MESOP MIDEAST WATCH: Türkei-Experte zu Erdogans Nato-Wende: „Sie wollen die Großmächte gegeneinander ausspielen“
12.7.2022, MERKUR Bedrettin Bölükbasi Nato-Mitglied Türkei hat seinen Widerstand gegen den Beitritt Finnlands und Schwedens aufgegeben. Doch der Ärger hallt nach – und hat Gründe, wie der Experte Günter Seufert erklärt.
München — Die Türkei ist für die Nato ein strategisch wichtiges, aber keineswegs einfaches Mitglied. Der Streit um den Beitritt von Schweden und Finnland ist nur das letzte Glied einer Kette von türkischen Positionen, die innerhalb der Nato für Unruhe sorgen. Alle Nato-Länder bis auf die Türkei begrüßten den geplanten Beitritt der skandinavischen Länder, doch Ankara warf ihnen „Terrorunterstützung“ vor und blockierte den Prozess. Erst mit einem Memorandum, das die Bedenken der Türkei aufgriff, wurde der Weg freigeräumt.
Die Liste der Zugeständnisse an die Türkei ist lang. Unter anderem verpflichten sich die skandinavischen Länder, sowohl die verbotene Arbeiterpartei PKK als auch die YPG nicht zu unterstützen. Dabei ist die YPG ein US-Verbündeter im Kampf gegen die IS-Terrormiliz, allerdings betrachtet Ankara die Gruppe als den syrischen Ableger der PKK. Darüber hinaus solle es kein Waffenembargo mehr gegen die Türkei geben und Schweden und Finnland „Terrorverdächtige“ zügig an die Türkei ausliefern. In den Reihen der schwedischen Opposition gab es Vorwürfe der „Verbeugung“ vor Erdogan, denn als „Terrorverdächtige“ gelten zahlreiche Journalisten oder Oppositionelle. Die Türkei gab an, sie habe „bekommen, was sie wollte“.
Nato-Streit mit Erdogan: „Türkei will nicht erneut zum Anhängsel des Westens werden“
Doch woher rühren die beständigen Unstimmigkeiten zwischen der Türkei und dem Westen? Im Gespräch mit Merkur.de von IPPEN.MEDIA sieht der Türkei-Experte Günter Seufert einen Drahtseilakt der Regierung um Präsident Recep Tayyip Erdogan. „Die Türkei wird nicht erneut zum Anhängsel des Westens werden. Die Türkei will aber auch nicht ein Anhängsel Russlands werden“, sagt Seufert, Leiter der Forschungsgruppe Türkei/Centrum für angewandte Türkeistudien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Die Türkei sehe ihre Zukunft stattdessen darin, so Seufert, „dass sie zwischen den Großmächten, also USA und Russland und eventuell später auch Russland und China einen Balance-Akt aufführt“. Im Zentrum würden dabei die eigenen Interessen stehen. Für den Experten sieht dies folgendermaßen aus: „Die Türkei wird ihre eigenen Interessen einmal gegen die eine Großmacht, mithilfe der anderen Großmacht, und mit der anderen Großmacht gegen die erste Großmacht durchzusetzen versuchen.“ Eine Haltung, welche die Regierung Seufert zufolge auch in strategischen Diskussionen offen zum Ausdruck bringt.
Diese Art der Außenbeziehungen beobachtet man allerdings nach Einschätzung des Experten nicht nur bei Erdogan. „Es verhält sich ja nicht nur die Türkei so, sondern auch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Indien“, erklärt Seufert. Dies sei auch „ein Stück weit Trend“. Bei der Türkei, einem Nato-Mitglied, sei dies jedoch auffälliger: „Indien und die VAE sind keine Nato-Mitglieder. Von ihnen kann man nicht erwarten, dass sie die Nato-Bedrohungsperzeption teilen. Aber ein Mitglied sollte das tun.“