Kampf gegen Assad / Syriens planlose Exil-Opposition – The Anatomy of an Opposition

Von Christoph Reuter und Daniel Steinvorth DER SPIEGEL – 6.10.2012 – Sie werden vom Westen unterstützt, wollen Chaos nach einem Machtwechsel in Syrien vermeiden. Doch während die Rebellen in der Heimat ihr Blut im Kampf gegen das Assad-Regime vergießen, sind die Oppositionellen im Exil völlig zerstritten – und überfordert.

Es war eine beschwerliche Reise, die der Mann unternahm. Jassir al-Hadschi, Oppositionskoordinator mehrerer Kleinstädte im Norden Syriens, wollte den “Syrischen Nationalrat” (SNC) treffen, den Kern der syrischen Exil-Opposition und wichtigsten Ansprechpartner des Westens. “Ich dachte, die vertreten uns in der Welt”, sagt Hadschi.

Illegal überquerte der Syrer im März die Grenze, immer auf der Hut vor den Patrouillen der Regimetruppen, die ohne Warnung schießen würden. Er umging auch die türkischen Posten, um nicht im Flüchtlingslager zu landen, und schlug sich bis nach Istanbul durch. Morgens um neun war der Termin, es sollte um humanitäre Hilfe gehen und um eine bessere Koordination der isolierten Gruppen innerhalb Syriens. Doch die beiden Führungsmitglieder des SNC hatten die Verabredung verschlafen.

“Sie erschienen dann um 16 Uhr”, erinnert sich al-Hadschi, der im zivilen Leben Geschäftsmann und eine gewisse Verlässlichkeit gewohnt ist, “sie hatten keinen Plan, und sie versprachen Hilfe, die nie eintraf.” Ein zweites Treffen sei ähnlich verlaufen. Und deshalb beklagen sich syrische Oppositionelle von Damaskus bis Aleppo: Der Nationalrat, gepäppelt mit Geld und internationalem politischen Wohlwollen, sei schlicht unfähig, den Staatsapparat nach einem Sturz Assads übergangsweise auszufüllen.

“Es darf kein Machtvakuum geben”

Dabei sah es anfangs so gut aus: Der im US-Exil lebende Geschichtsprofessor Amr al-Azm gehörte zu den Gründungsmitgliedern des SNC, er erinnert sich: “Im Oktober 2011 war der Zeitpunkt perfekt, eine gemeinsame Front gegen Assad zu bilden.” Aus verschiedenen islamischen, säkularen, nationalistischen und kurdischen Organisationen formte sich das bisher größte syrische Oppositionsbündnis. Doch dann, so al-Azm, hätten sich nach kurzer Zeit die Islamisten, vor allem die Muslimbruderschaft, durchgesetzt, “die kein schlüssiges Konzept für die Zeit nach Assad hatten”.

Andere sehen die Schuld weniger bei den Religiösen als im grundsätzlichen Missverständnis von Dissidenten, die oft schon seit Jahrzehnten in der Opposition waren: “Die denken, je länger man im Gefängnis war, desto eher verdient man ein politisches Amt”, so ein syrischer Logistiker des Aufstandes, der zwischen Katar, Türkei und Libanon pendelt und die Rebellen mit Satellitentechnik versorgt: Aber sie begreifen nicht, dass es nicht mehr um Parolen und TV-Auftritte geht, sondern um Organisationsstrukturen und Management!”

Der Vorsitzende des Syrischen Nationalrates ist ein kleiner, freundlicher Mann mit Halbglatze und sieht das selbstredend völlig anders: “Wir fühlen uns verantwortlich, den politischen Widerstand zu organisieren”, sagt Abd al-Basit Saida, 56, im Istanbuler Hauptquartier des SNC.

18 Jahre lang lebte der syrische Kurde und promovierte Philosoph im schwedischen Exil. Dort, in Uppsala, nahm die Welt nur wenig Notiz von ihm, und das wäre wohl auch so geblieben, hätten sie ihm im Juni nicht die Führung des Nationalrates angeboten. Er arbeite nicht für seine politische Karriere, nur für den Sturz des Regimes, beteuert Saida, aber: “Wir müssen schnell eine Übergangsregierung bilden. Es darf kein Machtvakuum geben.”

