MESOP MIDEAST WATCH : Ein sunnitischer Geistlicher wird zum unerwarteten Fürsprecher der Protestbewegung in Iran

Der Freitagsprediger von Zahedan verschärft seit Wochen den Ton gegen die Führung. Inzwischen fordert er nicht nur ein Ende der Diskriminierung der Frauen und der ethnischen und religiösen Minderheiten, sondern eine Abstimmung über das System.

14.11.2022, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG – Mawlana Abdulhamid Ismailzahi, der spirituelle Anführer der iranischen Sunniten.

Auch acht Wochen nach Beginn der Anti-Hijab-Proteste in Iran haben diese keinen klaren Anführer und keine zentrale Organisation. Dafür haben sie jedoch in der Person von Mawlana Abdulhamid Ismailzahi einen unerwarteten Fürsprecher erhalten. Der sunnitische Geistliche ist seit Ende September zu einem der schärfsten Kritiker der Repressionen und zu einem wortstarken Unterstützer der Demonstranten geworden. Seitdem der Freitagsprediger aus Zahedan eine Revision der Verfassung und eine Abstimmung über das politische System gefordert hat, steht er im offenen Konflikt mit dem Regime in Teheran.

«Wenn die Menschen alles, aber keine Freiheit haben, wird alles bitter schmecken», mahnte der Geistliche mit dem weissen Turban und dem grauen Bart in seiner Freitagspredigt vom 4. November. Wenn die Frauen wütend seien und ihre Kopftücher ins Feuer würfen, müsse man sich fragen, warum. Die Frauen gingen auf die Strasse, weil sie Opfer von Diskriminierung seien. Heute hassten die Frauen ihr Kopftuch, und die Iraner hassten ihre Religion. «Dies ist das Ergebnis unseres eigenen Verhaltens», kritisierte Abdulhamid.

Der 1947 in der südöstlichen Provinz Sistan und Belutschistan geborene Gelehrte unterhält seit Jahren ein ambivalentes Verhältnis zum Regime. Einerseits setzt er sich mit Nachdruck für die Rechte der ethnischen und religiösen Minderheiten ein, allen voran die Sunniten und Belutschen, denen er selber angehört. Andererseits pflegt er höfliche Beziehungen zur schiitischen Führung in Teheran und hat 2021 die Wahl des Hardliners Ebrahim Raisi zum Präsidenten unterstützt.

Toleranzappelle und Glückwünsche für die Taliban

In Zahedan leitet er seit 1987 die Religionsschule Dar al-Ulum und die ihr angegliederte Makki-Moschee. Das 2010 im osmanischen Stil errichtete imposante Gebetshaus ist die bedeutendste sunnitische Moschee in Iran. Sie gehört zur sunnitischen Deobandi-Strömung, die ihren Ursprung in Nordindien hat. Die islamistische Bewegung hat heute grossen Einfluss in Indien, Pakistan und Afghanistan. Auch die afghanischen Taliban folgen ihrer Lesart des Islam.

Dies erklärt womöglich auch, warum Mawlana Abdulhamid den Taliban im August 2020 zur Machtergreifung in Kabul gratulierte. Zwar rief der 75-Jährige sie zugleich zur Bildung einer inklusiven Regierung auf und mahnte später, sie müssten auch Mädchen Zugang zu Bildung gewähren. Viele Iraner reagierten dennoch irritiert und fragten sich, wie seine Glückwünsche für die islamistischen Hardliner zu seinem Einsatz für Pluralismus und religiöse Toleranz passten.

Trotz solchen Zweifeln gilt Abdulhamid heute als wichtigster sunnitischer Geistlicher in Iran. Er habe sich nicht nur als prominenteste Stimme der Belutschen etabliert, sondern werde auch von den sunnitischen Kurden als Fürsprecher akzeptiert, sagt der Wiener Politologe Hessam Habibi, der seit Jahren die Predigten Abdulhamids und anderer sunnitischer Geistlicher in Iran analysiert. Dies zeige sich auch daran, dass sich derzeit viele Kurden mit ihm solidarisierten.

Scharfer Kritiker der Repressionen

Abdulhamid war einer der Ersten, die nach dem Tod von Mahsa Amini in der Haft der Moralpolizei am 16. September eine transparente Untersuchung verlangten. Seitdem hat er den Ton von Woche zu Woche verschärft. In seiner Freitagspredigt am 30. September forderte er einen grundlegenden Wandel der Politik und betonte, das Volk habe das Recht, seine Meinung zu äussern und auf die Strasse zu gehen. Seine Rechte müssten gewahrt und seine Forderungen gehört werden, mahnte er vor Tausenden von Gläubigen in Zahedan.

