MESOP INDEPTH : Hass in der muslimischen Welt Der Terror hat sehr viel mit dem Islam zu tun / Von Ruud Koopmans / Eine stringente Argumentation

Auch das Attentat in Orlando sollte die Tat eines Einzeltäters sein, der die Religion nur zu seiner Rechtfertigung missbraucht – ein gängiges Erklärungsmuster. Wie glaubhaft ist es? Ein Gastbeitrag.

1 Juli 2016 – Wenn wir Barack Obama glauben dürfen, hat der Massenmord an 49 schwulen Männern und lesbischen Frauen in Orlando nichts mit dem Islam zu tun. In seiner Reaktion auf das Blutbad erwähnte der amerikanische Präsident das Wort „Islam“ kein einziges Mal. Stattdessen stufte er die Tat mit dem Begriff „homegrown terrorism“ als hausgemachtes Problem ein. Außerdem sei dies ein weiteres Beispiel von „Selbstradikalisierung“. Dieser Begriff, wie auch der des „einsamen Wolfes“ wird immer wieder gerne nach radikalislamischen Anschlägen benutzt und deutet sie als das Ergebnis des isolierten Werdegangs eines Individuums ohne jeden Bezug zur muslimischen Gemeinschaft.

Wenn Barack Obama und andere Mitglieder der amerikanischen Regierung den Islam in der Vergangenheit schon in Verbindung zu Terroranschlägen erwähnten, so verbanden sie dies stets mit der einschränkenden Bemerkung, dass „der“ Islam eine friedfertige Religion sei, die übergroße Mehrheit der Muslime mit dem fundamentalistischen Gedankengut nichts zu tun haben wolle und die Attentäter gar keine richtigen Muslime seien, sondern die Religion nur als Deckmantel für ihre Zwecke missbrauchten. Damit setzt die Regierung Obama auf genau die gleiche Deutung, die auch von Sprechern muslimischer Organisationen und vom sich für aufgeklärt haltenden Teil der politischen Öffentlichkeit bedient wird – nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Wie glaubhaft ist diese Deutung?

Eine Antwort auf diese Frage muss zunächst einmal Aussagen und Verhalten des Täters selbst ernst nehmen. Während seiner Tat erklärte Omar Mateen in verschiedenen Telefonanrufen seine Treue zum „Islamischen Staat“, solidarisierte sich mit den radikalislamischen Attentätern des Boston-Marathons und dem ersten amerikanischen Selbstmordattentäter in Syrien, einen Anhänger der Al-Nusra-Front, den er persönlich kannte. Beide hatten in Fort Pierce, Florida, die gleiche Moschee besucht. Auf seiner Facebook-Seite schrieb Mateen: „Die echten Muslime werden die dreckigen Wege des Westens nie akzeptieren. Ihr tötet unschuldige Frauen und Kinder durch Luftschläge. Spürt nun die Rache des ,Islamischen Staates‘.“ Er schloss sein Posting mit „Möge Allah mich akzeptieren“. Auch sein Verhalten vor dem Attentat zeigt, dass Omar Mateen ein gläubiger Muslim war. Laut Aussage seines Imams ging er drei- bis viermal in der Woche in die Moschee, das letzte Mal zwei Tage vor dem Attentat. Zweimal, 2011 und 2012, war er auf Pilgerfahrt in Saudi-Arabien – wo er womöglich mehr tat, als nur pilgern.

Nur in etwa einem Drittel der muslimischen Länder straffrei

 

Dennoch hatte die Gewalttat laut Mir Seddique Mateen, Omars Vater, „nichts mit Religion zu tun“, und große Teile der amerikanischen Politik und Medien sprachen es ihm nach. Als alternative Erklärung wies der Vater, selbst ein erklärter Taliban-Sympathisant, auf ein Ereignis einige Zeit vor dem Anschlag hin: Omar habe sich sehr aufgeregt, als er zwei Männer sah, die sich in der Öffentlichkeit geküsst hatten. Die Szene mag auch den Vater, selbst homophob, aufgeregt haben. Dieser hatte noch kurz vor dem Attentat auf seinem Videokanal erklärt, „dass das Schwulen- und Lesbenthema etwas ist, dass Gott in diesem Ramadanmonat bestrafen wird“.

