Gewalttätige Aktivisten haben eine aussergewöhnliche Solidaritätswelle in den USA gebrochen / Sinkende Armut für Schwarze

MESOPOTAMIA NEWS : DEUTLICH MEHR JOBS FÜR SCHWARZE UNTER TRUMP / VERGLEICH ZU CLINTON & OBAMA

Die Protestierenden gegen Polizeigewalt, Ungerechtigkeit und Diskriminierung hatten eine Zeitlang die Stimmung im Land hinter sich. Das hat sich wegen Gewalt und Zerstörung inzwischen aber wieder geändert. Präsident Trump versucht, das für seinen Wahlkampf auszunutzen.

Peter Winkler, Washington12.09.2020, 06.00 Uhr Neue Zürcher Zeitung

Im grünen Speckgürtel um die Hauptstadt Washington sind sie in dieser Zeit besonders häufig zu sehen: Tafeln in den Vorgärten, auf denen die gängigen Parolen beschworen werden: «Black Lives Matter» (schwarze Leben zählen), «Equal Justice Now» (Schluss mit der Diskriminierung im Justizwesen) oder auch gern: «Es gibt nur eine Rasse, die menschliche.» Das linksliberale Establishment, das hier in erdrückender Mehrheit lebt, weiss, was es dem Zeitgeist schuldig ist. Und die Tafeln kosten ja auch fast nichts, weder im finanziellen noch im übertragenen Sinn.

Tiefsitzender Abwehrreflex

In den gleichen Vororten dunkelhäutige Menschen anzutreffen, ist etwas schwieriger, sofern sie nicht zu den emsigen Gartenarbeitern, Putzequipen oder Kinderbetreuerinnen gehören. Das ist kein Zufall. Es gibt eine Grenzlinie, nicht nur in den offiziellen Zonenplänen, die den Bau günstiger Mehrfamilienhäuser in diesen Vororten mit den besten Schulen verbieten oder mit einer Vielzahl von Schranken verhindern. Die Grenzlinien existieren auch in den Köpfen. Die Klischees sind tief verankert, wie Michael Emerson, Soziologe an der Universität von Illinois-Chicago, erklärt. Er studiert seit vier Jahrzehnten Phänomene der Segregation, auch im Schul- und Wohnbereich.

In einem Beitrag des Kolumnisten Thomas Edsall in der «New York Times» meint Emerson, die meisten Weissen in Amerika könnten sich nicht vorstellen, dass es Wohngebiete mit guten Schulen und steigenden Grundstückspreisen geben könne, die gleichzeitig hohe Anteile an schwarzen oder Latino-Einwohnern hätten. Obwohl es mittlerweile gut integrierte, gemischtrassige Wohngebiete gebe, die das Klischee widerlegen könnten, existiere bei vielen Weissen ein Schwellenwert, ungefähr bei einem Anteil von 30 Prozent Dunkelhäutiger in einem Wohnquartier, der einen Abwehrreflex auslöse.

Edsall kommt unter anderem auf das Thema zu sprechen, weil im Enthusiasmus über «Black Lives Matter»-Parolen leicht vergessen geht, dass die schwarze Bevölkerung Amerikas nicht im 19. Jahrhundert steckengeblieben ist – und auch nicht in der ersten Hälfte des 20. Wie viele andere konservative Stimmen wies auch der schwarze Harvard-Professor Henry Gates in einem Interview mit dem «Time Magazine» im Februar auf eine Tatsache hin, die kaum je zur Kenntnis genommen wird: Seit den siebziger Jahren hat sich die schwarze Mittelklasse in den USA verdoppelt, und die obere Mittelklasse hat sich vervierfacht.

Sinkende Armut der schwarzen Amerikaner

Anteil der schwarzen Bevölkerung in den USA, die unterhalb der Armutsgrenze lebt, in Prozent

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Quelle: US Census Bureau

NZZ / win.

 

Umgekehrt hat sich der Anteil schwarzer Menschen, die in Armut leben, seit den sechziger Jahren mehr als halbiert. Nimmt man 1959 als Ausgangspunkt, so sank die Armutsquote sogar von 55 auf 20 Prozent. Es läuft dem zeitgeistigen Verständnis des Rassenproblems in den USA zuwider, ist aber trotzdem eine Tatsache: Die Frage der Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft ist keineswegs auf das Verhältnis zwischen Weiss und Schwarz begrenzt, sondern hat auch eine starke schwarz-schwarze Komponente.

Das, was in den Medien und der «Black Lives Matter»-Bewegung mit besonderer Intensität gespiegelt wird, betrifft eine städtische, oft unterhalb der Armutsgrenze lebende Bevölkerung, aber nicht jenen Teil der Afroamerikaner, die sich in die Mittelklasse emporgearbeitet haben. Um den Zurückgebliebenen den Aufstieg ebenfalls zu ermöglichen, würden abgeänderte Zonenpläne weit mehr bewirken als tugendhafte Slogans im Vorgarten.

