MESOP MIDEAST WATCH: Erdogan vor Eskalation in der Kurden-Frage? „Der Westen spielt auf Zeit“

Alexander Eser-Ruperti FRANKFURTER RUNDSCHAU  20-1-23

Die Türkei droht weiter mit einer Eskalation in Nordsyrien, der Westen bleibt offenbar passiv. Was steckt dahinter? Expertin Dastan Jasim sieht mehrere Gründe.

Ankara – Immer wieder droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den kurdischen Kräften in Nordsyrien mit einer Invasion durch Bodentruppen. Der Westen schweigt weitestgehend, gelegentlich kommt leichter Druck aus den USA. Warum ist das so?

Dastan Jasim, Politikwissenschaftlerin und Research Fellow am Giga-Institut für Nahost-Studien in Hamburg, beobachtet ein Spiel auf Zeit des Westens. Gerade angesichts der nahenden Türkei-Wahl. Was wird danach passieren? Klar ist für sie: Es geht um nicht weniger als die gesamte Nahostpolitik des Westens. Ein Gespräch über den Umgang mit der Türkei und eine gefährliche Melange aus Eigeninteressen, Konzeptlosigkeit und Abwarten. Aber auch Erdogan könnten etwa im Ringen um Schwedens Nato-Beitritt die Ideen ausgehen.

Erdogan, der Westen und ein Blick in die Zukunft: „Alle spielen gerade ein bisschen auf Zeit mit der Türkei“

Im Gespräch mit FR.de sagte Jasim: „Alle spielen grade ein bisschen auf Zeit mit der Türkei, denn alle sind unsicher, wer im April gewählt wird“. Deshalb versuche „vor allem die westliche Seite eine Politik zu fahren, in der so wenig wie möglich interveniert wird, aber grade genug, um keine Eskalation zuzulassen.“ Zuletzt habe sich eine verstärkte militärische Kooperation US-amerikanischer Spezialeinheiten mit kurdischen Kräften beobachten lassen, ebenso bauen die USA eine neue Militärbasis in Rakka – Interessen wollen trotz allem gewahrt werden.

 

Das bedeute „durchaus, dass da im Hintergrund etwas passiert sein muss, wo der Türkei Grenzen gezeigt wurden“, sagte Jasim. „Zugeständnisse“ an die Kurden sind freilich kaum selbstlos, denn den USA nutzt das Bündnis im Kampf gegen den IS. „Wir haben immer mehr gemeinsame militärische Operationen gesehen, nachdem die Kurd:innen verkündet hatten, alle Anti-IS-Operationen einzustellen, wenn ein Einmarsch erlaubt wird. Und die haben sie eingestellt, für einige Wochen.“

In der Folge sei es nicht zu der erwarteten Invasion gekommen, sondern zu mehr Zusammenarbeit zwischen US-Spezialkräften und den Syrian Democratic Forces (SDF). Ein Ende der Operationen gegen den IS wären nicht in US-amerikanischem Interesse.

Das Abwarten vor der Wahl: Zum Diskurs steht die gesamte Mittelostpolitik des Westens

Doch wie sieht die Perspektive aus? „Natürlich ist die aktuelle Frage: Was passiert ab der Wahl?“, so Jasim. „Wird Erdogan knapp wiedergewählt und festigt möglicherweise seine Macht, oder wird es eine Opposition geben, die wohl auch auf rechtsnationalistischen Diskursen aufbaut? Deutschland muss sich fragen: Möchten wir eine kurzfristige Politik beibehalten, oder wollen wir eine Wende deutscher Türkei-Politik. Eine Wende würde auch bedeuten: eine Wende in der deutschen Mittelostpolitik.“