MESOP MIDEAST WATCH : HALBZEIT! Hizbullah-Anhänger feiern sich in Trümmern als Sieger

Von Christoph Ehrhardt, 27.11.2024, FAZ

Tausende Libanesen fahren am ersten Tag des Waffenstillstands zurück in zerstörte Dörfer. Monate heftiger israelischer Luftangriffe haben das Land schwer gezeichnet. Die Hizbullah inszeniert sich trotzdem als Sieger.

Manche ließen nur Stunden verstreichen, bis sie ihre Habseligkeiten verluden und sich auf den Weg zurück in ihre zerstörten Städte und Dörfer machten. Der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hizbullah war gerade in Kraft getreten, da drängten sich auf der Schnellstraße in den Süden Libanons am Mittwochmorgen schon die Autos. „Wir gehen nach Hause!“, riefen die Leute örtlichen Reportern zu.

Auch in den südlichen Vorstädten der libanesischen Hauptstadt Beirut spielten sich Jubelszenen ab. Rückkehrer schwenkten Hizbullah-Flaggen und feierten das vorläufige Ende der Gewalt als einen „Sieg“, den die Hizbullah Israel abgetrotzt habe. Ähnlich klang auch Parlamentssprecher Nabi Berri, dessen schiitische Amal-Bewegung ein innerlibanesischer Alliierter der Hizbullah ist. Er forderte seine vertriebenen Landsleute in einer im Fernsehen übertragenen Rede auf: „Kehrt stolz in eure Dörfer zurück, denn sie haben den Feind besiegt.“

Die Freuden- und Siegesbekundungen passten allerdings nicht so ganz zu den zerstörten Häusern, die deren Kulisse bildeten. Monate heftiger israelischer Luftangriffe haben Libanon schwer gezeichnet. In der Hizbullah-Hochburg im Süden Beiruts ließen israelische Bomben und Raketen immer wieder mehrstöckige Häu­ser in sich zusammenfallen. Manche Dörfer entlang der Grenze wurden dem Erdboden gleichgemacht, Städte in Südlibanon wie Nabatieh sind massiv zerstört. Bevor der Waffenstillstand in Kraft trat, hatte die israelische Luftwaffe noch einmal harte Angriffswellen geflogen. Die Aufräumarbeiten, die am Mittwochmorgen begannen, dürften lange andauern.

Der israelische Abzug soll „graduell“ verlaufen

Einige Gegenden waren auch trotz Waffenstillstandsvereinbarung noch nicht zugänglich für zurückkehrende Vertriebene. „Die Armeeführung bittet die Bürger, mit ihrer Rückkehr in die Dörfer und Städte entlang der Front, in die die israelischen Streitkräfte eingedrungen sind, bis zu deren Abzug zu warten“, erklärten die libanesischen Streitkräfte am Morgen. Das israelische Militär bestätigte einen Zwischenfall, als Soldaten das Feuer auf ein Auto eröffnet hätten, das in einer „verbotenen“ Zone unterwegs gewesen sei, und es zum Umkehren gezwungen hätten.

Der israelische Abzug soll laut An­gaben eines israelischen Regierungsmitarbeiters „graduell“ verlaufen. Die Hizbullah muss sich demnach etwa 30 Kilometer von der Grenze bis nördlich des Litani-Flusses zurückziehen. Ein Kontingent der libanesischen Armee soll helfen, die Vereinbarung durchzusetzen.

Sie fußt im Wesentlichen auf Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrates, die den Krieg zwischen Israel und der Hizbullah von 2006 beendet hatte. Diese war aber niemals von der libanesischen Armee und der UN-Truppe UNIFIL durchgesetzt worden, weshalb ein vom amerikanischen Militär geführtes Komitee die über 60 Tage an­gelegte Implementierung und die Einhaltung der Waffenstillstandsübereinkunft überwachen soll. Laut Angaben des libanesischen Verteidigungsministeriums sollen bis zu 10.000 libanesische Soldaten im Grenzgebiet stationiert werden. Die Armee hatte mit den Vorbereitungen nach ei­genen Angaben am Mittwochmorgen begonnen.