Segregation ist gut für die Immobilienpreise

Doch das ist haargenau das Gegenteil dessen, was Präsident Trumps Wahlkampagne im Sinn hat. In den wohlhabenden, begrünten Vororten lebt nämlich eine Wählergruppe, die in den Augen vieler Experten in der kommenden Präsidentenwahl das Zünglein an der Waage spielen wird. Es sind die weissen Frauen – allerdings nicht zwingend Hausfrauen, wie Trump in einem verräterischen Rückgriff auf längst vergangene Zeiten meinte, sondern weit öfter Berufstätige.

Um Trumps Vorgehen zu verstehen, muss man wissen, dass das Wohneigentum und dessen Wertsteigerung für viele Amerikanerinnen und Amerikaner der wesentliche Pfeiler der Vermögensbildung ist. Die Botschaft des Präsidenten lautet: Joe Biden will die Vororte abschaffen, ruinieren, kaputtmachen. Und wie tut er das? Indem er – immer laut Trump – die Bauzonenordnung umstösst, neben den schmucken Bungalows, Ramblers, Split-Levels und Mansions auch Mehrfamilienhäuser zulässt. Niemand wisse, welche Sorte von Leuten dies in die Nachbarschaft locke, unterstreicht Trump, und das mache sie unsicherer. Das Resultat der Politik, die eigentlich die tief verwurzelte Segregation wenigstens aufweichen sollte, ist in Trumps Darstellung ein direkter Angriff auf den Wert der Immobilien, also aufs Portemonnaie der gegenwärtigen Einwohner der Vorstädte.

 

An anderer Stelle wurde Trump noch deutlicher: Eine Änderung der Bauzonen werde dazu führen, dass «der Wert eurer Häuser sinkt und die Kriminalitätsraten steigen». Menschen, die ihr ganzes Leben daran gearbeitet hätten, sich den Traum eines Hauses in der Suburb zu erfüllen, würden zuschauen müssen, wie dieses vor die Hunde gehe. Damit appelliert Trump genau an den Reflex, den der Soziologe Emerson beschrieben hatte: Man braucht lediglich den Spuk einer grösseren Präsenz von Dunkelhäutigen in der Vororts-Nachbarschaft zu beschwören, und schon heisst es frei nach Brecht: Erst kommt der Immobilienpreis, dann die Moral.

Experten streiten sich noch darüber, inwiefern diese Botschaft verfängt. Aber sie könnte auf einen Boden fallen, der in den letzten Wochen fruchtbarer geworden ist. Die aussergewöhnlich breite Solidarität vieler Weisser mit schwarzen Amerikanern, die durch die sehr emotionalen Bilder und Berichte von überzogener Polizeigewalt in den Fällen von George Floyd in Minneapolis (Minnesota), Breonna Taylor in Louisville (Kentucky) oder Jacob Blake in Kenosha (Wisconsin) ausgelöst worden war, scheint bereits wieder zu verblassen. Die Online-Meinungsforschungsfirma Civiqs hat bei weissen registrierten Wählern eine Trendwende ausgemacht. Die mehrheitliche Zustimmung zur «Black Lives Matter»-Bewegung, die nach George Floyds Tod gemessen wurde, ist wieder in Skepsis umgeschlagen.

Die Haltung der Weissen zu «Black Lives Matter» ist wieder gekippt

Zweifellos eine Hauptschuld daran trägt das, was sich in vielen Städten über Wochen oder gar Monate hinweg abspielte: sinnlose, scheinbar zum nächtlichen Ritual gewordene Zerstörungen und gewaltsame Ausschreitungen in Brennpunkten wie Portland, Seattle oder Kenosha, alles unter dem Banner des Kampfs gegen Diskriminierung. In den Rechtfertigungen für solches Tun ist deutlich geworden, dass viele der Beteiligten sich nicht in erster Linie der Förderung der Bürgerrechte verschrieben haben, sondern dem Umsturz und dem Ende des Kapitalismus, notfalls auch mit Gewalt.

Plünderung als Wiedergutmachung?

Diese Erkenntnis ist nicht neu, sie war in den Jahren 2014 bis 2016 weit verbreitet. Sie wurde eine Zeitlang von den Ereignissen im Frühsommer verdrängt, ist aber mittlerweile wieder ins Bewusstsein auch jener gelangt, die konsequent für ein Ende von Rassendiskriminierung und -segregation eintreten. Haarsträubende Äusserungen von Aktivistinnen und Aktivisten haben mitgeholfen. So meinte eine Vertreterin der «Black Lives Matter»-Bewegung nach einer Plünderorgie entlang der Magnificent-Mile-Einkaufsstrasse im Zentrum Chicagos, Zerstörung und Diebstahl seien eine Art Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht.

Wiedergutmachung muss zwar erstritten werden, wird aber schliesslich in einem Akt des Eingeständnisses einer gewissen Schuld und Sühne gegeben. Was sich in den Zerstörungsritualen manifestiert, ist allenfalls Rache.

https://www.nzz.ch/international/unruhen-usa-die-gewalt-schadet-der-black-lives-matter-bewegung-ld.1575921?mktcid=nled&mktcval=164_2020-09-12&kid=_2020-9-11&ga=1