MESOP MIDEAST WATCH : Was der Westen in Kurdistan anders machen müsste, um die Iraker von der Flucht nach Europa abzuhalten

Kurdistan gilt als Hort der Stabilität und wird von den Europäern grosszügig unterstützt. Die herrschenden Parteien sehen darin einen Blankocheck, um weiterzumachen wie bisher. Das trägt zur Flucht vieler Kurden bei.Inga Rogg, Erbil12.11.2021,  NZZ

Karwan Selim hat in diesem Jahr etwas für ihn Ungeheuerliches getan. Als im Oktober im Irak ein neues Parlament gewählt wurde, hat der Kurde aus einem Dorf nahe Erbil zum ersten Mal in seinem Leben nicht die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) gewählt, sondern eine kleine Oppositionspartei. Nicht aus Überzeugung, wie er sagt, sondern um der KDP einen Denkzettel zu verpassen.

Damit ist Karwan Selim nicht allein. Viele Kurden sind frustriert über die Korruption, den Klientelismus und die Misswirtschaft der Regierungspartei, die die politische und wirtschaftliche Krise nicht in den Griff bekommt. Viele sehen keine Perspektive mehr im Nordirak und ergreifen nun die Chance, über Weissrussland nach Europa zu gelangen.

Nur die Fassade glitzert

Wer die Hauptstadt des kurdischen Teilstaats Erbil von früher kennt, kommt heute aus dem Staunen nicht heraus: Neue Stadtteile sind entstanden, es gibt «Gated Communities» mit klingenden Namen wie «Dream City», Hochhäuser und Autobahnen. Und die konservative Stadt ist liberaler geworden. Frauen ohne Kopftuch sind inzwischen eine Selbstverständlichkeit, und im Vergnügungspark im Norden der Stadt treffen sich junge Frauen und Männer ganz ungezwungen.

Die Regionalhauptstadt Erbil hat sich in den letzten Jahren prächtig entwickelt. Doch in den Dörfern sieht die Lage ganz anders aus.

Doch wer in die Dörfer fährt, bekommt ein anderes Bild zu sehen. Es sind Dörfer, in die weiterhin nur holprige Strassen führen, die nur über einen selbst finanzierten Stromgenerator verfügen und in denen das Wasser knapp ist. Die Bauern leiden unter dem zweiten Dürrejahr in Folge und werden ihre Produkte nicht los, weil die türkischen Importe billiger sind. Selbst in Kleinstädten fehlt es an Schulen, Klassen mit mehr als fünfzig Schülerinnen und Schülern sind keine Seltenheit.

Seit 2019 häufen sich die Proteste gegen die KDP wie auch gegen die Patriotische Union Kurdistans (PUK), die die Region um Suleimaniya kontrolliert. Vertreter der KDP entgegnen auf Kritik: «Ihr wisst nicht, wie es unter Saddam war.» Damit demonstriert sie freilich nur, wie abgehoben die Partei mittlerweile ist, die mit Nechirvan Barzani den Präsidenten und seinem Cousin Masrur Barzani den Ministerpräsidenten der Region stellt, während im Hintergrund Masrurs Vater Masud Barzani weiter die Fäden zieht.

Bei manchen Investoren wird Erbil als das neue Dubai gehandelt, von der Entwicklung haben aber längst nicht alle profitiert.

Wo hohle Phrasen nicht wirken, verweisen Regierungsvertreter auf Bagdad, das Ölgelder zurückhalte – was so nicht stimmt. Oder sie reagieren mit offener Repression, schliessen kritische Medien, verhaften Aktivisten und klagen sie wegen «Terrorunterstützung» an. Dabei kann die Regionalregierung auf die uneingeschränkte Unterstützung der Amerikaner und Europäer zählen. Die Kurden sind treue Verbündete des Westens, und Kurdistan gilt als Hort der Stabilität.

