MESOP NEWSCULTUR : DEKONSTRUKTION DER DEKONSTRUKTEURE / Gegen die Propagandisten des Großen Einverständnisses von McKinsey & Goldman-Sachs

 

  • Kann man die liberale Mittelstandskultur kritisieren, ohne ein Essentialist oder ein Rechter + Querfrontler zu sein ? – Guillaume Paoli & Robert Pfaller  versuchen das

Der Anflug von Kulturktritik,  den sich Sigmar Gabriel im Dezember mit seiner Intervention gegen die sogenannte Postmoderne erlaubte, hat die SPD bisher nicht gerade aus ihrem Tief herausgeholt. Eine Kultur der Dekonstruktion und des „Anything goes”, hatte Gabriel im „Spiegel” geschrieben, lasse das Verlangen vieler, nicht nur rechter Bürger nach „Heimat” unbefriedigt, doch was von dieser Kritik ausging, schien vor allem der Muff rückwärtsgewandter Ortsgruppenexistenzen zu sein, deren langweilige Obsessionen mit dem Kapitalismus, den sie „zähmen” wollen, es mit der Sexyness von wirklich zeitgenössischen Themen nicht aufnehmen könnten. Mit der Gegenwartskultur, riefen deren Vertreter, sei alles in Ordnung, was im Argen liege, sei, dass es immer noch Leute gebe, die das nicht einsehen und sich auf diese Weise der Bewältigung der Zukunft verweigern.

Man hätte denken können, Gabriel profitiere von dem Echo, das die Selbstkritik von Linken wie Didier Eribon, Marc Lila und Nancy Fraser gerade auch in Deutschland letztes Jahr gefunden hatte; eine auf Identitätspolitiken versessene Linke, warfen sie sich vor, habe durch ihre Vernachlässigung der sozialen Frage selber zu den Erfolgen der Rechtspopulisten beigetragen. Doch offenbar war diese Kritik nur strategisch verstanden worden, als Erörterung des Problems, wie man am besten mit den Anderen, den außerhalb der eigenen Kultur Stehenden umgeht, nicht als prinzipieller Selbstzweifel.

Nun aber gibt es zwei Versuche aus linker Perspektive, das eigene kulturelle Schema grundsätzlich auseinanderzunehmen, also der Kulturkritik jene Radikalität zu verschaffen, die ihr bei Gabriel und sogar noch bei den Populismusverstehern fehlt. Der österreichische Kulturwissenschaftler Robert Pfaller wirft den “Sprachregelungen der sogenannten political correctness” eine systematische Infantilisierung vor, deren gutgemeinter Kampf gegen die verschiedensten Diskriminierungen von der umfassenden Diskriminierung durch ökonomische Ungleichheit ablenke („Erwachsenensprache – Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur”, S. Fischer, 247 Seiten, 14,99 Euro). Und der Berliner Autor Guillaume Paoli, der um das Jahr 2000 als Mitbegründer der „Glücklichen Arbeitslosen” bekannt wurde, spricht in Anlehnung an Pasolinis „Freibeuterschriften” von 1978 gar von einer „anthropologischen Mutation”, die eine unter linksliberalen Vorzeichen gentrifizierte Kultur ins Werk gesetzt habe („Die lange Nacht der Metamorphosen”, Matthes. & Seitz, 220 Seiten, 2o Euro). Was die beiden Polemiken verbindet, ist die Annahme einer etwa in den siebziger Jahren einsetzenden Kulturalisierung der Politik, die sich selbst als progressiv versteht, deren blinder Fleck jedoch ihre Instrumentalisierung durch den Kapitalismus sei.

Paoli bezieht sich dabei auch auf den Begriff der „Hyperkultur”, in dem der Soziologe Andreas Reckwitz das entscheidende Merkmal einer neuen Mittelklasse sieht (zuletzt in seinem jüngsten Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten”, Suhrkamp, 485 Seiten, 28 Euro). Gemeint ist damit ein eklektizistisches, connaisseurhaftes Verhältnis zur Welt und zum eigenen Leben. Alle Grenzen von Zeiten, Orten und Hierarchien überschreitend wird da alles mögliche, ob Essen, Religion oder Fußball, aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und zu einer kulturellen Ressource gemacht – und damit zu einem möglichen Gegenstand nicht nur der eigenen Geschmacksbildung und Individualisierung, sondern auch des Markts. Dagegen beharre der von der alten Mittelklasse und den Unterschichten verfochtene „Kulturessentialismus” auf hergebrachten kollektiven Identitäten und Grenzen.

