Frankfurter Ausgabe : Der Höhepunkt des Hölderlinjahrs
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- Von Jochen Hieber – FAZ -Aktualisiert am 26.07.2020-19:14
Die Frankfurter Ausgabe der „Sämtlichen Werke“ von Friedrich Hölderlin ist rechtzeitig zum 250.Geburtstag des Dichters wieder im Buchhandel erhältlich. Das ist eine Freude, die den Blick für seine Poesie aufs Neue öffnet und schärft.
Ein Auftakt, so gebieterisch und unwiderstehlich, als nähme er Beethovens fünfte Sinfonie vorweg: „Komm! ins Offene, Freund!“ Ein Fortgang, als würde thematisch auch die sechste, die Pastorale, antizipiert: „Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume / Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft“. Es ist „Der Gang aufs Land“, den Friedrich Hölderlin 1801, sieben Jahre vor der Uraufführung der beiden Beethoven-Sinfonien, intoniert und instrumentiert. Begegnet sind sich der Dichter und der Komponist nie, jeder von ihnen jedoch Goethe. Obwohl Schiller ihr gemeinsames Idol war, haben sie, die Jahrgangsgenossen von 1770, sehr wahrscheinlich nicht einmal voneinander gewusst.
Hölderlin, der Flöte spielte und Klavier, begriff Poesie stets als „Gesang“, achtete dichtend auf den „Wechsel der Töne“ und ließ „das Saitenspiel“ auch in den schönsten Versen hören, die er schrieb, jenen von „Brod und Wein“ und „Andenken“. „Der Gang aufs Land“ ist fast so schön. Aktueller als er aber kann ein Gedicht nicht sein im pandemischen Stadtflucht-Sommer 2020: „Deßhalb wollen wir heut wünschend den Hügel hinauf.“
Entworfen, genauer: hingeworfen hat Hölderlin die idyllische Elegie zunächst in wilder, rauher Handschrift, in der sich Wörter und Zeilen fast abstandslos über- und ineinanderballen, für die der Papierrand ein bloßes Ärgernis ist und die Strophenfuge Platzverschwenden. Es folgt eine Reinschrift, die Regelmaß zeigt, dem Dichter aber nicht genügt, weshalb er auf weiteren Blättern weitere Halbsätze, Keimwörter, Verszeilen notiert – mit dem ins Reine Geschriebenen wird er sie nie verbinden. Das Gedicht bleibt Fragment, wenngleich ein grandioses.
Rabiate Polemik nicht ausgeschlossen
Bis vor einigen Jahrzehnten konnten wir Leser solche handschriftlichen Verhältnisse – sie sind beim reifen Hölderlin die Regel – bestenfalls erahnen. Wir mussten uns mit gedruckten Reinschriften oder konstituierten Texten begnügen, rare Handschriftenfaksimiles blieben schmückende Beigaben. Wollte man es genauer wissen, erfuhr man das Nötige in den Kommentarbänden der maßgeblichen historisch-kritischen Editionen. Maßgeblich für Hölderlin war die Große Stuttgarter Ausgabe in fünfzehn Bänden, kurz: StA, die der Germanistenpapst Friedrich Beißner 1943, noch im Weltkrieg, begonnen hatte. Sie stand Mitte der siebziger Jahre kurz vor der Vollendung und ist inzwischen auch digitalisiert. Mit der Trennung von Lesefassung und Variantenapparat galt sie als Fels wie Vorbild neugermanistischer Editionstechnik und Textkritik.
Am 6. August 1975 aber geschah Ungeheuerliches. Im Nobelhotel Frankfurter Hof präsentierten KD Wolff, 32 Jahre alt und linksradikaler Chef des Verlags „Roter Stern“, und der vier Jahre ältere D.E. Sattler, ein Werbegrafiker aus Kassel ohne Abitur, bei einer legendär gewordenen Pressekonferenz einen Einleitungs- und Probeband mit Abbildungen und Editionsbeispielen aus dem sogenannten Homburger Folioheft, der schwierigsten aller Hölderlin-Handschriften, und erklärten, binnen fünf Jahren eine vollständige und völlig neuartige Werkausgabe in zwanzig Bänden vorzulegen – ausschließlich finanziert durch Subskription und Verkauf, ohne öffentliche Unterstützung.
Der Auftritt war nur noch moderat von Klassenkampf-Rhetorik orchestriert, was rabiate Polemik gegen die StA nicht ausschloss. Deren Editionsmethode, hieß es, unterdrücke den wahren Hölderlin und halte die Leser unmündig. Die deutschsprachigen Feuilletons, auch Volker Hage in dieser Zeitung, zeigten sich skeptisch, dabei erwartungsvoll und ja: auch beeindruckt. Stellvertretend für die etablierte Wissenschaft gab Detlev Lüders, der Direktor des Goethehauses und des Freien Deutschen Hochstifts, allerdings zu Protokoll, hier gehe es offenbar „nicht nur um einen ganzen, sondern auch um einen ganz roten Hölderlin“.
