtsstaat verlassen sie sich auf Naturgesetze, die ihre bessergestellten Geschlechtsgenossinnen im Westen überwinden möchten. Vielleicht beobachten deswegen viele von ihnen die rollende MeToo-Lawine und den expandierenden Begriff von Belästigung und Vergewaltigung im protestantisch geprägten Westen mit Kopfschütteln.

Die furios kremlkritische Publizistin Julia Latynina geht besonders streng mit der angelsächsischen Avantgarde der Bewegung ins Gericht. Latynina findet es zwar vollkommen verdient, dass der Filmproduzent und Schwerenöter Harvey Weinstein und der Schauspieler Kevin Spacey, der Minderjährige sexuell bedrängte, von der Öffentlichkeit geächtet wurden. Gleichwohl spricht sie von einer „Sex-Inquisition”, weil im Fall von Belästigungsvorwürfen die Unschuldsvermutung, wie sie die Menschenrechtskonvention fordere, nicht gelte und weil die Existenz eines Angeklagten gern auch mittels anonymer Denunziationen zerstört werde.

Sie erinnert an den walisischen Minister für Soziales, Carl Sargeant, der im November abgesetzt worden war, weil nicht namentlich genannte Frauen sich über unpassende Be-rührungen oder Aufmerksamkeit zu einem unbekannten Zeitpunkt beschwert hatten. Sargeant beging Selbstmord. Und sie verweist auf die Geschichte des Londoner Geographielehrers Kato Hards, der nach der anonymen Klage einer Schülerin, er habe sie vergewaltigt, seinen Job verlor — obwohl die Vorwürfe sich als unhaltbar herausstellten.

Latynina räumt ein, dass viele Zivilisationen ihre Frauen knechteten. Doch seit der sexuellen Revolution der sechziger Jahre verfüge die Frau im Westen über sich. Das erfordere bei ihr freilich auch Verantwortung für das eigene sexuelle Tun. Jetzt schwinge aber das Pendel in die andere Richtung, der Mann gerate unter Generalverdacht, und die Frau stehe pauschal als Opfer da. Dabei sei das Syndrom der Gattin Potiphars keineswegs aus der Welt, so die Journalistin, die als Beispiel den Studenten Caleb Wamer in North Dakota anführt, dessen Kommilitonin ihn nach einer kurzen Affäre wegen Vergewaltigung anzeigte, weil er ein Dauerverhältnis mit ihr ablehnte. Der Verleumdete wurde der Universität verwiesen. Beim ,Sex gehe es stets um mehr als nur „darum”, weiß die Russin, nämlich auch um Macht, Allianzen, Karrieren. Viele Frauen seien stolz, wenn sie sich ihren Boss „angelten”, und würden keineswegs verurteilt.

Die Moskauer Literaturkritikerin Anna Narinskaya unterscheidet gewaltsame Übergriffe, die sie selbst erlebt habe, und die schrecklich seien, von aktiven Annäherungsversuchen. Letztere habe vor allem sie sich gegenüber Männern „zuschulden” kommen lassen, gesteht Narinskaya auf Facebook, etwa, indem sie bei ihrem Jugendschwarm eine Ohnmacht vorgetäuscht habe, und, als er sie auffing, sich an ihn geschmiegt habe, oder einen Kollegen aufforderte, sie zu küssen.

Aus heutiger Sicht seien das  klare Fälle von Belästigung gewesen, weshalb sie davor warnt, Handlungen des früheren Selbst aus der Sicht des späteren Ich umzudeuten.

 

In Russland seien offene Gespräche über Sex und Genderthemen selten, erklärt die Theaterwissenschaftlerin Anna Juk. Die Regierung versuche, das Land in eine Art stalinistisch-orthodoxes Mittelalter zu steuern, das Verschweigen bleibe ein Hauptproblem der Gesellschaft. In ihrem Land müsse jeder selbst seine Informationen und eine eigene Sprache finden. Gender- und Diversity-Kompetenzkurse, wie sie im deutschen Bildungssystem eine zunehmend dominierende, wenn auch umstrittene Rolle spielen, betrachtet die Moskauerin Juk mit Skepsis. Für intime Fragen gibt es nach ihrer Überzeugung nur individuelle Antworten.