Paoli fügt dieser Analyse noch die Verachtung hinzu, die die Kulturliberalen für die empfinden, die sich in ihrer Welt nicht zurechtfinden: “Abgehängte’ Frauen und Männer, die weder kreativ noch vernetzt sind. Proleten, die kein Englisch können, KZ-Hühnchen bei Aldi kaufen, RTL2 schauen, sich am Stammtisch gegen die da oben echauffieren und sexistische Witze reißen.” Und er gibt diesem sich selbst als aufgeklärt empfindenden Ressentiment eine politische Pointe: „Gewiss wurde insbesondere in Deutschland immer gern nach oben gebuckelt und nach unten getreten. Doch noch nie wurde das mit so viel gutem Gewissen getan, ja in der Überzeugung, auf der richtigen Seite der gesellschaftlichen Entwicklung zu stehen, auf der Seite der Freiheit.”

Das einzige wirkliche Außen dieses Systems scheinen außer den Proleten die Rechten zu bilden, wer es immer noch kritisiert, setzt sich also dem Verdacht aus, wenn nicht ein „Kulturessentialist”, dann selber ein Rechter, oder, wenn er ein Linker ist, ein Querfrontler zu sein. Der „Neoliberalismus” mag als böse gelten, wie jeder seit der Weltfinanzkrise zu versichern sich beeilt, der Liberalismus aber, nicht als Wirtschaftsform oder politische Theorie, sondern als Kultur, ist offenkundig so unangreifbar wie nie zuvor.

Wie lässt er sich dann überhaupt noch von außen betrachten? Paoli hält die Abwehrformel „Essentialismus” ihrerseits für essentialistisch; ihm selber gehe es nicht um das Festhalten an Vergangenem, sondern um die Zukunft. Die aber sei dadurch gefährdet, dass Möglichkeiten, Denkräume und Erfahrungen jenseits der Ordnungsprinzipien des Kapitalismus mehr und mehr schwinden. Ebenso wie Pfaller zitiert er die berühmte Stelle aus dem Kommunistischen Manifest, an der Marx und Engels die vom Kapitalismus ergriffene Bourgeoisie für ihre re-volutionäre Rolle loben: Sie zerstöre „alle patriarchalischen Verhältnisse”, entreiße der Familie ihren „rührend-sentimentalen Schleier”, ertränke die „spießbürgerliche Wehmut”, zwinge den „Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation”, entweihe „alles Heilige”. Paolis

Pointe dabei ist: „Sämtliche kulturelle Begleiterscheinungen des modernen Kapitalismus, die Marx auflistet, sind Steckenpferde der heutigen Linken”, ob es nun gegen Patriarchat, spießige Moral oder Ausländerfeindlichkeit geht. Was dagegen unter den Tisch falle, sei der politische und ökonomische Fluchtpunkt, auf die die Auflösung der Traditionen bei Marx und Engels hinauslaufe: „das nackte Interesse”, die „gefühllose bare Zahlung”, die als einziges Band unter den Menschen übrig blieben und diese einer immer direkteren Ausbeutung auslieferten. Was also verloren gegangen ist, ist der Sinn für die Ambivalenz der Entwicklung, den Marx und Engels hatten.

Alle Kämpfe sind jetzt nur noch Kulturkämpfe mit dem Ziel, die vom Frühkapitalismus begonnenen Umwälzungen zu vollenden. Sprachregelungen und “Narrative” sind ihr Schlachtfeld, und all die Fiktionen, Ironien und Dekonstruktionen, die sie begleiten, sind für die Propagandisten des großen Einverständnisses wie McKinsey oder Goldman Sachs sehr nützlich, findet Paoli, wenn sie immer wieder Zweifel an der Bedeutung von Gemeinschaft und grundsätzlicher Kritik wecken. „Während die Welt in tausend kleine Domänen dekonstruiert worden ist, bleibt das große soziale Konstrukt des Kapitals im toten Winkel.” Deshalb sei es kein Zufall, dass die soziale Frage bei der heutigen Linken kaum noch eine Rolle spiele: „Um sie zu stellen, müsste sie auf ein minderheitsübergreifendes Kollektivsubjekt bezogen werden.”

