Joshuas Beschneidung / Von Sonja Süß

Der Film “It’s a boy” mit deutschen Untertiteln kann unter www.realeyz.tv/de/its-a-boy.html für eine Gebühr von 1,90 Euro angesehen werden.

Der jüdische Regisseur Victor Schonfeld hat an alle Mitglieder des Bundestags Mails geschickt, damit sie sich seinen Film “It’s a boy” anschauen und die Beschneidung so sehen, wie sie wirklich ist.

Jedes der 620 Mitglieder des Bundestages hat in den vergangenen Wochen zwei Mails erhalten. Betreff: “Ihr persönlicher Videobeweis, dass Kinder leiden werden”. Auch an Bundespräsident Joachim Gauck wurden die Mails gesendet. Absender ist der englische Regisseur Victor Schonfeld. Schonfeld ist Jude. Zusammen mit der jüdischen Filmemacherin Jenifer Millstone hat er einen Film über die Beschneidung von Jungen gedreht. Der Titel: “It’s a boy”. Die Mails enthielten einen Link zu einer Internetseite, wo man sich den Film kostenfrei ansehen kann, und einen offenen Brief. Schonfeld hat die Mails zweimal verschickt, um sicherzugehen, dass niemand später sagen kann, er habe sie nicht erhalten. Im offenen Brief heißt es: “Von einigen jüdischen Vertretern wird Ihnen gesagt, dass es einer Nation, die mit der historischen Schuld beladen ist, jüdische Kinder getötet zu haben, nicht zustünde, jüdischen Eltern zu sagen, was sie mit ihren Kindern zu tun und zu lassen haben. Dieses Argument ist rein manipulativ – und es muss zurückgewiesen werden.”

In der kommenden Woche müssen die Abgeordneten über das Gesetz zur Beschneidung von Jungen entscheiden. Bewilligen sie den Gesetzentwurf der Bundesregierung, legalisieren sie die Beschneidung. Jungen unter sechs Monaten dürfen dann laut Gesetz ohne Betäubung oder Anwesenheit eines Arztes beschnitten werden.

Der offene Brief erschien auch als Anzeige in der “taz”. Die Verkaufszahlen von “It’s a boy” schossen in die Höhe. Der Film wird auf der deutschen Internetseite “realeyz.tv” vertrieben und ist diese Woche auf Platz eins der Bestsellerliste gestiegen. 70 bis 100 Mal am Tag wird er heruntergeladen. “Nur mit starkem Magen gucken”, kommentiert eine Kundin.

“Es war sehr schwer für mich, diesen Film zu machen. Ich wusste, meine Angehörigen würden erschüttert sein. Sie würden es hassen, die Beschneidung so zu sehen, wie sie ist”, sagt Schonfeld. Als der Film 1995 erstmals im englischen Fernsehen gezeigt wurde, erregte er viel Aufmerksamkeit. Kritiker lobten den Film für seine Schonungslosigkeit, die Zuschauer waren schockiert von dem, was sie sahen.

Der Film begleitet den englischen Mohel David Singer bei einer Beschneidung. Rabbi Singer ist kein Arzt, er beschneidet nach altem jüdischen Brauch und ohne Betäubung. Joshua Hawksworth ist acht Tage alt. Er ist Sohn einer jüdischen Mutter. Angehörige sind für die Zeremonie aus Tel Aviv eingeflogen. Joshuas Vater ist nicht jüdisch und nimmt an der Beschneidung nicht teil.

Rabbi Singer zieht Joshua die Hose aus und bindet seine Beine mit einem Verband zusammen, nur der kleine Penis liegt frei. Die Mutter späht durch einen Türspalt. Bei der Beschneidung darf sie nicht anwesend sein. Der Großvater nimmt Joshua auf den Schoß. Mit seinen Händen fixiert er Joshuas Arme und Beine. Joshua weint. Der Rabbi schneidet die Vorhaut mit einem Messer ab und benutzt seinen Fingernagel, um das restliche Gewebe der Vorhaut nach dem Schnitt abzutrennen – eine traditionelle Methode. Joshua schreit, der Verband tränkt sich mit Blut. Die Metzizah, das Absaugen des Blutes aus der Wunde, macht der Rabbi mit einem kleinen Röhrchen. Am Ende tunkt er seinen Finger in Wein und steckt ihn Joshua in den Mund. Kurz verstummt Joshua. Dann schreit er wieder.

