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Irans Kurden rebellieren gegen das Regime

Dort, wo die Proteste gegen den Hijab-Zwang begannen, sind sie auch heute noch am heftigsten und machen dem Regime am meisten zu schaffen. Doch die Autoritäten gehen gnadenlos gegen Demonstranten vor.

Inga Rogg, Jerusalem16.10.2022, NEUE ZÜRCHER  ZEITUNG

Die Proteste in Iran halten seit nunmehr fast vier Wochen an. Sie nehmen in Wellen zu und ab, ganz beenden kann sie die iranische Führung bis anhin aber nicht. Nirgendwo sind die Aufstände so heftig und anhaltend wie in den kurdischen Gebieten im Westen des Landes, wo sie sich vor knapp einem Monat am Tod von Mahsa Amini entzündet haben.

Ladenbesitzer sind dort mehrfach einem Aufruf zum Generalstreik gefolgt und haben damit das Wirtschaftsleben lahmgelegt. Wie in anderen Städten des Landes fordern Studentinnen und Schülerinnen die Obrigkeit mit Protestaktionen gegen den Kopftuchzwang heraus, vor allem aber leisten die Kurden gegen das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte Widerstand.

Proteste allerorten

Eine der Hochburgen des Aufbegehrens ist Saqez, der Heimatort von Zhina Amini, wie die ums Leben gekommene junge Frau auf Kurdisch hiess. Aber es ist bei weitem nicht die einzige Stadt. Beobachter und Menschenrechtsorganisationen verzeichneten Proteste vom äussersten Norden der kurdischen Region um Piranshar bis in den äussersten Süden um Ilam. Kleinstädte wie Divandarreh wurden genauso von Unruhen erfasst wie mittelgrosse Städte und Grossstädte wie Baneh, Bukan, Kermanshah oder Mahabad, die Hauptstadt der gleichnamigen kurzlebigen kurdischen Republik von 1946.

Kartengrundlage: © Openstreetmap, © Maptiler

NZZ / iro.

Nirgendwo ist die Rebellion jedoch so stark wie in Sanandaj, der Hauptstadt der Provinz Kordestan (Kurdistan) und zweitgrössten kurdischen Stadt in Iran. Seit Tagen kommt es in der Stadt mit mehr als 400 000 Einwohnern zu schweren Zusammenstössen zwischen Kurden und Sicherheitskräften. Ein Video zeigt, wie Sicherheitskräfte, bewehrt mit Schilden und Helmen, mit Knüppeln auf Demonstranten losgehen. Nur wenig später sieht man, wie der gleiche Trupp vor steinewerfenden Demonstranten die Flucht ergreift.

Die Regierung hat die Zahl der Sicherheitskräfte in den kurdischen Gebieten in den letzten Wochen und Tagen stark erhöht. Zudem hat sie das Internet teilweise abgeschaltet oder die Verbindungen gedrosselt. Auch die Mobilfunkverbindungen sind an manchen Tagen eingeschränkt.

«Ausländische Verschwörung»

Trotzdem konnten die Sicherheitskräfte den Widerstand bisher nicht brechen. Videoaufnahmen zeigen nächtliche Strassenschlachten; Kurden zünden Autoreifen an, Schüsse hallen durch die Nacht. Dabei sind es keineswegs nur junge Männer, wie in solchen Fällen meist üblich, die tagsüber und nachts den Polizisten und Milizen die Stirn bieten.

Männer aller Altersgruppen und auch Frauen sind dabei. In einer Aufnahme von Anfang der Woche sieht man eine junge Frau, die mitten in der Nacht ohne Kopftuch einsam auf einem umgestürzten Müllcontainer steht und ihre Finger zum Siegeszeichen spreizt. In anderen ziehen sich Frauen festes Schuhwerk an und machen sich erklärtermassen für Proteste bereit.

Mindestens 32 Kurden sind laut der in Oslo ansässigen kurdischen Menschenrechtsorganisationen Hengaw seit Beginn der Protestwelle getötet worden, Hunderte hätten Verletzungen erlitten. Mehr als 2500 Kurdinnen und Kurden wurden nach Angaben der Organisation verhaftet, unter ihnen auch 30 Minderjährige. Darüber hinaus wurden nach offiziellen Angaben zwei Sicherheitskräfte getötet.

Die iranische Führung macht für die Proteste eine ausländische Verschwörung verantwortlich sowie kurdische Rebellen, die ihre Basen im Nordirak haben. Angriffe auf die Stützpunkte der Aufständischen mit Raketen, Drohnen und Artillerie haben mindestens 14 Tote gefordert, unter ihnen mehrere Zivilisten.

Gerade Sanandaj, ein Zentrum der iranisch-kurdischen Kultur, hat eine lange Tradition der Rebellion gegen die Regime in Teheran. Kurz nach Ausrufung der Islamischen Republik kam es in der Stadt zu einem Aufstand gegen die neuen Machthaber, der sich über weite Teile der kurdischen Region ausbreitete. Die Niederschlagung des Aufstands forderte Tausende von Toten.

Die irakischen Kurden als Vorbild

Wie andere Minderheiten in Iran fordern die Kurden mehr kulturelle und politische Rechte, nicht wenige streben nach Autonomie. Denn im Nachbarland Irak, wo die Kurden ihren eigenen Teilstaat errichtet haben, sehen sie, wie viel besser es ihnen theoretisch gehen könnte. Auch ohne Proteste ist die Präsenz von Revolutionswächtern und anderen Sicherheitsorganen in den kurdischen Gebieten entlang der Grenze extrem hoch.

Doch sowohl über regulären Handel und Schmuggel als auch über die kulturellen und verwandtschaftlichen Beziehungen gibt es einen regen Austausch zwischen den iranischen und den irakischen Kurden. Das macht es für den Sicherheitsapparat auch wesentlich schwieriger, den Informationsfluss zu unterdrücken, als in anderen Landesteilen.

Der Tod der jungen Kurdin Amini, die wegen angeblich unzüchtiger Bekleidung während eines Besuchs in Teheran festgenommen worden war, hat diesmal jedoch Angehörige aller ethnischen Gruppen, Frauen und Männer gegen die Machthaber geeint. Der kurdische Slogan «Frau, Leben, Freiheit» wird mittlerweile von Nord bis Süd und West bis Ost gerufen oder an Hauswände gesprüht. Die Kurden fordern, was viele Iraner derzeit verlangen: ein Ende der Unterdrückung und Bevormundung durch das theokratische Regime.