EINE JAHRTAUSENDE ALTE GENUIN SADISTISCHE TRADITION / Jacobs Beschneidung

Ein Video zeigt, wie ein winziger Junge beschnitten wird. In einem anderen Film ist zu sehen, wie einem kleinen Mädchen Ohrlöcher geschossen werden. Beide Videos zeigte der Arzt Latasch auf einer Sitzung des Ethikrates. Die Reaktion war aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.

Von Friederike Haupt

Jacob war acht Tage alt, als ihm seine Eltern weiße Kleider anzogen und ihn in die Synagoge brachten. Andere Erwachsene filmten seine Beschneidung. Nun kann sie jeder auf Youtube sehen: “The Circumcision of Jacob Chai”. Das Video sollte dem deutschen Ethikrat vorführen, wie harmlos Beschneidungen von kleinen Jungen sind. Fünfzig Sekunden aus dem Leben von Jacob.

Leo Latasch, ein erfahrener Anästhesist aus Frankfurt und Mitglied im Direktorium des Zentralrates der Juden in Deutschland, hatte das Video auf seinem Computer mitgebracht. Als Mitglied des Ethikrates hielt er auf der Sitzung Ende August den ersten Vortrag zum Thema Beschneidung; er kündigte an, dabei sowohl medizinische Fragen als auch religiöse aus jüdischer Sicht zu erläutern.

Nach drei Minuten kündigte der Professor an, dem Publikum zu erklären, wie eine jüdische Beschneidung funktioniere, “weil ich davon ausgehe, dass 99,5 Prozent derer, die hier überhaupt drin sind, noch nie eine Beschneidung gesehen haben”. Zum Beispiel müsse das Kind dabei nüchtern sein. “Wir wissen also gar nicht, ob das Neugeborene nicht auch aus Hunger schreit oder weil es festgehalten wird”, sagte Latasch. Ausführlich schilderte er, wie das Kind vorbereitet, festgehalten und beschnitten werden soll. “Danach sollten mindestens ein bis zwei Tropfen Blut, was wichtig ist religionsmäßig, sichtbar sein.” Diese würden “entfernt”, anschließend werde ein Verband angelegt. Fertig. Dann startete Latasch den Ausschnitt von Jacobs Beschneidungsvideo, den er auf seinem Rechner gespeichert hatte.

Die Zuschauer im Ethikrat sahen, wie der winzige Jacob ohne Windeln auf dem Rücken liegt. Er schreit. Ein Mann hält seinen Körper mit beiden Händen fest, die Daumen am Bauch des Babys, die Finger an seinen Schenkeln. Er spreizt die Beine. Ein weiterer Mann greift mit einer Hand Jacobs Penis, während er mit der anderen eine gelbe Flüssigkeit darauf schüttet. Mit einem Tuch verreibt er sie auf dem Geschlechtsteil des Kindes. Jacob schreit aus Leibeskräften. Nur wenn ihm die Luft ausgeht, ist er kurz still. Dann schreit er weiter. “So wird das Kind gehalten”, kommentierte Latasch die Bilder über das Mikrofon. Jacob schreit. Zwischen Eichel und Vorhaut schiebt der Mann im Video ein Stück Metall. “Das ist die Klemme, die drüber geschoben wird”, kommentierte Latasch. Dann schneidet ein Mann mit einem Messer die Vorhaut ab. “Für die, die nicht geguckt haben: Der Eingriff hat circa zwölf Sekunden gedauert.” Das Video endet mit Jacobs Schreien.

Aber die Mitglieder des Ethikrates und die etwa siebzig Zuschauer der öffentlichen Sitzung sahen und hörten noch mehr. Leo Latasch führte ein zweites Video vor, nur wenige Sekunden nach dem von Jacob. Der Film zeigte, wie einem kleinen Mädchen Ohrlöcher geschossen werden. Auf Youtube heißt der Film “Kylie’s ear piercing trauma”.

Auch dieses Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, schreit und weint laut. Es sitzt auf dem Schoß seiner Mutter und hält sein weißes Plüschtier fest, während ihm beide Ohrläppchen gleichzeitig durchschossen werden. Noch als eine Frau dem Kind danach im Spiegel zeigt, dass es jetzt Ohrlöcher hat, schreit es mit weit aufgerissenem Mund, Tränen glänzen auf dem kleinen Gesicht. Latasch hatte den Film ausgesucht, um zu zeigen, dass auch so etwas schmerzhaft und trotzdem erlaubt ist.