Fragt man Anne Bohnenkamp-Renken, Lüders’ Frankfurter Nach-Nachfolgerin, zugleich Vorsitzende in der Arbeitsgemeinschaft Germanistischer Editionen, nach dem heutigen Rang der einstigen Rebellion, sagt sie: „Die FHA, die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, hat die Wahrnehmung von Editionen und das Nachdenken darüber revolutioniert. Man kann die neuere Editionsgeschichte geradezu einteilen in eine Zeit vor und eine Zeit nach KD Wolff und vor allem D.E. Sattler.“ Bereits vier Jahre nach der Hotel-Premiere hatte Jürgen Habermas in den „Stichworten zur ,Geistigen Situation der Zeit‘“ notiert, „die Hölderlin-Ausgabe des Roten Stern“ sei einer der wenigen gelungenen „Ausbruchsversuche aus dem Getto“ der Achtundsechziger.
Nicht nur in der Wissenschaft gibt es Momente, in denen die als Einmischung, ja Bedrohung empfundene Initiative von Außenseitern weiterhilft. Man spürte damals, dass Sattler eine womöglich höchst originelle Konsequenz aus dem Umstand gezogen hatte, dass es Fertiges, Endgültiges beim späten Hölderlin, also im dichterischen Werk eines Dreißig- bis Fünfunddreißigjährigen, nicht gebe. Umstandslos opferte er die Trennung von Text und Apparat zugunsten eines genetischen Nachvollzugs des dichterischen Prozesses, der seinerseits durch umfassende, dabei technisch Band für Band verbesserte Schwarzweißfotografien des handschriftlichen Befunds und deren seitenparallele Umschrift dokumentiert wurde.
Von „Stutgard“ nach Patmos
Sich selbst gekrönt hat die Frankfurter Ausgabe zwischen 1986 und 1999 durch drei farbfotografische Faksimilebände der wichtigsten Handschriften-Konvolute in höchster Qualität, darunter naturgemäß zuerst das Homburger Folioheft, in dem Hölderlin zwischen 1802 und 1806/07 jene Reinschriften und Entwürfe festhält, die Ruhm und Rang seines Werks wesentlich mitprägen: neben der unvergleichlichen Elegie „Brod und Wein“ auch „Heimkunft“ und „Stutgard“, neben „Der Einzige“, „Patmos“ und „Die Titanen“ etwa auch „Das Nächste Beste“ und „Mnemosyne“. Über solch zugleich luxuriösen wie das Dichterwort manifest demokratisierenden Publikationen kam das rein editorische Handwerk nicht zu kurz. Zwar wurden aus fünf letztlich 33 „keineswegs müßige“ (Bohnenkamp-Renken) Jahre, zwar wurden durch die Universität Bremen und die Deutsche Forschungsgemeinschaft öffentliche Mittel bewilligt, die für einzelne Bände auch junge, aufstrebende Philologen als Mitarbeiter finanzierten.
Elementar war aber, dass die Ausgabe ein privates Engagement blieb, in ihrem Kern also das Werk dreier Akteure, die bis zur Vollendung im Jahr 2008 trotz schlimmer Kräche nach innen wie außen, permanenter Geldnot, trotz der durch Pleite bedingten Metamorphose des „Roten Stern“ zur Schweizer Dependance „Stroemfeld“ und des zeitweise trotzigen Ausscherens des Herausgebers zu einem Konkurrenzverlag final zusammen-, genauer: durchhielten: Michel Leiner, der meisterhafte, 2014 gestorbene Buchgestalter und Schriften-Kompositeur, KD Wolff, von dessen ebenso sensibler wie robuster Durchhalte- wie Durchsetzungskraft alles abhing, und natürlich der heute schwer erkrankte D.E. Sattler selbst, der sich vom Autodidakten zum allwissenden Spezialisten entwickelte und dessen Fähigkeit, zu sehen und andere sehend zu machen, fraglos das Ingenium der Edition ausmacht.
Am Ende war gleichwohl nicht alles gut. Sattler hatte sich im Lauf der Zeit vom Sehenden zum Seher gewandelt. An die Stelle des Offenen, Prozesshaften der Dichtung rückte eine Ganzheits-, ja Vollkommenheitsobsession, die gerade für die Edition der Königsbände des Frankfurter Hölderlins, die „Gesänge“ von 1802 an, fatale Folgen zeitigte. Sie halten einer kritischen Sichtung – „Glaube, wer es geprüft!“, heißt es in „Brod und Wein“ – nicht stand. Weil er Kritik zunehmend schroffer abwies, hat Sattler diese Bände ohne Mitarbeiter ediert, was in der Folge zwangsläufig auch den Schlussband der Ausgabe, die sonst in vielem höchst kundige „Chronologisch-integrale Edition“, in Mitleidenschaft zieht.
