MESOP NEWS „SEHER“ : SELAHATTIN DEMIRTAS THE ARTIST – PORTRAIT EINES FREUNDES IM GEFÄNGNIS ERDOGANS
Daß er künstlerische Ambitionen besitzt, hat Selahattin Demirtas der Chef der kurdischen Oppositionspartei HDP, schon während des türkischen Wahlkampfes 2015 bewiesen. Damals nahm der Anwalt und Politiker bei einem Fernsehinterview die türkische Laute Saz zur Hand, spielte und sang. Seit fast einem Jahr sitzt der 44 Jährige nun schon im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne.
Er hatte sich als ein ernstzunehmender Herausforderer Erdogans gezeigt, und der fegte ihn von der politischen Bühne, indem er ihm (wie Tausenden anderen auch) terroristische Aktivitäten vorwarf. Doch Demirtas’ Wille zum politischen Widerstand ist ungebrochen. So oft es geht, wendet er sich über seinen Anwalt an die Öffentlichkeit – mit direkten politischen Statements, aber auch in Form von Kunst und Literatur. Zur Überraschung seiner Anhänger tauchte schon bald nach der Inhaftierung das Foto eines Gemäldes auf, das Demirtas im Gefängnis gemalt hatte.
Es zeigt ein kraftstrotzendes Pferd mit wehender Mähne und scheint den Willen des Politikers zur Freiheit symbolisieren zu wollen. Dann, im Juni, am Internationalen Tag des Kindes, bekam die Öffentlichkeit ein neues Demirtas-Gemälde zu sehen: Ein Junge blickt darauf scheu durch eine halb geöffnete Tür. Kurz darauf kehrte Demirtas’ Anwalt mit einem Gedicht vom Gefängnisbesuch zurück. Es heißt “Ansteckender Mut” und wurde umgehend von den Behörden verboten, da es „terroristische Propaganda” sei. Nun ist Demirtas sogar zu einem verlegten Schriftsteller geworden: Mitte September hat der türkische Verlag Dipnot eine Sammlung von Kurzgeschichten herausgebracht. Das Buch trägt den türkischen Frauennamen „Seher” als Titel – „Seher” bedeutet „Morgendämmerung” Dernirtas hat die Geschichten allesamt in seiner Zelle geschrieben.
Sie wurden erst an den Verlag gefaxt, nachdem die Gefängnisleitung sie geprüft hatte. Die literarische Qualität der Kurzgeschichten lässt nun nicht gerade darauf schließen, dass ohne die Veröffentlichung ein großer Schriftsteller an Demirtas verlorengegangen wäre. Trotzdem verkauft sich das Buch in der Türkei wie warme Sesamkringel; innerhalb von wenigen Tagen ist „Seher” dort zum Besteller avanciert. Die Leute kaufen das Buch als Unterstützung für Demirtas und alle anderen Inhaftierten; als Zeichen des Widerstands gegen Erdogan und weil sie genug haben von dessen autokratischem Gebaren. Und sie verschenken es an Menschen, bei denen sie sich gewiss sein können, dass man dieselben politischen Ansichten teilt. Gerade ist die zehnte Auflage von „Seher” erschienen. Die Farbe des Covers ist jedes Mal eine andere. Man wolle so, wie der Dipnot-Verleger gesagt hat, „Demirtas’ farbenfroher Persönlichkeit” gerecht werden. In einem -Interview hat Demirtas einmal selbstironisch erzählt, wie ein Freund reagierte, als er ihm ankündigte, dass er es mal mit dem Schreiben versuchen wolle. Der Freund sagte: „Ach, Bruder, muss das denn jetzt wirklich sein?”
Wie gut für die Türkei, dass es sein musste.