 

Die aktuelle Harassment-Verfolgungskampagne sei nicht zuletzt ein Kulturkrieg, glaubt der russische Komponist Wladimir Tarnopolski, derzeit Stipendiat am Berliner Wissenschaftskolleg. Selbstverständlich gehören Vergewaltiger verurteilt und ins Gefängnis, sagt Tarnopolski, sogar der russische Kriminellenkodex stelle sie auf die unterste Stufe. Doch die Verrechtlichung der Sphäre gewaltfreier sexueller Kontakte erscheint dem Musiker als Symptom der Expansion der puritanischen Kultur Amerikas. Im Gegensatz etwa zur Kultur Lateinamerikas (oder Italiens und Spaniens), wo spielerische Avancen von Männern, die in England als unangemessene Aufmerksamkeit gälten, erwünscht seien und die lebensfrohe Norm darstellten. Die russische Kultur sei im Vergleich zur westlichen schamhafter, sie lasse manches unausgesprochen. Der Komponist schätzt das, so bewahre sich ein reicheres Spektrum emotionaler Nuancen.

 

Die Ökonomisierung des Sex mache manchmal die Entlarvung von Belästigern zum Karrierefördermittel für Frauen, glaubt Tarnopolski. Er findet es bezeichnend, dass vor allem wirtschaftlich  erfolgreiche Männer — Geschäftsleute, Politiker, Schauspieler — Zielscheibe wurden. Die Allmacht des Rechts in der Privatsphäre ist für ihn eine Antiutopie, die Menschen zu Robotern mache und ihren Beziehungen das Menschlich menschliche austreibe.

 

Derzeit steht in München der Pianist und ehemalige Musikhochschulrektor Siegfried Mauser vor Gericht, weil  Frau, die einst wiederholt mit ihm intim war, um eine Arbeitsstelle zu bekommen, das erste Mal rückwirkend als Vergewaltigung definiert. Der Schweizer Dirigent Charles Dutoit wurde von vier Musikerinnen — zwei davon anonym — beschuldigt, er habe sie vor Jahren physisch bedrängt.  Vier amerikanischen Orchestern genügte das, um die Zusammenarbeit mit augenblicklich aufzukündigen. Dabei habe eine Frau hundert Möglichkeiten  nein zu sagen, bemerkt die in Köln lebende russische Kulturjournalistin Anastasia Boutsko: vom leise gelispelten „ Pfoten weg” über einen Klaps oder gar ein Ohrfeige bis hin zur Flucht. Amüsiert erinnert sich Boutsko an die Assistentin eines älteren Moskauer Künstlers, die die Avancen ihres Chefs mit einem vorwurfsvollen : „Aber Ilja Sergejewitsch!” ausbremste und dabei sowohl ihre als auch seine Würde wahrte.

 

Boutsko findet es gut und fruchtbar die Kunst, wenn sich das Verhältnis zwischen Musikern erotisch auflädt. Zumal die Opern von Wolfgang Amadeus Mozart könnten gar nicht „abheben’, wenn sich die Sänger, die Diven, der musikalische Leiter nicht begehrt fühlte, meint sie. Mozarts dauerverliebte Musik weiß indes auch, dass in emotional hochgespannten Situationen „nein” nicht immer nein  bedeutet, wie es das deutsche Sexualstrafrecht postuliert. Im „Don Giovani beantwortet das Bauernmädchen Zerlina die Zudringlichkeit des Don mit einem elektrisierten Hin und Her von „no’ und „si“.

In „Cosi fan tutte” versucht eine Heldin, ihren Galan zu manipulieren, die andere,  dem ihren zu widerstehen. In allen drei  Fällen siegt der Magnet des Eros. Die Opern, von denen letztere im Untertitel „Schule für Liebende” heißt, vergegenwärtigen, dass die wahren Gefühle, frei nach  Nietzsche, die gemischten sind. Daher kann man nur hoffen, dass sich manche Frauen (und Männer) zum Ziel ihrer sentimentalen Reifung setzen, an Güte, Großzügigkeit, Humor und auch ein wenig Distanz zu sich selbst hinzuzugewinnen, statt aus dem Oszillieren der zwischmenschlichen  Chemie, jenem „Halb-zog,sie-ihn-halb-sank-er-hin”, nachträglich eine Waffe zu schmieden.

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