Doch währenddessen brach eine Frau im Saal ohnmächtig zusammen. Ihr war schlecht geworden, sie hatte sich einen Schluck Wasser holen wollen, es aber nicht mehr geschafft. Einem anderen Besucher wurde so übel, dass er den Sitzungssaal verlassen musste. Ein Zuhörer rief “Sadist” in Richtung Latasch. Eckhard Nagel, ebenfalls Mediziner und Mitglied des Ethikrates, eilte zu der Frau, um sie zu verarzten. Latasch blickte zu Christiane Woopen, der Vorsitzenden des Ethikrates: Was war los? Woopen zuckte mit den Schultern. Latasch überlegte kurz, was nun zu tun sei, ob er seinen Vortrag unterbrechen sollte und selbst rausgehen und nachsehen, was mit der Frau los ist. Er fürchtete, sie könnte einen Herzinfarkt erlitten haben. Dann entschied er sich aber dafür, weiterzumachen, wie er später sagt. “Was Sie eben gesehen haben, ist das Setzen eines Ohrsteckers”, dozierte Latasch. “Wenn wir über Trauma reden, denke ich mir, dass man sich das mal mit angucken sollte.” Ein Zuhörer rief noch “kannibalistisch”, dann ging die Sitzung weiter. Latasch sprach noch fast zwanzig Minuten, er redete von uneingeschränkter “Leistungsfähigkeit” beschnittener Männer und der Unmöglichkeit, auf die Beschneidung Neugeborener zu verzichten.

Die beiden Filme, die der Ethikrat sah, sind immer noch bei Youtube zu sehen. Das Video mit dem Mädchen Kylie wurde schon mehr als 1,7 Millionen Mal angeschaut. Die Kommentarfunktion ist deaktiviert, nur ein Satz steht unter dem Video. Derjenige, der es hochgeladen hat, hat ihn geschrieben: “File this under things your kids will never forgive you for.” Abspeichern unter Dingen, die Kinder ihren Eltern niemals vergeben werden. So hatte es Latasch natürlich nicht abgespeichert, sondern einfach unter “Ohrstecker.wmv”.

Auch Jacobs Beschneidung ist nach wie vor im Internet zu sehen. Das Video, aus dem Latasch fünfzig Sekunden zeigte, dauert im Original allerdings acht Minuten und acht Sekunden. Am Anfang des Films schreit und weint Jacob noch nicht, weder vor Hunger noch aus Angst vor den fremden Männern, die ihn im Arm halten. Er schläft. Auch als sein kleiner Körper auf ein Kissen gelegt wird, macht das Neugeborene keinen Mucks. Die Männer singen, von hinten machen Zuschauer der Zeremonie Fotos mit grellem Blitz. Jacob stört es nicht. Mal streckt er kurz die Ärmchen von sich, mal bewegt er die Füße. Er liegt da, wie zufriedene Babys daliegen, ein niedliches Neugeborenes.

Dann zieht ein Mann Jacob mit einem Ruck die Hose aus. Ein anderer hält mit beiden Händen die Arme des Babys fest, während ihm eine Decke unter den Po geschoben wird. Hübsch sieht sie aus, mit einem Muster aus blauen Kinderwagen, Schnullern und Fläschchen. Die Männer ziehen Jacob die Windel aus. In diesem Moment fängt das Kind an zu weinen. Das ist der Augenblick, in dem Lataschs Ausschnitt beginnt.

Mit dem Ende seines Ausschnitts ist das Video aber noch nicht vorbei. Die Männer stehen weiter um das Baby herum. Nun kann der Zuschauer sehen, wie die Blutstropfen “entfernt” werden, wie Latasch es in seinem Vortrag vor dem Ethikrat gesagt hatte. Einer der Männer greift zu einem Glas und nimmt einen Schluck Wein in den Mund. Dann beugt er sich zu Jacob hinunter, der immer noch entblößt daliegt. Mit seinem Gesicht ist der Mann zwischen Jacobs Beinen, er berührt den Penis des Kindes mit seinem Mund und saugt das Blut von der Wunde. Es ist ein Ritual der Ultra-Orthodoxen. Für sie gehört es zur Beschneidung, auch wenn dadurch schon Kinder mit Herpes infiziert wurden. Manche erlitten infolge der Infektion bleibende Hirnschäden. Andere starben. Als der New Yorker Bürgermeister vor einigen Jahren die Rabbiner bat, dieses Ritual aufzugeben, hatte er wenig Erfolg: Diese Art der Beschneidung sei sicher und würde weiter durchgeführt, bekam er zur Antwort.

Jacob muss weiter auf dem Kissen liegen. Immer noch wird er von den Männern festgehalten, immer noch schreit er. