Europäische Währungsunion / Die Kosten werden untragbar

MESOP NEWS  „THE LAST DAYS OF EUROPE“ – „GESAMTÜBERSICHT“ : JE HÖHER DIE STAATSSCHULDEN – DESTO MEHR GEWINN

Gastkommentarvon Kai A. Konrad 18.4.2017,  Kai A. Konrad ist Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und öffentliche Finanzen. Er diskutierte am NZZ-Podium Berlin vom 29. März zum Thema «Europäische Währungsunion».

Weil es in der Europäischen Währungsunion keine Wechselkursanpassungen gibt, bauen sich massive Ungleichgewichte auf. Doch die Mitgliedsländer tun sich schwer mit der Umverteilung. Zwei Weltkriege haben Narben hinterlassen, Emotionen spielen immer noch eine grosse Rolle.Die Euro-Zone verhandelt derzeit wieder mit Griechenland. Es geht um die Umsetzung des dritten Hilfsprogramms. Parallel wird bereits seit 2016 über eine Aussetzung und eine Streckung der Zinszahlungen diskutiert. Deren Grössenordnung schätzt das deutsche Finanzministerium nach Pressemeldungen auf rund 120 Milliarden Euro. Die Verhandlungen verlaufen trotz diesen Summen mit mässiger öffentlicher Anteilnahme.

Überhaupt ist es eher still geworden um die Europäische Währungsunion (EWU). Werden zwischenstaatliche Sanierungshilfen für überschuldete Mitglieder, die im Mai 2010 noch eine Sensation waren, bei der dritten Wiederholung zur Normalität europäischer Politik? Ist die EWU heute stabil?

Die EWU ist ein wenig wie ein Atom eines radioaktiven Isotops: Die meiste Zeit ist es stabil, bis es zerfällt. Und es ist schwierig, den genauen Zeitpunkt des Zerfalls vorherzusehen.Die EWU ist ein wenig wie ein Atom eines radioaktiven Isotops: Die meiste Zeit ist es stabil, bis es zerfällt. Und es ist schwierig, den genauen Zeitpunkt des Zerfalls vorherzusehen. Der Zerfall mag sehr bald, irgendwann oder auch niemals geschehen. Anders als bei einem radioaktiven Teilchen kann man bei der Währungsunion aber die Ursachen der Instabilität erforschen. Sie liegen in der Unterschiedlichkeit der EWU-Mitglieder. Die Mitglieder haben ihre eigenen historisch gewachsenen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen. Auch die Einstellungen zu Inflation, Staatsverschuldung und zum Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Dirigismus und marktwirtschaftlichem Laissez-faire sind länderspezifisch. Die Entwicklung der Löhne und Preise erfolgt deshalb nach den landeseigenen Gesetzmässigkeiten. In der Folge driftet die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer auseinander.

Ungemütliche Situation

Wechselkursanpassungen, die solche Entwicklungen ausgleichen könnten, gibt es in der EWU nicht. So bauen sich erhebliche Ungleichgewichte auf. Sichtbare Anzeichen sind die massiven Divergenzen der Lohnstückkosten, der Staatsverschuldung, der Handelsströme und der Kapitalströme. Diese Ungleichgewichte haben hohe Kosten. Irgendwann werden die Kosten untragbar. Für Griechenland war das 2010 der Fall. Aber auch für viele andere Länder wird die Situation ungemütlich. Die resultierenden wirtschaftlichen und politischen Spannungen drohen die Euro-Zone zu zerreissen.

Man kann in einer akuten Krise das Zerbrechen der EWU abwenden. Die EWU verwendet hierfür Finanztransfers. Die verwendeten Summen sind erheblich. Das zeigt das Beispiel der wiederholten Rettung des vergleichsweise kleinen Griechenland. Allein das erste Krisenpaket hatte fast die Grösse des gesamten EU-Haushalts eines Jahres. Mit einmaligen Finanzhilfen war es aber nicht getan. Manche mögen deshalb lieber gleich über einen permanenten Transfermechanismus und die Haftungsgemeinschaft der Mitgliedsstaaten nachdenken. Vorschläge dazu gab es bereits viele, von einer gemeinschaftlichen Haftung der EWU für Staatsschuldtitel (Eurobonds) bis zu einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung.

Schon bei der Konzeption solcher Institutionen zeigen sich indes erneut die politischen und kulturellen Unterschiede. Meinen deutsche, französische und italienische Politiker auch nur annähernd Vergleichbares, wenn sie von einer Fiskalunion sprechen? Sind nachhaltige Staatshaushalte erstrebenswert? Oder ist solide Haushaltspolitik einfach nur Teufelswerk? Ist die EU eine Rechtsgemeinschaft? Oder ist die EU eine politische Union? Welche Bedeutung hat der Subsidiaritätsgedanke? Die Meinungen zu all diesen Fragen sind in der EU kontrovers und oft länderspezifisch.Breite Einigkeit unter den Bürgern scheint hingegen zu herrschen, wenn es um die nationale Souveränität geht. Umfrageergebnisse zeigen: Die Bürger wollen überwiegend nicht, dass Brüssel in die eigene nationale Politik hineinregiert.