Beide Seiten drohen einander

Doch auch wenn die Waffenruhe zunächst hielt, gilt sie als fragil. Am Mittwoch kreisten noch immer israelische Drohnen über Libanon. Der libanesische Ministerpräsident Nadschib Mikati forderte Israel auf, die Übereinkunft zu „respektieren“. Hassan Fadlallah, ein Parlamentsabgeordneter aus den Reihen der Hizbullah, kündigte an, die Hizbullah behalte sich das Recht vor, sich gegen israelische Angriffe zu verteidigen. Das war ei­ne Reaktion auf israelische Ankündigungen, selbst hart und mit militärischen Mitteln vorzugehen, sollte die Hizbullah gegen die Vereinbarung zu verstoßen.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte am Dienstagabend in einer vorab aufgezeichneten Fernsehansprache eine scharfe Drohung an die Schiitenorgani­sation gerichtet: „Die Länge der Waffenruhe hängt davon ab, was in Libanon passiert“, sagte er. Israel werde dort künftig „volle militärische Handlungsfreiheit“ genießen, darüber herrsche Einvernehmen mit den Vereinigten Staaten.

„Wenn die Hizbullah das Abkommen verletzt und versucht, sich zu bewaffnen, werden wir angreifen. Wenn sie versucht, in der Nähe der Grenze eine terroristische Infrastruktur aufzubauen, werden wir angreifen. Wenn sie eine Rakete abschießt, wenn sie einen Tunnel gräbt, wenn sie einen Lastwagen mit Raketen heranbringt, werden wir angreifen“, sagte Netanjahu, der sich sichtlich Mühe gab, das Abkommen vor den Kritikern in seiner Koalition und der israelischen Bevölkerung zu verteidigen. „Bürger Israels, ich habe euch den Sieg versprochen, und wir werden siegen.“

Wird der Norden Israels wieder besiedelt?

Der ultrarechte Polizeiminister Itamar Ben-Gvir, der als einziger gegen die Waffenruhe gestimmt hatte, hatte das Abkommen als „schweren Fehler“ bezeichnet, durch den Israel die „historische Chance“ verpasse, die Hizbullah „hart zu treffen und in die Knie zu zwingen“. Netanjahu setzte dem die militärischen Erfolge entgegen, die Israel in dem Nachbarland errungen habe. Die Armee habe die Hizbullah „um Jahrzehnte zurückgeworfen“.

An die durch den Raketenbeschuss der Hizbullah vertriebenen Bewohner Nord­israels richtete sich der Ministerpräsident persönlich. „Meine Freunde, ich bin stolz auf euch. Ich bin stolz auf eure Widerstandsfähigkeit“, sagte er und versprach, sich für den Wiederaufbau der zu großen Teilen zerstörten Gemeinden an der israelisch-libanesischen Grenze einzusetzen. Der Erfolg dieses Beschwichtigungsversuchs dürfte indes fraglich sein. Vertreter der Gemeinden im Norden hatten sich schon vor der israelischen Zustimmung zu dem Waffenstillstand kritisch über das Abkommen geäußert. Der Bürgermeister der nördlichen Stadt Shlomi beklagte nun am Mittwoch, dass es für eine Rückkehr der Vertriebenen in die Grenzregion bislang keinen Plan gebe. Die Regierung kümmere sich weder um Entschädigungen noch um den Wiederaufbau.

Netanjahu führte das Argument ins Feld, eine Waffenruhe an der Libanon-Front gebe Israel die Gelegenheit, sich auf die Bedrohung durch Iran zu konzentrieren und verschaffe den israelischen Soldaten eine „Verschnaufpause“. Gleichzeitig isoliere sie die Hamas von der Hizbullah und trenne damit die Fronten. „Wir werden die Hamas vollständig zerschlagen“ sagte er einmal mehr und kündigte an, den Druck auf die Terrororganisation weiter zu erhöhen. Der Krieg im Gazastreifen werde erst beendet, wenn alle Kriegsziele erreicht seien.