MESOP NEWS MEINUNG : Referendum zur Staatsgründung

Die Kurden im Nordirak verdienen einen eigenen Staat

Kommentar von Daniel Steinvorth 31.8.2017, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Die Kriege im Irak und in Syrien haben mit den Kurden einen Gewinner hervorgebracht. Nun möchten sie im Nordirak ihren eigenen Staat gründen. Das ist tollkühn, aber verständlich.

Es gibt viele Antworten auf die «kurdische Frage», doch das türkische Parlament entschied sich vor kurzem für die schlichteste. Es entschied, die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht der grössten Minderheit im Land einfach zu negieren. Wieder einmal. Mit den Stimmen der islamistischen Regierungspartei AKP und der rechtsextremen MHP wurde beschlossen, die Begriffe «Kurdistan», «kurdische Regionen», «Armenier-Genozid» und einige andere unbehagliche Wörter auf den Index zu setzen. Abgeordneten, die sie in den Mund nehmen, droht laut Gesetz eine Geldstrafe oder der Ausschluss aus dem Parlament. Dass der frühere Staatschef Abdullah Gül bei einer Reise in den Irak 2009 selber von «Kurdistan» sprach, ist vergessen. Dass sein Nachfolger Recep Tayyip Erdogan einst auf die Kurden zuging, dass er ihnen versprochen hatte, ihre Identität anzuerkennen: einerlei. In der Türkei stehen die Zeichen nicht auf Öffnung, sie stehen auf Restauration.

Land in Sicht?

Eine andere Antwort auf die kurdische Frage fanden Anfang Juni im nordirakischen Erbil die Vertreter kurdischer Parteien und der Präsident der autonomen Region Kurdistan, Masud Barzani. Sie beschlossen, am 25. September ein Referendum über die Gründung eines neuen Staates abzuhalten. Die Bevölkerung in der autonomen Region, die bereits ein De-facto-Staat ist, aber auch jene in den ölreichen Kurdengebieten ausserhalb der Regionalverwaltung soll abstimmen, ob sie noch Teil des Iraks sein will. Das Vorhaben ist heftig umstritten. Weder die Zentralregierung in Bagdad noch die Türkei wollen es hinnehmen, auch der Nachbarstaat Iran lehnt es scharf ab. Doch Barzani scheint überzeugt zu sein von seinem Coup. Er wolle «im Schatten der Flagge eines unabhängigen Kurdistan» sterben, liess der 70-Jährige die internationale Presse wissen. Im kurdischen Nordirak stehen die Zeichen auf Konfrontation.

Nach Jahrzehnten der Repression und der Verfolgung wollen die Kurden Fakten schaffen – zumindest auf einem Teil ihres traditionellen Siedlungsgebietes.

Nach Jahrzehnten der Repression und der Verfolgung wollen die Kurden Fakten schaffen – zumindest auf einem Teil ihres traditionellen Siedlungsgebietes. Im Nordirak und auch in Nordsyrien sehen sie sich auf der Gewinnerspur. So haben sie im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) in beiden Ländern viele Opfer gebracht, aber auch grosse Gebietsgewinne gemacht. Im Irak kontrollieren die Peschmerga-Kämpfer heute 70 Prozent der sogenannten umstrittenen Gebiete, auf welche sowohl die Regionalregierung in Erbil wie auch die Zentralregierung in Bagdad Anspruch erheben – und zu denen auch die Stadt Kirkuk gehört: Obwohl in der Erdölmetropole viele Araber, Turkmenen und andere Minderheiten leben, weht hier seit 2014 neben der irakischen die Sonnenflagge der Kurden. Diese wollen ein historisches Unrecht rückgängig machen. Denn Saddam Hussein hatte einst gezielt kurdische Familien aus Kirkuk vertrieben und sunnitische Araber zwangsangesiedelt. Inzwischen sind Zehntausende Kurden in ihr «kurdisches Jerusalem» zurückgekehrt.

In Syrien wiederum bleibt der Nordwesten fest unter kurdischer Kontrolle. Die linken «Volksverteidigungseinheiten» (YPG) konnten sich hier bisher auf die Unterstützung Washingtons verlassen. Die Türkei, die bereits Truppen an der Grenze positioniert hat, sieht in den YPG dagegen kaum mehr als einen Ableger der militanten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Sollten die Amerikaner die YPG fallenlassen, wäre die Existenz der autonomen Region «Rojava» bedroht. Dass der Jihadismus in Syriens Norden ohne Hilfe der Kurden nicht abgewehrt werden kann, scheint aber auch Donald Trump zu wissen. So oder so ist eine Wiederherstellung des Vorkriegsstatus in Nordsyrien nicht mehr vorstellbar. Und selbst wenn den Kurden hier ein staatsähnliches Gebilde verwehrt wird, bleiben sie in Syrien ein Machtfaktor.

