MESOP CULTURE : KEIN GALLISCHER HAHN IN SICHT – NUR DEKADENZ / NICHT EINMAL FÜR IHRE EIGENEN WERTE WERDEN DIE DEKADENTEN KÄMPFEN & STERBEN
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EINE ÜBERSICHT DER AKTUELLEN TEXTE FRANZÖSISCHER THEORETIKER –
Frankreichs Intellektuelle schweigen nicht. Im Wahlkampf erkennen sie einen Klassenkampf. Sie sind allerdings unsicher, auf welche Seite sie sich schlagen sollen. GENF, 27. März – Vom Jürg Altwegg FAZ –
Wen wird Michel Houellebecq wählen?
Sein englischer Übersetzer berichtete, dass der Schriftsteller durchaus schon versucht gewesen sei, eine Empfehlung für Marine Le Pen abzugeben. Das wenig auf-geschlossene Frauenbild seiner Romane lässt indes auch eine gewisse Affinität zu Francois Fillon vermuten, der sich in seiner Skandalkrise noch stärker auf die Katholiken von „Sens commun” — die Gegner der „Ehe für alle” — stützt. Für ihn hatte sich der Philosoph Pascal Bruckner bei der Vorwahl der Republikaner ausgesprochen, weil er seine Haltung zum Islam als Bekenntnis zur laizistischen Republik deutet.
Auf dem ersten Höhepunkt der Affäre um die aus der Staatskasse finanzierte Scheinbeschäftigung seiner Angehörigen hatte der Schriftsteller Jean d’Ormesson Fillon als einzigen „soliden” Amtsanwärter gelobt. Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert”)gehört zu den Beratern des Sozialisten Benoit Hamon. Christine Angot hat ein Plädoyer für Francois Hollande veröffentlicht. Sie fordert ihn auf, zu bleiben, und hat dies gerade erst wieder bekräftigt. Sie war der Konterpart von Francois Fillon in der Fernsehsendung „L’imission politique”, in der dieser dem Staatspräsidenten Hollande vorwarf, ein „cabinet noir”, ein „schwarzes Kabinett”, zu führen, dessen Funktion darin bestehe, politische Gegner auszuhorchen und belastende Informationen an die Presse zu geben (FA.Z. vom 27. März).
Niemand will Frankreich wieder groß machen. Noch immer geht es darum, den Abstieg als Weltmacht seit 1945 und die Verdrängung an den Rand Europas nach der deutschen Wiedervereinigung zu verdauen. Die Aufarbeitung von Vichy ist in diesem Wahlkampf in den Hintergrund gerückt und Marine Le Pen bemüht, ihre Partei von faschistischen Altlasten zu befreien. Auf der Linken funktioniert der antifaschistische Reflex nicht mehr so richtig, und wenn die Politiker auf ihn setzen, blamieren sie sich durch mangelnde Geschichtskenntnisse. Die Kollaboration und der Widerstand weichen als Themen dem Kolonialismus und dem Algerien-Krieg — seit den Attentaten erst recht. Emmanuel Macron hat von kolonialistischen “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” gesprochen, Frangois Fillon ein Ende des Büßens gefordert.
Gegen die Instrumentalisierung der Geschichte durch die Rechte haben mehr als hundert Historiker unter der Anleitung von Patrick Boucheron vom „College de France” einen achthundert Seiten umfas-senden Band zur „Histoire Mondiale de la France” vorgelegt. Diese „Weltgeschichte Frankreichs” setzt der „nationalen” Geschichte und vor allem dem Anspruch der nationalen Identitätsstiftung „alternative” Daten entgegen. 1983 ist das Jahr der sozialistischen Wende zu „Rigueur” unter Mitterand, der „Tod von Foucalt“ steht seit 1984 im Zentrum.
1998 wird der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft tionalinannschaft analysiert. Das letzte Kapitel. — über die Terroranschläge — bekam die Überschrift „Die Rückkehr der Flagge”.
