MESOP FLASH : Bundeswehr bereitet Kurden auf Chemieangriff vor
Geheimdienste warnen, dass der Islamische Staat Giftgas besitzt – und bereits gezielt einsetzt Von Florian Flade – DIE WELT – 5 Sept 2015
Der Angriff dauerte mehr als zwei Stunden. Etwa 50 Artilleriegeschosse und Mörsergranaten schlugen in der Stadt Marea ein, knapp 50 Kilometer nördlich der syrischen Metropole Aleppo. Sie trafen vor allem Zivilisten. Als die Opfer anschließend in die Krankenhäuser eingeliefert wurden, sah zunächst alles nach den üblichen Splitterverletzungen aus. Doch dann bemerkten die Ärzte einen ungewöhnlich fauligen Geruch an den Wunden einiger Patienten: Es war der Geruch von Giftgas.
23 Menschen erlitten bei der Attacke auf Marea vor knapp zwei Wochen teilweise schwere Verätzungen. Ihre Haut färbte sich rot, warf Blasen – die typischen Symptome von Opfern eines Angriffs mit chemischen Waffen. Diesmal aber war nicht das syrische Regime von Baschar al-Assad für die Attacke verantwortlich, sondern der Islamische Staat (IS). Die radikalen Islamisten versuchen seit Wochen, Marea zu erobern.
Chemiewaffen in den Händen islamistischer Terroristen – vor diesem Horrorszenario warnten Militärs und Waffenexperten bereits im vergangenen Jahr, als der IS in seinem Siegeszug weite Teile Syriens und des Nordirak eroberte. Die schlimmsten Befürchtungen haben sich inzwischen bewahrheitet: Wie mehrere Angriffe in den vergangenen Wochen zeigen, ist der IS im Besitz von Giftgas. Und scheut sich nicht davor, dieses auch einzusetzen – auch unweit des Einsatzgebietes deutscher Soldaten im irakischen Erbil.
Westlichen Geheimdiensten ist dieses Risiko schon seit einiger Zeit bewusst. Die Bundeswehr, die im Nordirak kurdische Milizen ausbildet, war ebenfalls gewarnt. In vertraulichen Analysen europäischer Nachrichtendienste heißt es, die Terrororganisation IS habe mutmaßlich Restbestände an Senf- und Chlorgas der syrischen Streitkräfte erbeutet. Die Rede ist sogar von “Produktionsstätten für chemische Waffeneinheiten”, die sich vermutlich unter der Kontrolle des IS befinden. Mehr als 1300 Tonnen Giftgas soll das syrische Regime besessen haben, darunter Senfgas, Sarin und VX-Nervengas. Noch im August 2013 waren Hunderte Zivilisten bei einem Angriff mit Sarin-Gas in Ghuta ums Leben gekommen. Aufgrund des internationalen Drucks willigte Diktator al-Assad damals zwar ein, seine Chemiewaffenbestände aufzugeben. Tonnenweise Giftgas wurde daraufhin unter Aufsicht der Vereinten Nationen außer Landes gebracht und kontrolliert vernichtet. Dennoch liegt der Verdacht nahe, dass längst nicht alle Chemiewaffenlager tatsächlich zerstört wurden.
“Das syrische Regime hat die Angaben zu seinen Chemiewaffen-Produktionsstätten und -Lagern immer wieder korrigiert”, sagt Christian Meier, Experte für unkonventionelle Rüstungsgüter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Rund ein Dutzend Produktionsanlagen sollen jedoch bis auf drei zerstört worden sein. Westliche Geheimdienste befürchten jedoch, dass es dem IS gelungen ist, kleinere Waffenlager einzunehmen, in denen noch chemische Kampfstoffe lagerten. Und das nicht nur in Syrien. Auch im Irak blieben Munitionslager des Regimes von Saddam Hussein noch jahrelang unentdeckt. Einige dieser Bunkeranlagen befinden sich heute in den Händen des IS.Dass die Gotteskrieger nicht davor zurückschrecken, das Giftgas auch wirklich anzuwenden, zeigen einige Vorfälle der vergangenen Monate. Im Juni sollen die Dschihadisten in Syrien erstmals mit Chemikalien gefüllte Granaten eingesetzt haben. Das berichtet die britische Initiative Conflict Armament Research Group, die Waffen in Kriegen und Konflikten identifiziert und erfasst. Am 28. Juni feuerten IS-Terroristen demnach zweimal Giftgasgeschosse auf kurdische Einheiten. Anfang August ereignete sich ein ähnlicher Vorfall unweit des Einsatzgebietes der Bundeswehr im Nordirak. Bei der Ortschaft Sultan Abdullah, etwa 60 Kilometer südwestlich von Erbil, schossen die Terroristen Mörsergranaten und Katjuscha-Raketen auf Stellungen der kurdischen Peschmerga-Miliz. Mehr als 50 Milizionäre sollen dabei verletzt worden sein.