Die EU ist grösster Geldgeber

Die EU hat dem Irak seit 2014 mehr als eine Milliarde Euro für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes sowie für humanitäre Hilfe und die Entwicklung der Wirtschaft gezahlt. Ein Grossteil der Gelder fliesst nach Kurdistan. Doch die versprochenen politischen Reformen sowie die Restrukturierung der Sicherheitskräfte kommen dort nur schleppend voran. Vielmehr nutzen die Parteien den internationalen Rückhalt, um weiterzumachen wie bisher.

Seit Jahren bilden deutsche Soldaten Peshmerga-Einheiten aus, doch kommt die Reform der kurdischen Sicherheitskräfte kaum voran.

Die Flüchtlingskrise an der weissrussisch-polnischen Grenze dürfte diesen Zustand noch verfestigen. Die meisten der Migranten und Flüchtlinge kommen aus Kurdistan. Unter dem Druck der Europäer hat die Regionalregierung das weissrussische Honorarkonsulat in Erbil geschlossen. Der Vizepräsident der EU-Kommission Margaritis Schinas hat zudem eine Reise in den Nahen Osten angekündigt, die ihn auch nach Erbil führen soll, um die Migration zu stoppen.

Die Regionalregierung hat versichert, sie werde zurückkehrende Flüchtlinge unterstützen, die Fluchtursachen angehen sowie Reformen umsetzen. Allein vielen Kurden fehlt der Glaube, dass den Worten auch Taten folgen. Schon zu oft haben sie solche Versprechungen gehört.

Ein politisches Ventil für den Unmut fehlt

Noch desaströser als in Erbil ist die Lage in Suleimaniya. Nicht nur hinken die Stadt und die umliegende Provinz beim Wiederaufbau hinterher. Seit Monaten tobt innerhalb der PUK ein erbitterter, teilweise gewalttätiger Machtkampf zwischen Bafel und Lahur Talabani, einem Sohn und Neffen des verstorbenen Parteigründers Jalal Talabani. Das sorgt für ein Klima der Unsicherheit und Angst. Obwohl die Kurden von Suleimaniya berühmt sind für ihre rebellische Ader, sind die Proteste weitgehend verstummt.

Sie würde ihren Söhnen nie erlauben, an einer Demonstration teilzunehmen, sagt Shirin Abdulla. Wie Karwan Selim glaubt auch Shirin Abdulla nicht mehr daran, dass sich über Wahlen eine Veränderung erreichen lässt. Dazu trägt auch bei, dass die Partei Goran, die vor zwölf Jahren als Reformkraft antrat, ihren Glanz verloren hat. Seit zwei Jahren ist sie Teil der kurdischen Koalitionsregierung und in den Augen vieler Wähler genauso korrupt wie KDP und PUK.

Viele ihrer einstigen Anhänger wählten im Oktober die kleine Partei Neue Generation, obwohl die meisten in ihr keine echte Alternative sehen. Insgesamt fehlt es in Kurdistan an einer Stimme, die der Unzufriedenheit politisch Nachdruck verleihen könnte. Auch deshalb fliehen die Kurden zu Tausenden aus ihrer Region.

 

In der Parlamentswahl im Oktober hat die KDP gut abgeschnitten, doch sind viele Wähler gar nicht erst zur Wahl gegangen.

Vermutlich wird Erbil nach der Schliessung des weissrussischen Konsulats weitere Schritte unternehmen, um die Fluchtbewegung zu stoppen. Für die EU wäre damit zumindest ein Teil des Problems mit Weissrussland gelöst. Will sie die «Fluchtursachen bekämpfen», wie es immer heisst, muss sie aber ihren Kurs in Kurdistan überdenken. Die Politik von «Stabilität zuerst, dann Demokratie» funktioniert nicht mehr. Berlin und Brüssel müssen Druck ausüben, damit die Versprechen von Reformen nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben. Andernfalls kommt die nächste Flüchtlingskrise bestimmt.