Es ist offensichtlich, dass Omar Mateens Tat auch durch Hass auf Homosexuelle motiviert war, aber wir haben es hier nicht mit einer alternativen Erklärung zu tun, die eine religiöse Motivation ersetzen würde, wie große Teile der amerikanischen Öffentlichkeit es uns glauben lassen wollen. Im Gegenteil, Omar und sein Vater sind keine Ausnahmen: Der radikale, fundamentalistische Islam ist eng verbunden mit extremem Hass auf Homosexuelle. Vielleicht müsste man sogar sagen: Mit Ausnahme einer kleinen liberalen Minderheit ist der Islam insgesamt homophob. Klar, auch viele Christen oder Anhänger anderer Religionen lehnen Homosexualität oder doch zumindest die homosexuelle Ehe ab, aber der Homohass im Islam geht weit darüber hinaus.

Es gibt zehn Länder auf der Welt, wo das, was Omar Mateen getan hat, nämlich das Töten von Homosexuellen, offizielles Gesetz ist. Ohne Ausnahme sind diese zehn Länder, wo die Todesstrafe auf Homosexualität steht, muslimische Länder: Iran, Saudi-Arabien, Qatar, die Vereinigten Arabischen Emirate, der Jemen, Afghanistan, Sudan, Mauretanien und der islamische Norden Nigerias. Hinzu kommen noch die vom Islamischen Staat kontrollierten Teile von Syrien, der Irak und Libyen. In zwanzig weiteren muslimischen Ländern ist Homosexualität illegal. Damit steht Homosexualität nur in etwa einem Drittel der Länder der Welt, die eine muslimische Bevölkerungsmehrheit haben, nicht unter Strafe. Eine wichtige Ausnahme ist noch die Türkei, aber auch dort geraten Homosexuelle zunehmend unter Druck: Der jährliche Gay-Pride-Umzug in Istanbul wurde unlängst zum zweiten Mal verboten. Tausende Homosexuelle in islamischen Ländern haben ihre sexuellen Neigungen mit dem vom Staat oder von religiösen Schariagerichten sanktionierten Tod oder mit langen Haftstrafen bezahlen müssen. Und Millionen müssen ihre Sexualität verstecken, um dem Religionswahn nicht zum Opfer zu fallen.

Juden als beliebter Sündenbock

Auch viele Muslime, die im Westen leben, sind der Ansicht, dass Homosexualität bestraft werden sollte, wie eine jüngere Studie aus Großbritannien zeigt: 61 Prozent der dort lebenden Muslime meinen, Homosexualität sollte verboten sein. Laut einer belgischen Studie sagten mit 25 Prozent der befragten muslimischen Jugendlichen dreimal so viele wie nichtmuslimische Altersgenossen, dass Gewalt gegen Homosexuelle erlaubt sei, und zwanzig Prozent fanden es gut, dass in manchen islamischen Ländern auf Homosexualität die Todesstrafe steht. Allgemein gesprochen gilt, dass es keine andere Weltregion gibt, wo der Hass auf Andersdenkende und religiöse Minderheiten und ihre Entrechtung so tief verwurzelt sind wie in der muslimischen Welt.