Das Lager der Assad-Gegner ist notorisch zerstritten

Doch an der praktischen Umsetzung hapert es: Es gebe, so ein Insider, noch immer keine Notfallpläne, wer überall im Land im Moment des Sturzes öffentliche Gebäude, Museen, Banken, Waffendepots bewachen und Dörfer von Alawiten, zu denen Assad gehört, vor Racheakten schützen werde.

“Der Nationalrat unterliegt einer Selbsttäuschung”, sagt Amr al-Azm, “er hält sich für die einzig legitime Vertretung der syrischen Opposition, aber eine vereinigte politische Opposition gibt es nicht. Wer in der Opposition etwas zu sagen hat, das entscheidet allein der militärische Erfolg im Inneren des Landes.”

Dazu kommt, dass jenseits der kämpfenden Rebellen das Lager der Assad-Gegner notorisch zerstritten ist. So nehmen neben dem SNC noch mindestens zwei andere Dachverbände für sich in Anspruch, die Opposition zu vertreten:

Das Nationale Koordinierungskomitee für Demokratischen Wandel (NCC) mit Sitz in Damaskus, ein Bündnis aus 13 linksgerichteten Parteien und unabhängigen Aktivisten. Das NCC steht unter der Führung des bekannten Anwalts Hassan Abd al-Asim und lehnt eine militärische Lösung des Konfliktes ab, es würde sich sogar auf Verhandlungen mit Assads Regierung einlassen – nur, dass das Regime nicht mit ihnen redet.

Der Rat für die syrische Revolution, ein Bündnis von 70 säkularen Exil-Oppositionellen mit Sitz in Kairo, ist eine weitere Gruppe. Ihr Vorsitzender, der 81-jährige Menschenrechtler Haitham al-Maleh, eine Galionsfigur des Widerstandes gegen die Assads, hat sich mit dem Nationalrat überworfen und will eine eigene Exilregierung in Kairo bilden.

“Alle Gruppen eint das Ziel, das Blutvergießen zu stoppen”

Ein geeigneter Nachfolger für Assad ist nicht in Sicht. Prominente Überläufer wie Ministerpräsident Riad Hidschab, der sich im August der Opposition anschloss, oder Brigadegeneral Manaf Tlass, der Anfang Juli nach Paris floh, gelten im Volk als zu korrupt und verflochten mit dem alten Regime.

Kaum war Tlass in Frankreich, gingen zum Beispiel im Dorf Kafr al-Nibl im Norden, bekannt für seine Spott-Slogans, die Demonstranten mit einem Plakat auf die Straße: “Die Charles-de-Gaulle-Brigade unter Kommando von Brigadegeneral Manaf Tlass hat die Champs-Elysées erobert.”

Für die kämpfenden Aufständischen ist das Gerangel untereinander absurd: Die Exil-Opposition verkaufe das “Blut der Märtyrer” für ihre Zwecke und zerstöre die Einheit der Regimegegner, sagt der nominelle Kommandeur der Freien Syrischen Armee (FSA), Oberst Riad al-Asaad, der bis vor kurzem im türkischen Exil saß und eher als Sprecher denn als Befehlshaber der FSA fungierte.

In seinem Istanbuler Büro will Nationalratschef Saida von all diesen Streitereien nichts wissen: “Alle Gruppen eint das Ziel, das Blutvergießen zu stoppen und das Land zu demokratisieren. Das Assad-Regime versucht gezielt, die verschiedenen Konfessionen aufeinander zu hetzen.”

Den Vorwurf, eine Exil-Opposition zu sein, die sich an Hotelbuffets den Magen vollschlage, während die Rebellen ihr Leben riskieren, will Saida nicht gelten lassen: “Wir operieren im Ausland, weil wir keine andere Wahl haben. Die meisten von uns werden vom Assad-Regime mit dem Tode bedroht.”

Was vor allem auf die syrischen Muslimbrüder zutrifft, die den größten Teil der SNC-Mitglieder stellen. Ihre Präsenz sichert dem Nationalrat Geld und politische Unterstützung – zumindest aus der Türkei und den Golfstaaten, wo man den Einfluss der Islamisten mit Wohlwollen betrachtet.

SNC-Chef Abd al-Basit Saida glaubt dagegen unbeirrt daran, dass das Syrien von morgen kein Gottesstaat werden wird: “Wir diskutieren zurzeit über die Wiedereinführung der Verfassung von 1950, wonach der syrische Staat ein ziviler und demokratischer ist.” Nur einen entsprechenden Mehrheitsbeschluss, räumt er leise ein, habe man noch nicht erzielt.

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