MESOP – LBGTI KULTUR SANS PHRASE : ERST WENN DER ALTE JUDE TOT IST – KÖNNEN WIR DIE GESCHICHTE REVOLUTIONIEREN – STIMMEN AUS DEM QUEER CENTER (LBGTI Nachruf zum Tod von Fritz Stern)

Die Greisenfresser kommen

Als Fritz Stern am 18. Mai im Alter von neunzig Jahren starb und kein Medium ohne ausführliche Würdigung seines geschichtswissenschaftlichen Lebenswerks blieb, da sah es eine Fachkollegin anders. Die auf Bildern jugendlich wirkende Historikerin Anka (inzwischen: Anna) Hajkova, die an der Universität von Warwick lehrt und derzeit als Humboldt-Fellow in Erfurt tätig ist, twitterte noch am selben Abend: „Die alten weißen straighten Männer sterben. Jetzt können wir die Geschichte revolutionieren!” Frau Hajkovas Forschungsgebiet ist die NS-Vernichtungspolitik. Sie ist assoziiertes Mitglied des „Centre for the Study of the Holocaust and Jewish Literature”, aber auch der „Czech So-ciety for Queer Memory” — und so mag sich der merkwürdige Akzent erklären, den sie bei Fritz Stern auf seine von ihr vermutete „straighte” Lebensführung legte. Unabhängig davon aber ist an dem Fall notierenswert, dass überhaupt aus dem Ableben eines Menschen ein Gefühl des Triumphes werden konnte.

Täuscht der Eindruck, oder haben sich solche Affekte, von keiner inneren moralischen Disziplin mehr kontrolliert, seit dem Brexit wirklich verstärkt? Die Alten als Feinde hat auch Helene Benkmezian ausgemacht. Sie berichtet über französische Parlamentsdebatten für „Le Monde”. Schon in der Vorstellung auf ihrem Twitter-Profil nennt sie sich „Girontophage” (Greisenfresserin), und am 24. Juni twitterte sie, offenbar gut gelaunt: „Mit dem Wahlrecht ist es wie mit dem Führerschein: Ehrlich gesagt, von einem gewissen Alter an sollte man es ihnen entziehen” (Le droit de vote, c’est comme le permis: franchement, au bout d’un certain age, an devrait leur retirer). Das sind Gedanken, die in Deutschland ein vielfältiges Echo gefunden haben.

Und leider nicht nur in Blogs oder der „Spiegel”-Schülerzeitung „bento”, wo Christina Kufer schrieb: „Liebe Generation Rollator, macht mir mein Europa nicht kaputt.” Die „Zeit” wollte mit ihrem Autor Wolfgang Gründinger nicht abseits stehen: „Das Referendum zeigt: Alte-Säcke-Polititk diktiert die Agenda. Wir Jungen müssen uns organisieren.” Und die „taz” titelte nach dem Brexit: „Die Alten machen uns fertig”. Die Autorin des Artikels war Jagoda Marinid, die das Interkulturelle Zentrum Heidelberg leitet.

Auch Jens Spahn, ein ewig jugendlicher CDU-Politiker, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, denkt weiter — er zieht die Konsequenzen aus dem von Helene Benkmezian nur unverbindlich ins Spiel gebrachten Entzug des Wahlrechts. Der „Welt am Sonntag” erklärte er kürzlich: „Ein Drittel der Wähler ist bald über 60. Da besteht die Gefahr, dass Politik sich zu stark nach deren Interessen richtet.”

Spahn plädiert deshalb für ein „Familienwahlrecht”: „Wenn Familien mehr Stimmen haben, haben ihre Themen auch mehr Gewicht in der politischen Debatte.” Pro minderjähriges Kind bekäme ein Elternteil dann eine zusätzliche Stimme. Seit langem fordert dies auch die Familienministerin Manuela Schwesig. Und schon 2008 gab es einen entsprechenden Antrag im Bundestag. Da es ausdrücklich nur um minderjährige Kinder gehen soll, die je eine zusätzliche Stimme bringen, würden die aller anderen, älteren Eltern entwertet.

Das alles sind natürlich Träumereien an linksliberalen Kaminen. Eine Änderung des Grundgesetzes wird es nicht geben. Aber die Stimmung, die seit dem Brexit in die öffentliche Diskussion gekommen ist, darf man nicht unterschätzen. Man kommt um die Diagnose nicht herum, dass der Hass an Intensität und Schamlosigkeit zunimmt, manchmal in feinerer, manchmal in unfeiner Form. Und dieser blanke Hass ist beileibe kein Privileg der Rechtsradikalen. Man hat unlängst von einer „enthemmten Mitte” gesprochen. Aber enthemmt sind heute alle, nicht nur die Radikalen auf allen Seiten, sondern ebenso die Linksliberalen und vor allem die artikulations-fähigen Intellektuellen unter ihnen wie Helene Benkmezian oder Anka Hajkova.

Warum ist dieser Hass so gemein und niedrig? Weil er sich auf ein Sein richtet, das der Betreffende durch keine Handlung und keinen freien Willen ändern kann. Darin liegt der Unterschied zum Klassenhass des früheren Sozialismus. Der Kapitalist konnte (theoretisch) seine Rolle verlassen, (theoretisch) das Eigentum an der Firma der Belegschaft überschreiben —der Hass gegen ihn betraf ausschließlich seinen sozialen Charakter, er betraf die „Charaktermaske”, nicht zwingend den Menschen dahinter.

Der alte Mensch aber hat in diesem Spiel keine Möglichkeit einer legitimen Antwort. Er steckt, ohne Chance auf Entkommen, fest in der Zwangsjacke seines Seins. Insofern hat dieser neue Hass gegen die Alten auch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Rassismus. LORENZ JÄGER – FAZ 30 Juni 2016