Von den grossen Umbrüchen in der Region, dem Staatszerfall im Irak seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 und dem Bürgerkrieg in Syrien seit 2011, haben die Kurden also wie kein anderer Akteur profitiert. Doch die alte Staatenordnung hat das grösste staatenlose Volk der Welt ohnehin nie akzeptiert. Das Sykes-Picot-Geheimabkommen von 1916 zwischen Frankreich und Grossbritannien zog die nahöstlichen Grenzen entlang kolonialer Interessen, nicht ethnischer oder religiöser Zugehörigkeiten. Die Kurdengebiete tauchten auf dem Reissbrett als eigene Nation nicht mehr auf, sondern wurden unter vier Staaten – der Türkei, dem Irak, Syrien und Iran – aufgeteilt. Dass aber zwei dieser Staaten gescheitert sind, sehen heute nicht nur die Kurden so. Was spricht noch dafür, dass sich alle Bevölkerungsgruppen in Syrien und im Irak wieder freiwillig unter eine Herrschaft begeben?

Schon ist im Irak das Zweckbündnis von Schiiten, Sunniten und Kurden gegen den IS in Auflösung begriffen, obwohl die Terrormiliz noch nicht besiegt ist und das Erscheinen einer Nachfolgeorganisation keineswegs ausgeschlossen ist. Wollen sich die Sunniten künftig noch von Schiiten, wollen sich die Kurden noch von Arabern regieren lassen? Das Verhältnis zwischen Erbil und Bagdad ist zerrüttet, der Streit über Öleinnahmen und Lohnauszahlungen weiter unentschieden. Die Zentralregierung versäumte es zudem über Jahre, den Status der umstrittenen Gebiete zu klären, altes Unrecht aufzuarbeiten, Vertriebene zu entschädigen. Wann, wenn nicht jetzt, sollten die Kurden ihr Recht auf Eigenständigkeit geltend machen?

Türkische Drohungen

Dass sie dieses Recht angesichts ihrer Leidensgeschichte und der völkerrechtlichen Prinzipien der Selbstbestimmung verdienen, sollte unbestritten sein. Im Westen, zumindest in der Öffentlichkeit, haben die Kurden Sympathien gesammelt. Nicht erst seit ihrem Kampf gegen den IS, auch seit dem Giftgasangriff von Halabja 1988 und den Repressionen in der Türkei gibt es eine breite Anteilnahme für die kurdische Sache. Doch obwohl in den vergangenen Jahrzehnten auf dem Balkan, auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und zuletzt in Afrika neue Staaten entstanden sind, scheinen Grenzänderungen im Nahen Osten tabu zu sein. Keine westliche Regierung hat bisher Zustimmung für einen Kurdenstaat im Nordirak signalisiert: Weder die Europäer, die viel Kriegsmaterial nach Erbil schickten, noch die Amerikaner wollen den Irak zerfallen sehen. Ein Rumpfstaat ohne die Kurden, so ihre Sorge, wäre im schiitischen Süden endgültig unter iranischer Ägide und würde die Sunniten im Zentrum noch weiter marginalisieren.

Der andere Grund ist die Rücksichtnahme auf die Türkei, das Land mit dem grössten kurdischen Bevölkerungsanteil. Obwohl Ankara und Erbil bisher gute Kontakte pflegten und von ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit enorm profitierten, droht die türkische Regierung Barzani mit den «selbstmörderischen» Konsequenzen einer Unabhängigkeit. Die Verhinderung eines souveränen Kurdistan aus Angst vor Abspaltungsbewegungen im eigenen Land ist türkische Staatsräson. Und dabei spielt es für Erdogan keine Rolle, dass die kurdischen Nationalisten im Irak mit den linksrevolutionären Anhängern der PKK in der Türkei und den YPG in Syrien eigentlich in scharfer Konkurrenz stehen; dass Barzani von einem «Gross-Kurdistan» nichts wissen will und von «vier Teilen» des kurdischen Volkes spricht.

Denn das ist ja die Realität: Nur wenig ausser dem Gefühl, zu einer fremdbestimmten Minderheit zu gehören, eint die sprachlich, religiös und kulturell verschiedenen Kurden in den vier Staaten – von ihren politischen Differenzen ganz zu schweigen: Selbst innerhalb des Nordiraks befehdeten sich mit Barzani und Jalal Talabani lange Zeit die Führer zweier Clans und Ideologien. Mehr noch als ihre äusseren Feinde stehen sich die Kurden fast immer selbst im Weg. So bestehen im Nordirak, in den Herrschaftsgebieten der «Demokratischen Partei Kurdistans» und der «Patriotischen Union Kurdistans», zwei parallele Verwaltungen. Die Demokratie liegt brach: Barzanis Zeit als Präsident lief schon vor zwei Jahren ab, doch der Kurdenführer will nicht von der Macht lassen, würgt oppositionelle Stimmen ab. Kritiker glauben, dass es ihm mit dem Referendum denn auch in erster Linie um die Festigung seiner Macht geht. Doch wer auf die vielen Hürden einer Unabhängigkeit hinweist, wer vor Bürgerkriegsszenarien warnt und davor, dass die Kurden nicht ausreichend vorbereitet sind, gilt schnell als Verräter an der kurdischen Sache.

Klar ist, auf eine Abstimmung folgt kein Automatismus hin zur Unabhängigkeit. Der Plan, sich am 25. September gegen den Rest der Welt zu stellen und allen Gefahren zum Trotz einen neuen Staat auszurufen, bleibt tollkühn. Verdenken würde man dies den Kurden trotzdem nicht.

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