MESOP NEWS SURVEY NEU : BEDEUTUNG DER RELIGION STEIGT BEI ARABISCHEN JUGENDLICHEN / NEUE STUDIE FRIEDRICH EBERT STIFTUNG

Arabische Jugend, das unbekannte Wesen

Eine neue Studie zeigt eine Generation zwischen Ungewissheit und Zukunftszuversicht / Von Christian Meier – FAZ – 29 Dez 2017

Das Interesse an den Einstellungen arabischer Jugendlicher ist seit Jahren unverändert groß. Das liegt zum einen an den politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen in der Region, an Arabellion, Islamismus und Dschihadismus —Phänomene, die sich tiefgreifend auf das Leben der Menschen auswirken und deren Folgen auch in Europa spürbar sind. Und zum anderen daran, dass die arabischen Gesellschaften ausnehmend jung sind — und stetig wachsen: Vor einem Jahrzehnt lebten in den arabischen Ländern etwas mehr als 300 Millionen Menschen, 2050 könnten es nach Prognosen der Vereinten Nationen fast doppelt so viele sein, 600 Millionen. Je ärmer ein Land ist, desto jünger ist dabei meist die Bevölkerung; im, kriegsgeschüttelten Jemen beispielsweise sind 60 Prozent der Bevölkerung jünger als 25 Jahre. Im reichen Bahrein sind es dagegen nur 33 Prozent

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Die Brisanz liegt in der Kombination beider Phänomene: Viele junge Menschen in widrigen politischen und wirtschaftlichen Umständen, das begründet nicht zuletzt einen großen Anreiz, auszuwandern. Zugleich aber auch, so jedenfalls die Befürchtung vieler, eine Anfälligkeit gegenüber radikalen Ideologien. Schon vor mehr als zehn Jahren wurde die Jugend in der arabischen Welt als „Zeitbombe” bezeichnet, die eines Tages inmitten der repressiven Regime im Nahen und Mittleren Osten hochgehen würde. Nach dem Zwischenspiel der Arabellion ist das Bild heute wieder ähnlich. Den militärischen Niederlagen des „Islamischen Staats” (IS) zum Trotz scheint im gewaltbereiten Islamismus eine stete Anziehungskraft auf junge Araber zu liegen. Ist dieses Bild aber berechtigt?

Das ist gar nicht leicht zu sagen, denn dem großen Interesse zum Trotz lagen lange Zeit kaum belastbare Daten zum Thema vor. Die Herrschenden in der arabischen Welt zeigten traditionell wenig Interesse daran, die Ansichten, Wünsche und Hoffnungen der jungen Menschen in ihren Ländern allzu genau in Erfahrung zu bringen. Insbesondere dann, wenn es um die großen Tabuthemen ging: Sexualität, Religion und Politik. Es kam vor, dass Befragungen erschwert oder verboten wurden. Hinzu kam und kommt die Schwierigkeit, vergleichbare qualitative Daten zu erheben in einer Region, die von gewaltsamen Konflikten geprägt ist.

Demzufolge gibt es nicht viele fundierte Studien, die sich den Sichtweisen arabischer Jugendlicher widmen. Seit 2009 veröffentlicht die in Dubai ansässige PR-Agentur ASDA’A Burson-Marsteller fast jährlich den „Arab Youth Survey”, der auf Befragungen von 3500 Jugendlichen in 16 Ländern der Region basiert. Er gibt Einblicke in die Einstellungen der Menschen zwischen 18 und 24 Jahren zu aktuellen Entwicklungen: So lautete ein Resümee im Jahr 2014, dass traditionelle Werte, etwa der Einfluss von Religion und Familie, unter arabischen Jugendlichen an Bedeutung verlieren. Zugleich äußerten mehr Heranwachsende als im Jahr davor Enttäuschung über die stagnierende politische Entwicklung nach der Arabellion. 2016 kam die Studie zu dem Schluss, dass die Terrormiliz IS unter jungen Erwachsenen der Region auf verbreitete Ablehnung stößt. Generell wurde die Rolle des

Islams kritisch gesehen: Mehr als die Hälfte der Befragten waren der Meinung, Religion habe ein zu großes Gewicht, und fast drei Viertel sahen in der verschärften Konfrontation zwischen Sunniten und Schiiten einen wichtigen Grund für die Unruhen in der Region.

So interessant die Bestandsaufnahmen des „Arab Youth Survey” sind — nicht zuletzt mit Blick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen arabischen Ländern —, lassen die Erhebungen im Detail jedoch viele Fragen offen. Mit wesentlich größerem Aufwand und differenzierter Methodik hat sich nun die Friedrich-Ebert-Stiftung dem Thema genähert. Für die Studie „Zwischen Ungewissheit und Zuversicht”, die im Januar in drei Sprachen als Buch erscheint, wurden im vergangenen Jahr 9000 Jugendliche zwischen 16 und 30 Jahren in acht arabischen Ländern ausführlich befragt: Ägypten, Bahrein, Jemen, Jordanien, Libanon, Marokko, Palästina und Tunesien — sowie syrische Flüchtlinge im Libanon.

Ein Teil der Studie kreist um zwei Begriffe: Unsicherheit und Ungewissheit. Dabei bezieht sich Unsicherheit, wie der Wirtschaftsgeograph Jörg Gertel .von der Universität Leipzig bei einer Veranstaltung in Berlin im Dezember erläuterte, auf die unmittelbare Gefährdung des eigenen Lebens — während Ungewissheit langfristig unvorhersehbare Zukunftsperspektiven bezeichnet. Gertel, der die Studie federführend betreute, verwies auf die Rahmenbedingungen, unter denen junge Araber heute aufwachsen: „Nie gab es so enge Verflechtungen zwischen dem Mittelmeerraum und uns wie derzeit.”

Zugleich seien die Lebensumstände arabischer Jugendlicher extrem unterschiedlich. Die politischen und ökonomischen Krisen und die Gewalt setzen sie zahlreichen Spannungen aus. Bemerkenswert ist es angesichts dessen, dass viele von ihnen — so ein Ergebnis der Studie — dennoch die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht verloren haben. 65 Prozent blickten mit Zuversicht in die Zukunft — und damit knapp mehr als in der vergleichbaren deutschen Altersgruppe laut der Shell Jugendstudie von 2015. Die Unterschiede innerhalb der Region Näh- und Mittelost seien teilweise größer als zwischen der Region und Deutschland, so Gertel.

Ist Deutschland, ist Europa ein Sehnsuchtsort für die arabische Jugend? In der ganzen Region sind laut der Studie der SPD-nahen Stiftung nur knapp zehn Prozent fest zur Migration entschlossen. Viele leben eng verwoben mit ihrem familiären Umfeld und insbesondere mit der Elterngeneration; selbst wenn sie schon über einen eigenen Hausstand verfügen. Das hat Gertel zufolge oft ökonomische Gründe: „Die Familie ist das wichtigste Sicherungs- und Bezugssystem.” Gerade in Zeiten steigender Ungewissheit stehen, neben stabilen Partner- und Familienbeziehungen, für viele der Befragten Recht, Ordnung und Sicherheit weit oben in der Werteskala. Noch wichtiger ist nur das Vertrauen in Gott. Hier kommt die Studie zu dem Schluss, dass Religion wieder an Bedeutung gewinnt — vermehrt bei Frauen und Wohlhabenden, anders als früher aber stärker auf individueller Ebene. 83 Prozent der Befragten fanden, Religion sei Privatsache.

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