 

Auch Antisemitismus ist leider immer noch in großen Teilen der Welt verbreitet. Eine jüngere Studie der Anti-Diffamierungs-Liga (ADL) zeigte, dass vierundzwanzig Prozent der Westeuropäer antisemitische Auffassungen teilen. Sie meinen zum Beispiel, Juden hätten zu viel Einfluss in der Weltpolitik und der Finanzwirtschaft und wären verantwortlich für die meisten Kriege in der Welt. In Osteuropa unterschreiben sogar vierunddreißig Prozent der Bevölkerung solche Meinungen. Doch in fast allen Weltregionen lehnt eine deutliche Mehrheit der Befragten Antisemitismus ab. Nur im islamischen Nahen Osten und Nordafrika ist das anders. Dort ist Antisemitismus kein Minderheitenphänomen, sondern die gesellschaftliche Norm: 74 Prozent der Bevölkerungen dieser Länder haben ein antisemitisches Weltbild. Unter den in Europa lebenden Muslimen ist die Situation nur etwas besser. Von der deutschen Bevölkerung insgesamt haben laut der ADL-Studie sechzehn Prozent ein antisemitisches Weltbild (was in etwa den Ergebnissen anderer Studien entspricht), unter den deutschen Muslimen sind es jedoch 56 Prozent. Ähnliche Zahlen nennt diese Studie für Frankreich und Großbritannien.

Juden sind ein beliebter Sündenbock in Verschwörungstheorien, die in der muslimischen Welt weit verbreitet sind. Diese kursieren nicht nur unter einfachen, ungebildeten Leuten. Der Großmufti der Al-Azhar-Universität in Kairo, die am meisten respektierte religiöse Autorität in der sunnitischen Welt, erklärte zum Beispiel 2015: „Wir sehen uns mit mächtigen internationalen Verschwörungen gegen Araber und Muslime konfrontiert, die die Gesellschaft auseinanderdividieren wollen auf eine Art und Weise, die den Träumen des neuen Weltkolonialismus entspricht, der mit dem Weltzionismus alliiert ist – Hand in Hand und Schulter an Schulter… Das Ergebnis dieser perfiden Manipulationen ist, dass der Irak verlorengegangen ist, Syrien verbrannt wurde, der Jemen zerrissen wird und Libyen vernichtet wurde. Sie haben noch vieles im Ärmel, das nur Allah wissen kann und vor dem wir bei Allah Schutz suchen.“

Nur zwei von 47 Ländern sind „frei“

Muslimische Führer und westliche Politiker reden viel und gerne über „Islamophobie“. Aber die Wahrheit ist, dass Muslime nicht nur im Westen, sondern auch in anderen Ländern der Welt, wo muslimische Minderheiten leben – etwa Ghana oder Indien –, ein Ausmaß an Gleichberechtigung genießen, von dem religiöse Minderheiten in muslimischen Ländern nur träumen können. Eine Studie von Jonathan Fox zu den Rechten religiöser Minderheiten zeigt, dass unter den zehn Prozent der weltweit am stärksten diskriminierten religiösen Minderheiten nur zwei Fälle sind, in denen Muslime von Staaten mit einer nichtmuslimischen Mehrheit unterdrückt werden: Myanmar und Russland. Dagegen gibt es vierunddreißig Fälle extremer Diskriminierung nichtmuslimischer Religionsgruppen durch einen Staat mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit, darunter Christen in Saudi-Arabien, Pakistan, Afghanistan, Iran, Turkmenistan, den Malediven, den Komoren, Sudan, Brunei, Kuweit, Qatar, Ägypten, im islamischen Norden Nigerias und in der Türkei.

Die Daten stammen noch aus der Zeit vor dem Aufmarsch des „Islamischen Staates“. Seitdem sind religiöse Minderheiten in Syrien, dem Irak und Libyen ihres Lebens nicht mehr sicher. Sogar in muslimischen Ländern, wo religiöse Minderheiten in der offiziellen Gesetzgebung relativ gleichberechtigt sind, gibt es weitverbreitete und nicht selten mit Gewalt einhergehende Feindseligkeiten der muslimischen Mehrheitsbevölkerung, wie zum Beispiel in Indonesien. Während viele Muslime in nichtmuslimische Länder einwandern, wird die muslimische Welt zunehmend zu einer monokulturellen Wüste, weil Minderheiten massenhaft in die Flucht getrieben werden. Wenn es so weitergeht, ist die religiöse Säuberung des Nahen Ostens von seiner bereits stark geschrumpften christlichen Population – und das Gleiche gilt für andere nichtmuslimische Minderheiten wie die Bahai oder die Yeziden – bald vollendet.