Es spricht für die Intensität der intellektuellen Debatten in diesem Wahlkampf, dass es der Sammelband auf Platz eins der Bestsellerlisten brachte. Die rechten Intellektuellen haben ihn mit viel Aufwand zerzaust. Für den Journalisten Eric Zemmour betreiben die Autoren „die Auflösung Frankreichs auf achthundert Seiten”. Subtiler fällt die Kritik von Alain Finkielkraut aus. Er unterstreicht, dass die Fußballspieler Zidane und Lilian Thuram vorkommen, nicht aber Dichter und Klassiker wie Rabelais, La Fontaine, Racine,
Verlaine, Proust. Der Nobelpreisträger Francois Mauriac werde erwähnt, „aber nicht wegen seines Werks, sondern wegen seiner schändlich reaktionären Kritik des Feminismus”. Finkielkraut zitiert den deutschen Romanisten Ernst Robert Curtius, der die einzigartige Bedeutung der Literatur in Frankreich hervorgehoben habe, und liest den Band als „Grabesrede” auf die französische „literarische Zivilisation”.
Mehr als die Historiker tragen Demographen und Geographen zum Verständnis des Wählerverhaltens bei. Herve Le Bras, dessen jüngstes Buch dem „Unbehagen in der Identität” gewidmet ist, hat die Vorwahl der Republikaner analysiert: Sarkozy, der „Bonapartist”, erreichte seine besten Resultate in Korsika, der Heimat seines Vorbilds Napoleon. Der Katholik Fillon punktete in den Departements, in denen die Truppen der Revolution 1793 den Aufstand der Vende niederschlugen — immer wieder ist von einem Genozid die Rede.
Zuvor hatte Le Bras einen Essay über „Die Wette des Front National” veröffentlicht. Der Geograph Christophe Guilluy bezeichnet ihn als „Partei der aussterbenden Mittelschicht”. Seit dem Brexit und Trump interessiert man sich brennend für Guilluys Theorie des neuen Klassenkampfs. Eine militante Rhetorik zeichnet seine Bücher aus. Sie tragen Titel wie „Le Crepuscule de la France d’en haut” (Die Dämmerung des Frankreichs ganz oben) und „La France peripherique” (Das periphere Frankreich). An dessen Rändern macht er die Bruchstellen aus. Guilluy benennt den neuen Klassenfeind: Es ist der „Bobo”, der linksliberale „Bourgeois-Bohemien”. Gemeint ist der urbane Hedonist, der Velo fährt, Bio isst und sich multikulti fühlt. In den Städten haben die „Bobos” die unteren Schichten vertrieben. Sie profitieren von der Globalisierung und führen, so die Zuschreibung, einen „Klassenkampf von oben”.
Die aussterbende Mittelschicht hat sich nach ihrer Vertreibung nicht in den Banlieus niedergelassen. Ihre Angehörigen zogen weiter hinaus, dreißig bis fünfzig Kilometer von den Zentren entfernt. Hier erreicht der Front National 35 Prozent der Stimmen, zehn Prozent mehr als im Landesdurchschnitt. Dass es in den kleinen und mittleren Städten auch viel weniger Ausländer gibt als anderswo, ist für Guilluy keineswegs ein Hinweis auf einen unverbesserlichen Rassismus der Front-National-Wähler. Er stützt mit dieser Beobachtung vielmehr seine These: Der Front National ist die politische Heimat der zum Pendeln verurteilten “Vertriebenen” geworden.
Die Arbeiter und Angestellten bilden die neue Unterschicht. Zu ihr gehören auch Rentner und die Jugendlichen, die zwar fast alle Abitur haben, aber keine Chance, an den renommierten Eliteschulen zu studieren. Guilluy kommt auf rund siebzig Prozent der Bevölkerung: „Zum ersten Mal in der Geschichte leben diese Schichten in ihrer Mehrheit nicht da, wo der Reichtum geschaffen wird, sondern abseits der Metropolen. Im Gegensatz zum früheren Mittelstand nehmen sie an der Wirtschaftsgeschichte nicht mehr und an der Kulturgeschichte nur noch begrenzt teil.” In der öffentlichen Wahrnehmung blieben sie unsichtbar: „Wer heute in Paris lebt, begegnet Menschen aus Berlin, Mailand und London, aber ganz sicher nie einem Franzosen aus der ländlichen Creuse.”
