MESOP MIDEAST WATCH : KURDEN IM NORDSYRISCHEN KOBANE – NIEMAND BEKÄMFTE ENTSCHLOSSEN UND WIRKUNGSVOLL DIE ISLAMISTEN WIE SIE!

Nordsyrien – In Kobane bezwangen sie den IS – jetzt droht Gefahr durch Erdogan

15.03.2025, 08:54 Uhr • Von Jan Jessen (Text) und André Hirtz (Fotos)  DER FUNKE

Kobane. In der Stadt haben die Menschen wieder Angst. Islamisten machen gemeinsame Sache mit der Türkei, es droht die Einkesselung der Stadt.

Hinter der Rundhalle mit dem von weitem sichtbaren roten Stern breiten sich die Reihen mit den Gräbern der Gefallenen aus. Auf den Grabsteinen sind die Gesichter der Toten abgebildet. Es sind Tausende. Manche von ihnen sind blutjung gestorben, die meisten in den erbitterten Kämpfen gegen den „Islamischen Staat“. Auf einem neuen Gräberfeld der Gedenkstätte fehlen die Tafeln noch. Auf einem der frisch ausgehobenen Gräber kauert eine junge Frau, sie weint und klagt. Eine andere hält sie in den Armen, streichelt sie, versucht, sie zu trösten. Wer hier zur letzten Ruhe gebettet wird, ist in den Kämpfen gegen einen anderen Feind gefallen.

Kobane im Norden Syriens, direkt an der Grenze zur Türkei.

Graue, meist zweigeschossige Häuser mit Flachdächern, staubige Straßen, gesäumt von kleinen Läden, Werkstätten, Imbissbuden. In der Luft liegt der Abgasdunst von Motorrädern und klapprigen Autos. Die Stadt ist längst keine Ruinenlandschaft mehr, das Leben ist zurückgekehrt. Noch immer sind aber die Narben der Gefechte zu sehen, die hier vor zehn Jahren tobten. Wie wohl keine andere Stadt in Syrien ist Kobane ein Symbol des Kampfes gegen die Fanatiker des „Islamischen Staates (IS)“, die nach 2013 in der Region ihr Terrorkalifat errichteten. In Kobane erlitten sie ihre erste Niederlage.

Herbst 2014: Kämpfer der Terrororganisation stürmen die Stadt, ausgerüstet mit schwerer Artillerie und Panzern, die sie im Sommer zuvor von der irakischen Armee bei der Eroberung Mossuls erbeutet hatten. Sie bomben Kobane in Schutt und Asche. Die syrisch-kurdischen Verteidiger scheinen auf verlorenem Posten zu stehen, verlieren Viertel nach Viertel. Schließlich erhalten sie militärische Unterstützung von kurdischen Kämpfern aus dem Irak, aus der Türkei, selbst aus dem Iran. Die von den USA geführte Anti-IS-Koalition greift ein und attackiert die Terroristen mit Luftschlägen. Es gelingt den Verteidigern, die Terroristen Anfang 2015 zurückzuschlagen.

Syrien: Heute ist Kobane erneut bedroht

Heute ist Kobane erneut bedroht. „Wir haben Angst“, sagt Dalil Hanif Ezez. Er hat einen Laden mit Gemüse und Obst am Arin-Mirkan-Kreisverkehr, der nach einer jungen kurdischen Kommandeurin benannt ist. Sie hatte sich in den Abwehrkämpfen in einer ausweglosen Lage selbst in die Luft gesprengt, um das Leben anderer Soldatinnen zu retten. Sie riss bei ihrer Verzweiflungstat zehn IS-Kämpfer mit in den Tod. Ezez fürchtet sich vor islamistischen Milizen der Syrischen Nationalarmee (SNA), die mit der Türkei verbündet sind. Seit Ende November attackiert die SNA mit türkischer Luftunterstützung Regionen südwestlich von Kobane. Das Ziel: die Einkesselung der Stadt.

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Es ist eine militärische Eskalation im Schatten des Umsturzes in Syrien. Bereits seit Jahren versucht die Türkei, die kurdisch dominierten Selbstverwaltungsstrukturen im Norden des Landes zu zerschlagen. Die dort herrschende PYD betrachtet Ankara als Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei, Teilen Europas und in den USA als Terrororganisation gilt. Der militärische Arm der Selbstverwaltung, die Demokratischen Streitkräfte Syriens (SDF), waren in den vergangenen Jahren zwar der engste Partner des Westens im Kampf gegen den IS – für die Türkei und die mit ihr verbündeten islamistischen SNA-Milizen sind sie aber ein Gegner.

Türkei gegen Kurden: „Greifen uns an mit allem, was sie haben“

Die Türkei hat bereits mehrfach größere Militäroperationen im Norden Syriens durchgeführt und dort Gebiete besetzt. „Seit dem 27. November greifen sie uns wieder unentwegt mit allem, was sie haben“, sagt Siyamand Ali, einer der Sprecher der SDF. Kurz vor dem Sturz Assads erobern die SNA-Milizen eine bis dahin kurdisch kontrollierte Enklave nördlich von Aleppo, danach die Stadt Manbidsch, aus der die SDF vor neun Jahren die Terroristen des IS vertrieben hatten.