Joshuas Vater meldet sich drei Tage nach der Beschneidung seines Sohnes aus dem Krankenhaus. Joshua liegt auf der Intensivstation, der Penis hat sich infiziert. Joshua rang nach Atem, seine Haut wurde grau. Sein Vater steht im Krankenhausflur und ist den Tränen nah, er zittert, seine Stimme bebt. Er fragt: “Warum muss er beschnitten werden, um jüdisch zu sein?” Als er später die Aufzeichnung der Beschneidung sieht, ballt er eine Hand zur Faust, dann vergräbt er das Gesicht in seinen Händen. Er sagt: “Ich hätte das alles verhindern können.”

Eine Mutter, die Schonfeld interviewt hat, erzählt von ihrem Sohn. Er starb nach der Beschneidung. Sie hat nicht einmal ein Bild von ihm. Ein Mann erinnert sich, wie sein Vater ihn eines Tages mit zum Frisör nahm. “Dort wurde ich auf den Tisch gelegt und kurzerhand beschnitten. Es war ein Riesenschock.” Er sagt, er sei nie über den Vertrauensbruch hinweggekommen, die psychischen Schmerzen belasteten ihn noch immer.

Schonfeld will, dass die Bundestagsabgeordneten seinen Film sehen. Und dass sie gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung stimmen. Er sagt: “Wie kann der Bundestag es rechtfertigen, nicht hinzuschauen? Wenn in Zukunft Opfer der Beschneidung kommen – und das werden sie -, was werden die Bundestagsmitglieder dann sagen? ,Ich habe nicht hingesehen, ich habe nicht gesehen, wie die Kinder leiden’?”

Die SPD-Abgeordnete Marlene Rupprecht hat den Film gesehen. “Ich war erschüttert”, sagt sie, “der Film bringt auf den Punkt, was Kinderärzte mir schildern und was täglich passiert.” Sie fragte andere Abgeordnete, aber nur vereinzelt hatte sich jemand den Film angeschaut. Raju Sharma (Linkspartei) war “sehr bewegt” von dem Film, er mache deutlich, “wie kleine Kinder und ihre Eltern offensichtlich leiden”.

Stephan Thomae von der FDP will sich den Film noch ansehen, bisher habe er dabei technische Schwierigkeiten gehabt. Er sagt aber auch: “Ich bin eigentlich schon entschieden und werde für den Gesetzentwurf stimmen, es gibt aber noch Detailfragen.” Eine Detailfrage sei die Altersgrenze von sechs Monaten.

Thomae ist von der Kompetenz der jüdischen Beschneider überzeugt: “Die Mohalim haben eine medizinische Ausbildung und Berufserfahrung. Damit haben sie oft mehr Erfahrung als ein Urologe.” Es gibt einen Gegenentwurf zum Gesetzentwurf der Bundesregierung von Marlene Rupprecht und über 50 anderen Abgeordneten. Der Gesetzentwurf sieht vor, Jungen erst ab dem 14. Lebensjahr zu beschneiden, und nur, wenn sie einwilligen. Thomae behauptet, das sei kontraproduktiv: “Körperliche und psychische Schmerzen heilen bei jüngeren Kindern schneller. Wenn man den Eingriff also machen lässt, dann möglichst früh.” Den Vorschlag von Jerzy Montag, rechtspolitischer Sprecher der Grünen, den Kindeswillen zu berücksichtigen, findet Thomae schwierig: “Eltern müssen sich bei der Kindererziehung oft über den Kindeswillen hinwegsetzen. Kindeswille und Kindeswohl ist gerade bei kleinen Kindern oft nicht identisch”, sagt er.

Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Siegfried Kauder (CDU), hat sich den Film auch noch nicht angeschaut; er sagte, er habe es vor. Auch sein Parteikollege Eckhard Pols fand noch nicht die Zeit. Als einer von wenigen seiner Fraktion spricht er sich jedoch gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung aus. “Wir diskutieren über Schenkelbrand bei Pferden, aber Beschneidung bei kleinen Jungen soll ohne sachgemäße Betäubung vorgenommen werden können. Damit bin ich nicht einverstanden”, sagt er.

Schonfeld zählt, wie oft der Film von den deutschen Bundestagsabgeordneten im Internet angeschaut wurde. 150 müssten es nach seiner Schätzung gewesen sein, wobei es auch sein kann, dass Mitarbeiter der Abgeordneten den Link angeklickt haben. Sein offener Brief endet mit dem Appell: “Wir haben jetzt eine historische Chance, dem Leiden ein Ende zu setzen. Bitte lassen Sie sie nicht ungenutzt verstreichen.”

Der Film “It’s a boy” mit deutschen Untertiteln kann unter www.realeyz.tv/de/its-a-boy.html für eine Gebühr von 1,90 Euro angesehen werden.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.12.2012, Nr. 48, S. 9