“Vergangene Nacht wurden mindestens 45 Granaten auf unsere Stellungen gefeuert”, sagte der Peschmerga-Kommandeur Muhammad Khoshawi am Tag nach dem Angriff. “Wir denken, dass sie mit Chemikalien gefüllt waren, weil die Wunden anders aussahen als sonst.” Französische und amerikanische Experten seien für weitere Untersuchungen in die Region gekommen. Sie würden nun testen, welche Chemikalie bei dem Angriff eingesetzt wurde.Die Bundeswehr bildet im nordirakischen Erbil etwa 90 Soldaten aus, die Sicherheitskräfte der Region Kurdistan-Irak. Der Chemiewaffenangriff unweit des Einsatzortes der deutschen Truppe sorgte daher auch im Bundesverteidigungsministerium für erhöhte Alarmbereitschaft. “Wir verfügen nach wie vor nicht über eigene Erkenntnisse”, teilte ein Bundeswehr-Sprecher mit. “Spezialisten der US-Streitkräfte sind vor Ort und prüfen. Ein Ergebnis liegt noch nicht vor.” Die Berichte über den Einsatz chemischer Waffen durch den IS seien bekannt, teilte eine Sprecherin der US-Streitkräfte der “Welt” auf Anfrage mit. Die Angriffe seien als “abscheulicher Akt” zu verurteilen. “Wir waren stets besorgt über die Bestrebungen des IS, an jede Form von chemischen Waffen zu gelangen. Und wir werden dies weiter verfolgen.”
Dass die Dschihadisten womöglich Giftgas einsetzen würden, war bei der Bundeswehr schon länger befürchtet worden. Nach Informationen der “Welt” hatte die Bundeswehr schon Wochen vor dem IS-Angriff im August die sogenannten ABC-Lage (ABC: atomare, biologische oder chemische Kampfstoffe) für die Truppe verschärft. Hintergrund waren Erkenntnisse der Geheimdienste über potenzielle Chemiewaffenbestände des IS. Daraufhin entschied das Verteidigungsministerium außerdem, zwei ABC-Abwehrstabsoffiziere vom 30. August bis zum 6. September zur Beratung der Bundeswehr-Ausbilder in den Nordirak zu entsenden.”Die in Erbil eingesetzten deutschen Soldaten verfügen über ABC-Schutzmasken mit Filter, die auch gegen technische industrielle Gase wie Chlor zuverlässig schützen”, heißt es dazu im Verteidigungsministerium. Die Bundeswehr habe außerdem etwa 1000 Schutzmasken an die Peschmerga verteilt. Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich jetzt bewähren könnte. Auch in der Ausbildung der Peschmerga-Kämpfer wird mittlerweile das Risiko durch Chemiewaffen berücksichtigt. Denn auch künftig dürften die IS-Terroristen keinerlei Skrupel haben, ihre erbeuteten Giftgase auch wirklich einzusetzen. Erst am vergangenen Sonntag sollen die Dschihadisten eine mit Chemikalien bestückte Rakete nördlich von Mossul auf kurdische Kämpfer gefeuert haben. Gelber Rauch sei aufgestiegen, teilte ein Peschmerga-Sprecher mit. Ein Milizionär sei verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert worden.
Die Terrorgruppe IS hat den Einsatz derartiger Waffen offiziell bislang weder bestritten offen bekannt. Der niederländische IS-Dschihadist Israfil Yilmaz macht allerdings keinen Hehl daraus. “Das Regime setzt tagtäglich chemische Waffen gegen uns ein”, schrieb er am Sonntag in einem Internet-Beitrag. “Aber wenn der IS sie erbeutet und sie dann einsetzt, ist das plötzlich ein riesiges Problem? Bekämpfe sie, wie sie dich bekämpfen.”