Pfaller meint sogar, dass die politisch korrekte Sprache im Rahmen der unterschiedlichen Minderheiten- oder Genderpolitiken, den Ausdruck einer übergreifenden Gemeinschaft oft unmöglich machten. Ein schlichter Satz wie „Hör zu, Alter, wir sind schließlich beide Eisenbahner!” sei dann gar nicht mehr möglich. Er spricht sich für eine „Erwachsenensprache” aus, die die unvermeidliche Doppelbödigkeit aller Benennungen zur Kenntnis nimmt: “Wer heute zum Beispiel ,Antirassismus‘ sagt, kann nicht mehr hoffen, im Sind eines verallgemeinerungsfähigen humanitären Ideals verstanden zu werden, sondern muss damit rechnen, als jemand  wahrgenommen zu werden, der die prekärer lebenden Bevölkerungen städtischer Außenbezirke oder ländlicher Regionen zu deklassieren versucht und ihnen schließlich auch noch das Distinktionskapital solcher Ideale wegnimmt.” Deshalb gelte es zu versuchen, einen Abstand zu den eigenen guten Absichten zu gewinnen und sich auf die Übel zu konzentrieren, die sich durch handfeste Politik überwinden lassen.

Ein grundsätzlicher Einwand dagegen liegt auf der Hand: Man braucht das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten; es besteht kein zwingender Grund, weshalb eine kulturelle Identitätspolitik, die sich um die missachteten öffentlichen Rechte von Minderheiten kümmert, nicht auch mit der Analyse ihres politischen und ökonomischen Kontextes verbunden werden könnte. Statt, um beim Beispiel zu bleiben, auf “Antirassismus” zu verzichten, muss dieser sich über seine eigenen Fallstricke aufklären. Was vor allem Pfaller beklagt, ist, dass dies bis jetzt nicht geschieht, sondern dass man die Formeln selbst schon für einen Fortschritt hält. Die Wirksamkeit von Symbolen sei aber von ihrer Gekonntheit abhängig, Höflichkeit dürfe sich nicht auf Codes beschränken, sondern müsse erlernt werden. Was sich durch die „Sprachbereinigungsversuche” in Wirklichkeit nur verändert habe, sei die Vermehrung und Verstetigung der zuständigen „Korrektheitsgremien”.

Offensichtlich geht es den beiden Polemikern nicht bloß um politische Strategie. Auch wenn sie das nicht direkt so artikulieren, läuft ihre Kritik darauf hinaus, dass eine Kulturalisierung der Politik nicht nur die Politik um ihre Realität bringt, sondern auch die Kultur, die Erfahrung von “Wirklichkeit”. Paolis Punkt ist, dass die behauptete Diversität und Individualität nur eine scheinbare sei. Mit Pasolini teilt er die Überzeugung, dass die “Konsumgesellschaft” fortlaufend Redeweisen, Dialekte, Gesten, Erfahrungen und Körperhaltungen verschwinden und einem. “standardisierten Neusprech” Platz machen lasse. Ein neuer Menschentypus sei entstanden, der durch aufgezwungene Permissivität, Scham für überlieferte Gewohnheiten, simulierte Zufriedenheit und den Autoritarismus der Antiautoritären gekennzeichnet sei. Pasolini habe freilich die Fähigkeit der kommerzialisierten Gegenkulturen zur Binnendifferenzierung unterschätzt, die durch das Internet noch einmal gesteigert werde. Doch das ändert laut Paoli nichts an der frappierenden Gleichförmigkeit der Individualisten: “In einem ersten Schritt lässt der Supermarkt die umliegenden Läden pleitegehen, dann diversifiziert er sein Angebot.”

In den letzten Jahren der alten Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin hatte Guillaume Paoli in deren Rotem Salon eine Veranstaltungsreihe bestritten, in der viele Motive des jetzt erschienenen Buchs schon anklangen. Vielleicht brachte die Volksbühne unter der Intendanz von Franz Castorf am ehesten zur  Anschauung, was Intellektuelle wie Paoli und Pfaller an der Gegenwartskul­tur vermissen. Es sind weniger bestimm­te politische Ziele als die Widerspenstig­keit auch gegenüber den eigenen Vorannahmen, die Weigerung, sich in eine Sprachregelung einzupassen, die Bereit­schaft, in sich selbst – und nicht bloß im klar definierten Anderen – das Gefährli­che und Bedenkliche zu entdecken.  Cas­torf konnte sein Theater zu Recht als Mittel gegen die „Gleichmütigkeit der Gesellschaft” bezeichnen: „Weil heute keiner mehr Lust hat, mit dem etwas an­zufangen, was ihn belastet,  frustriert, quält.” Was am kulturalisierten Fort­schritt so nerven kann, ist offenbar das Gegenteil: seine Sauberkeit, seine Geord­netheit und sein ungeheuer gutes Gewis­sen.

MARK SIEMONS – 7 Jan 2018  www.mesop.de