Schon Norbert von Hellingrath hat in seiner Ausgabe von 1917 die „Gedichte 1800–1806“ übersteigert als „Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen Werkes“ bezeichnet – ganz gewiss, um das Pathologisieren des Spätwerks abzuwehren, es eben nicht als Vorboten und Vorstufe zu jener „Umnachtung“ anzusehen, die dann von 1806 an zur Einlieferung des Dichters in die Psychiatrie und von 1807 an zur zweiten Lebenshälfte im Tübinger Turm führt. Auch Beißner war von der Mission beseelt, die späten Hymnen durch verschiedene „Fassungen“ zu retten und alles Widerstrebende im Apparat zu verstecken. Die Stuttgarter Ausgabe ist gleichwohl ein Monument geworden und geblieben. Nicht minder gilt das für die FHA, liefert sie doch durch die Faksimiles der Handschriften die wesentliche Grundlage zur Kritik an ihr gleich mit. Hölderlin, es ist sein und unser Glück, ist der bestedierte Klassiker der deutschen Literatur.
Seit zwei Jahren aber sind die Verlagsbestände der Frankfurter Ausgabe in ein Bücherlager gesperrt. Im Handel ist die FHA nicht mehr erhältlich gewesen. KD Wolff konnte keine Nachfolger finden, zum Verlust des verlegerischen Partners Michel Leiner kam 2018 die Insolvenz von Stroemfeld/Roter Stern. Wichtige Säulen des einstigen Verlags, Klaus Theweleits „Männerphantasien“, Peter Kurzeck und seine Romane sowie Roland Reuß, Peter Staengle und ihre Kafka-Edition, haben in anderen Häusern ein, so ist zu hoffen, „freundlich Asyl“ (Hölderlin, „Mein Eigentum“) gefunden. Ein solches öffnet sich von der kommenden Woche an auch für die FHA. Vittorio Klostermann, Chef des gleichnamigen Frankfurter Verlags und Hüter von Martin Heideggers Werken, hat den Frankfurter Hölderlin übernommen und macht ihn jetzt aufs Neue lieferbar.
Die Nachricht ist der Höhepunkt des Hölderlinjahrs. Warum? Mit Sicherheit werden die zwanzig Bände, die nur zusammen zu erwerben sind und 998 Euro kosten, kein Verkaufserfolg sein, ebenso wenig die drei Supplement-Ausgaben (198 Euro) und die je einzeln verfügbaren Sattler-Bände („Gesänge I und II“, 98 Euro) sowie der FHA-Schlussband (48 Euro). Zudem ist die FHA längst in (fast) jeder Universitäts- und Landesbibliothek einzusehen und auszuleihen. Darum geht es nicht. Es geht auch nur am Rande darum, sei aber immerhin gesagt, dass sich ein häusliches Leseleben ohne die FHA – und das hieße eben auch: ohne all die Hölderlin-Manuskripte im Faksimile, mit denen man dank D.E. Sattlers Umschriften ganz rasch vertraut wird – schon sehr bald nicht mehr vorstellen ließe. Also kann es bei der Übernahme durch Klostermann nur um ein Symbol gehen, um ein allerdings emphatisches Zeichen von Präsenz. In Zeiten von Bücher- und Leserschwund ist die FHA beinahe schon wieder ein kulturrevolutionäres Unterfangen, ganz so, wie sie vor 45 Jahren begann.
In einer „Zeit“-Rezension von Sattlers Schlussband „Chronologisch-integrale Edition“ nahm 2008 Navid Kermani als Schlüssel zum späteren Hölderlin wahr, wie „die Dichtung fliegt“, während er, der Dichter, „selbst stürzt“. Nahezu alle Gedichte und Gesänge, die ihn singulär machen, schreibt Hölderlin, nachdem er der geliebten Frankfurter Bankiersgattin Susette Gontard bekennen muss, seine Ersparnisse gingen zur Neige, mit ihnen die (einzige) Zeit als freier Autor, die er zwischen 1798 und 1800 in Homburg vor der Höhe verbringt. Er muss wieder nach Hause ins Württembergische und in die Abhängigkeit. Sagen lässt sich, dass in nahezu allen großen Gedichten ein Dichter-Ich erscheint, das mit dem autobiographischen wenig – aber nicht nichts – zu tun hat, dafür als Medium des Unbedingten zwischen dürftiger Gegenwart und erhabener mythisierter Antike hin und her schwingt. Dabei erschöpft es sich.
In „Andenken“, der 1803 geschriebenen, prosodisch unübertrefflichen und philosophisch unausdeutbaren Reminiszenz an die wenigen Vorjahreswochen als Hauslehrer in Bordeaux, steht die Sequenz: „Es reiche aber, / Des dunkeln Lichtes voll, / Mir einer den duftenden Becher, / Damit ich ruhen möge; denn süß / Wär’ unter Schatten der Schlummer.“ Vierzig Jahre und viele, von 1807 an nur noch konstatierende, gleichwohl ergreifende Verse lang wird Hölderlin danach hinleben. Die Töne von „Andenken“ sind keine Vorwegnahme von Beethoven mehr, sie greifen noch viel weiter voraus – fast bis ans Ende von Richard Wagners „Tristan und Isolde“. In der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe lässt sich (auch) das – sehen.