«I want my money back!»

Die diskutierten neuen europäischen Institutionen würden deshalb zu massiven Verteilungskonflikten führen. Verteilungskonflikte gab es in Europa schon immer. Am deutlichsten erkennbar war das bei den Budgetverhandlungen der Europäischen Union. Margareth Thatcher forderte: «I want my money back!» Das war bereits 1984 und führte zum britischen Sonderrabatt im EU-Haushalt. Den gibt es bis heute. Aber die übrigen Nationen stehen einer Umverteilung zwischen den Mitgliedern nicht weniger kritisch und weniger egoistisch gegenüber als Grossbritannien.

Mit einer Grösse von wenig mehr als einem Prozent der Wirtschaftsleistung war der EU-Haushalt nie gross. Es ging bei den «Juste retour»-Diskussionen also nicht um wirklich viel Geld. Eine Fiskalunion oder die Krisenpolitik der EZB haben da schon ein viel grösseres Konfliktpotenzial. Das «Whatever it takes»-Versprechen des EZB-Präsidenten Mario Draghi ist ein gutes Beispiel. Das darin enthaltene Bürgschaftsversprechen hat wohl in einem Moment der akuten Krise 2012 das Zerbrechen der Euro-Zone verhindert. Aber es hat auch die Erwartungen aller Beteiligten verändert. Privatleute und die Politik rechnen nun damit, dass die EZB ein Mitgliedsland nicht fallenlassen wird, das sich am Rande der Staatspleite befindet.Das Versprechen führte zu einer Angleichung der Zinsen für Staatsschuldtitel in der EWU. Die Mitglieder der EWU profitierten davon sehr unterschiedlich. Die Hauptgewinner waren die Länder mit gefährlich hohen Staatsschulden.

Andere geldpolitische Massnahmen der EZB, bis hin zum weiter aktiv betriebenen Programm zum Aufkauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (PSPP), haben ebenfalls massive Umverteilungswirkungen zwischen den Volkswirtschaften Europas. Diese mögen von der EZB intendiert oder ein unbeabsichtigter Nebeneffekt sein: An ihnen entzündet sich jedenfalls in der EU eine heftige Verteilungskontroverse. Und eine ehemals vielleicht überstaatlich agierende EZB ist heute intern politisch zerstritten und eher ein berechenbarer Kriseninterventionsmechanismus als eine unabhängige Notenbank.

Emotionen und Nationalismus

Eine Umverteilung zwischen den Staaten Europas ist besonders schwierig, das hat auch mit Geschichte zu tun. Zwischen 1914 und 1918 und von 1939 bis 1945 haben sich die Völker Europas gegenseitig in blutigen Kriegen zerfleischt, mit Tod und Leid für Abermillionen von Menschen. Heute mögen die Überlebenden und ihre Nachkommen dankbar sein für die lange Periode des Friedens. Für eine massive und dauerhafte Umverteilung zwischen ebendiesen Völkern sind sie aber nicht bereit – jedenfalls auf absehbare Zeit noch nicht.

Die europäische Umverteilung ist deshalb eher der Nährboden für nationalistische Strömungen. Sie lässt alte, lange vernarbt geglaubte Wunden wieder aufbrechen. Hass und revanchistische Gefühle feiern Auferstehung. Und bei internationalen Treffen erlebe ich, wie selbst zwischen nüchternen Fachkollegen viele Emotionen aufkommen. Meinungsunterschiede tun sich auf, die entlang der nationalen Grenzen verlaufen.

Thales von Milet, einer der sieben Weisen aus dem vorchristlichen Griechenland, liess seine Zeitgenossen wissen: «Bürgschaft – schon ist Unheil da.» Bereits in der Wiege der europäischen Zivilisation war also bekannt: Bei denen, für die gebürgt wird, setzt das Bürgschaftsverhältnis schlechte Verhaltensanreize. Bei denen, die bürgen, entstehen hingegen Enttäuschung und Frustration über dieses Verhalten. Finanzielle Verantwortung für andere führt in den Konflikt.

Man könnte in der EWU auf Bürgschaften und Krisenrettung verzichten und die Selbstverantwortung stärken. So war die EWU ursprünglich auch geplant. Dann ginge das Experiment Euro vielleicht früher zu Ende. Das Friedensprojekt Europäische Union aber hätte die besseren Chancen zu überleben.

https://www.nzz.ch/meinung/europaeischen-waehrungsunion-die-kosten-werden-untragbar-ld.1085631