Auch sind wohl nur an der muslimischen Welt die verschiedenen Demokratisierungswellen der vergangenen hundert Jahre vorbeigegangen. Laut dem Index politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten des „Freedom House Institute“ sind nur zwei von 47 mehrheitlich muslimischen Ländern als „frei“ zu bezeichnen (Tunesien und Senegal). Eine Mehrheit von 25 muslimischen Ländern ist „unfrei“, und die restlichen neunzehn Länder, darunter die Türkei, werden als „teils frei“ eingestuft. Der Kontrast zur nicht-muslimischen Welt könnte kaum stärker sein: Während nur vier Prozent der muslimischen Länder frei sind, gilt dies für 58 Prozent der nichtmuslimischen Länder der Welt; während 55 Prozent der muslimischen Länder unfrei sind, gilt das heutzutage nur noch für siebzehn Prozent der Länder ohne eine muslimische Bevölkerungsmehrheit. Ähnliches könnte man anführen für die Pressefreiheit oder die Rechte der Frau.

Die Wurzeln des Problems

Und das alles liegt nicht an der Armut, denn viele islamische Länder sind reich und es gibt viele nichtmuslimische Entwicklungsländer und Schwellenstaaten, wo Freiheit herrscht. Es liegt auch nicht an dem gerne als Ausrede herangezogenen Erbe des westlichen Kolonialismus. Der Nahe Osten ist sogar eine der Weltregionen, die am wenigsten vom westlichen Kolonialismus betroffen waren. Der westliche Kolonialismus dauerte dort keine fünfzig Jahre – nicht zu vergleichen mit den Jahrhunderten, in denen weite Teile des arabischen Raumes zum Osmanischen Reich gehörten. Iran und Saudi-Arabien, die beiden Hauptanstifter des islamischen Fundamentalismus, wurden sogar nie vom Westen kolonisiert.

Angesichts der weitverbreiteten Unterdrückung von sexuellen und religiösen Minderheiten in der islamischen Welt kann unmöglich behauptet werden, dass der Hass auf Anderslebende und Andersgläubige „nichts mit dem Islam zu tun“ habe oder dass „der“ Islam „eine Religion des Friedens“ sei. Es zeugt außerdem von einem mangelhaften Unrechtsbewusstsein, die Trommel der „Islamophobie“ zu rühren, aber zu schweigen über die viel schlimmere Phobie der muslimischen Welt gegen alles Unislamische. Es mag sein, dass das in der Vergangenheit einmal anders war, zum Beispiel in der mythischen Zeit des Al-Andalus, und man mag und soll für die Zukunft hoffen, dass irgendwann Frieden und Toleranz die islamische Welt kennzeichnen werden. Aber für das Hier und Jetzt ist die einzig richtige Analyse, dass der islamische Radikalismus leider sehr viel zu tun hat mit der Art und Weise, wie im Mainstream der islamischen Welt mit Andersdenkenden und Andersgläubigen umgegangen wird.

Um das zu ändern, ist eine Revolution des Denkens innerhalb der islamischen Welt notwendig – eine islamische Reformation, wenn man so will. Und die wird es so lange nicht geben, wie die Verneinungsthese des „Es hat mit dem Islam nichts zu tun“ und die Kultivierung der muslimischen Opferrolle die Debatte über Radikalisierung, Verfolgung und Gewalt dominieren. Nur wenn sich ein Bewusstsein dafür herausbildet, dass die Wurzeln des Problems im Mainstream des gegenwärtigen Islams liegen, ist eine Besserung möglich. Die Weigerung von Barack Obama und vielen anderen, das Problem beim Namen zu nennen, mag gut gemeint sein, aber es steht diesem Heilungsprozess nur im Wege.

Der Soziologe Ruud Koopmans ist Direktor der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung im Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin und lehrt an der Humboldt-Universität.

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