Als sich kurz nach dem Ende des Gebets einige Männer vor einer nahe gelegenen Polizeiwache zu Protesten versammelten, eröffnete die Polizei das Feuer auf die Menge. Laut Amnesty International wurden an diesem «blutigen Freitag» 66 Menschen getötet. Abdulhamid beklagte später in einem Video, dass die Polizisten gezielt auf Kopf und Brust geschossen hätten. Die Demonstranten seien nicht bewaffnet gewesen, versicherte er und forderte die Bestrafung der Verantwortlichen.

Später wurde zwar der verantwortliche Polizeichef der Stadt abberufen, doch hält die Gewalt weiter an. Anders als in anderen Regionen Irans setzen die Sicherheitskräfte oft sogleich scharfe Munition ein, statt zunächst Tränengas zu verwenden. Allein am 4. November gab es laut Amnesty nach dem Freitagsgebet in der Stadt Khash 18 Tote. In keiner anderen Provinz Irans sind seit Beginn der Proteste so viele Opfer zu beklagen wie in Sistan und Belutschistan.

Solidarität, aber auch Vorurteile

Laut dem Forscher Hessam Habibi liegt das auch daran, dass das Regime die Lage in der armen Wüstenprovinz im äussersten Südosten Irans vorwiegend unter Sicherheitsaspekten sieht. Im Rest Irans hätten die Belutschen den Ruf, Schmuggler und gefährliche Kriminelle zu sein, meint der Politologe von der FH Campus Wien. Schon früher seien die Sicherheitskräfte mit unverhältnismässiger Härte gegen Proteste vorgegangen. Dabei beschränke sich auch heute die Gewalt der Demonstranten vorwiegend auf Steinewerfen.

Habibi widerspricht dem Eindruck, dass die Belutschen andere Ziele und Motive hätten als die Demonstranten im Rest des Landes. Die Belutschen litten unter den gleichen Problemen wie alle anderen Iraner, es seien die gleichen Themen, die sie auf die Strasse trieben. Allerdings habe es lange gedauert, bis sich die schiitischen Iraner mit dem Protest der Belutschen solidarisiert und das Massaker vom «blutigen Freitag» thematisiert hätten, meint Habibi.

In seinen Freitagspredigten kritisierte Abdulhamid jüngst immer wieder die Diskriminierung der religiösen Minderheiten. Dabei erwähnte er auch die Sufis und die Bahai – ein Tabubruch in der Islamischen Republik. Auch die Benachteiligung der Frauen sprach er an. Wenn die Regierung die Rechte der Frauen achten würde, brauchte es keine Moralpolizei, kritisierte der Prediger. Es sei ein Irrtum, zu glauben, man könne die Menschen mit Zwang in den Himmel bringen.

«Die Politik ist in einer Sackgasse»

In seiner Freitagspredigt vom 4. November ging er dann noch einen Schritt weiter. «Die iranische Nation protestiert in den Strassen seit fünfzig Tagen. Sie haben Blut gesehen und sind getötet worden», sagte er anklagend. Die Leute seien hungrig und gedemütigt. Viele kluge Köpfe gingen ins Ausland. Trotz dem natürlichen Reichtum des Landes lebten viele Iraner in Armut. Die Behörden könnten die Menschen nicht zum Schweigen bringen, indem sie sie töteten und einsperrten.

Das Volk sei die Quelle der Legitimität der Führung und des gesamten Systems, mahnte er. Die Verfassung sei 43 Jahre alt und viele Bestimmungen seien überholt, sagte Abdulhamid, führte aber nicht aus, welche er meinte. «Führt das Land aus dieser elenden Situation», forderte er. «Haltet eine Abstimmung ab, und erfüllt die Forderungen des Volkes. Die gegenwärtige Politik ist in einer Sackgasse.»

In Iran sind dies gewagte Worte. In den regimenahen Medien gab es umgehend Vorwürfe, Abdulhamid sei ein Agent Saudiarabiens und heize die Proteste an. Der Forscher Habibi glaubt aber nicht, dass der Geistliche unmittelbar in Gefahr sei. Seine Absetzung oder Festnahme wäre zu riskant und könnte zu Unruhen führen, meint er. Wenn Abdulhamid als Stimme der Belutschen fehle, könnten ausserdem andere, radikalere Gruppen Zulauf erhalten.

Bei aller Kritik am Regime wirkt der Prediger weiterhin mässigend auf die Demonstranten ein. Eine frontale Konfrontation mit dem Regime will er vermeiden. Auch die mächtigen Stämme in Belutschistan sind nicht an einer Eskalation interessiert. In seiner letzten Freitagspredigt am 11. November wiederholte Abdulhamid denn auch nicht seine Forderung nach einer Volksabstimmung über das System, sondern verlangte lediglich ein Ende der Gewalt und Gerechtigkeit für die Opfer. Zumindest bei dieser Forderung wird er kaum lockerlassen.