Michel Houellebecq beschreibt die Trostlosigkeit dieser sich ausbreitenden Wüste in „Karte und Gebiet”. Der Schriftsteller Aurelien Bellanger, der über Houellebecq ein Buch schrieb, hat seine neuen Romane „Amenagement du Territoire” und „Le Grand Paris” den neuen sozialen Brüchen und Veränderungen gewidmet. Die Kriegsreporterin Anne Nivat, die in Tschetschenien war, berichtet in „Dans quelle France an vit” — ein Bestseller — aus den von der Globalisierung versehrten Gebieten und über deren verstörte Bewohner. „Le facteur” darf amtlich nicht mehr Briefträger heißen, er ist jetzt ein „Verteiler von Gegenständen” und muss die zusätzlichen kleinen Dienstleistungen, die er verrichtet, verrechnen. Gott, den Friedrich Sieburg gerade in den ländlichen Paradiesen des französischen Glücks verortete, habe „La France profonde” fallen lassen.
„Decoloniser les Provinces” — die Provinzen dekolonialisieren — fordert Michel Onfray. Vor seinem Pamphlet zum Wahlkampf veröffentlichte er Anfang des Jahres den zweiten Band seiner Trilogie über die Welt: „Decadence”. Onfray verkündet den Niedergang nicht nur Frankreichs, sondern der “christlich-jüdischen Zivilisation” schlechthin. Er datiert ihren Beginn auf die Fatwa gegen Salman Rushdie, die der Westen ohne Gegenwehr geschluckt habe.
Kämpferischer als der resignierte Onfray („niemand will für unsere Werte sterben“) gibt sich der antitotalitäre Philosoph Pascal Bruckner .
Vor drei Jahrzehnten hatte er in „Das Schluchzen des weißen Mannes” die Selbstbezichtigungen des Westens angeprangert und vor dem Aufkommen des Opfer-Status, mit dem sich alle identifizieren wollen, sowie einer Diktatur der Minderheiten gewarnt. Der „weiße Mann” sei die letzte Minderheit und werde für „das ganze Übel dieser Welt verantwortlich gemacht”. Er habe sich gerächt mit dem Brexit und Trump. In Fillons Programm ist Bruckners Einfluss zu spüren.
In seinem neuen Essay „Le racisme imaginaire” (Der imaginäre Rassismus”) betrachtet der „Nouveau Philosophe” auch den Islamismus als totalitäre Ideologie. Für die Verteidigung unserer Zivilisation schlägt er die Bildung „Internationaler Brigaden” vor. Der Rassenkampf hat den Klassenkampf ersetzt, schreibt Bruckner. Von linksradikalen, antirassistischen Organisationen, denen er “Kollaboration” mit dem Terror vorwarf, wurde er vor Gericht gezerrt. Bei der Vorwahl der Sozialisten sprach er sich für Manuel Valls aus. Emmanuel Macron vertraut er bezüglich des Islams „in keiner Weise: Er ist ein Liberaler, der alles auf die Ökonomie zurückführt. Doch der Dschihadismus ist kein soziales, sondern ein theologisches Problem.”
Und wenn die Wahl heute wäre? „Ich müsste mich zwischen Macron und Fillon entscheiden”, sagt Pascal Bruckner: „Der Sozialist Benoit Hamon kommt nicht in Frage. Jean-Luc Malenchon erst recht nicht; er ist ein talentierter, kultivierter, rhetorisch begabter Neototalitärer. Fillons Affären hinterlassen einen üblen Nachgeschmack. Immerhin hat er seinen Flirt mit dem Populismus gestoppt. JÜRG ALTWEGG