 

Kriegsreporter Jan Jessen (rechts) in Kobane.© FUNKE Foto Services | André Hirtz

Jetzt toben heftige Kampf am Westufer des Euphrat, insbesondere am Tischrin-Damm. Es ist ein ungleicher Kampf. Die SNA erhält Luftunterstützung durch türkische Drohnen und Kampfjets. Die SDF-Kämpfer müssen sich in Tunneln verstecken und attackieren ihrerseits mit selbstgebauten Kamikazedrohnen, wie sie auch von den ukrainischen Streitkräften eingesetzt werden. „Ohne die türkische Luftunterstützung hätte unser Gegner keine Chance“, ist sich Ali sicher. „Das sind Söldner, die zwar Islamisten sind, aber vor allem für Geld und nicht für Ideale kämpfen.“

Die in dieser Woche anhaltenden Kämpfe in der Region zeigen auch den begrenzten Einfluss der von der islamistischen Hayat-Tahrir-as-Scham dominierten Übergangsregierung. Am Montag haben Übergangspräsident Ahmad al-Schaara und Mazlum Abdi, der Oberkommandierende der SDF, in Damaskus ein als historisch bezeichnetes Abkommen unterschrieben.

Syrien: Neues Abkommen macht Hoffnung – doch Angriffe der Milizen halten an

Es sieht die Integration der SDF und der zivilen Einrichtungen in Nordsyrien in einen künftigen syrischen Staat vor, was einem Ende der Selbstverwaltung gleichkommt. Jedoch werden die Kurden in diesem Abkommen erstmals als „indigene“ Gemeinschaft anerkannt und es werden ihnen staatsbürgerliche Rechte zugesichert – zugleich verständigten sich Abdi und al-Schaara auf einen Waffenstillstand „auf allen syrischen Territorien“. Trotzdem halten die Angriffe der von der Türkei gesteuerten SNA-Kämpfer an.

Sollten die islamistischen Milizen durchbrechen, droht die Einkesselung Kobanes – die Gebiete westlich und östlich der Stadt sind türkisch besetzt. „Dann drohen dort so heftige Straßenkämpfe wie vor zehn Jahren“, warnt Ali. Die Kurden wollen die Stadt auf keinen Fall kampflos aufgeben.

Syrien: „Kurden haben für die ganze Welt gekämpft, aber niemand beschützt uns“

Unter den etwa 200.000 Menschen in der Region geht die Angst um. „Die Kinder fürchten sich vor dem Geräusch der Bomben und Drohnen“, erzählt Talal Sadun. Er ist 60 Jahre alt und in Kobane aufgewachsen. Sadun sitzt auf einem Plastikstuhl am Arin-Mirkan-Kreisverkehr, in einem traditionellen braunen kurdischen Gewand, er trägt einen beachtlichen Schnauzbart.

 

Sadun hat die Geschichten aus dem besetzten Manbidsch gehört, in dem die SNA-Milizen nach der Eroberung geplündert und gemordet haben sollen, so wie schon in Afrin im Nordwesten Syriens, das sie 2018 einnahmen. „Wir können hier kein normales Leben leben“, klagt er. In der Stadt gibt es seit zwei Monaten keinen Strom mehr und kein fließendes Wasser, seit der Tischrin-Damm bei den Kämpfen beschädigt wurde. Zudem rechnen die Menschen ständig damit, bombardiert zu werden. Der 60-Jährige ist empört, dass niemand etwas gegen die türkischen Angriffe unternimmt. „Die Kurden haben hier für die gesamte Welt gekämpft, aber niemand beschützt uns.“

Syrien: In einem Viertel von Kobane weht eine blutrote türkische Fahne – wie eine Drohung

Nicht weit entfernt von dem Kreisverkehr hat die Verwaltung Kobanes den Horror der Kämpfe vor zehn Jahren eingefroren. Im Stadtteil Kanya Kurda stehen die Ruinen von mehrstöckigen Häusern als Mahnung und Erinnerung an die vielen Toten der Schlacht. Wracks von Autos, die der IS damals mit Panzerplatten präpariert hatte, um sie von Selbstmordattentätern in kurdische Stellungen fahren lassen zu können, verrosten dort. An einer Häuserwand ist noch das schwarz-weiße Logo des IS aufgemalt. Hinter einer Lücke zwischen zwei Häuserruinen weht jenseits der nahen Grenze eine riesige blutrote türkische Fahne langsam im Wind. Es ist wie eine Drohung.

Dschalal Musta, 64, sitzt jeden Tag am Eingang dieses Freilicht-Museums des Todes und der Zerstörung. Es ist seine Aufgabe, Besucher durch die Ruinenlandschaft zu führen. „Hier sind viele unserer Freunde gestorben“, sagt er. Hunderttausende Zivilisten mussten damals in die Türkei fliehen. Jetzt trennt eine gewaltige Mauer das Nachbarland von Syrien. „Unsere Situation ist nicht gut. Jeden Tag haben wir Märtyrer am Tischrin-Damm.“ Musta hat eine Bitte an Deutschland: „Sorgt dafür, dass die Attacken durch die Drohnen und die Kampfjets gestoppt werden.“ Ohne die türkischen Luftangriffe, so glaubt auch er, lassen sich die SNA-Milizen stoppen. Kobane könnte eine zweite große Schlacht erspart bleiben.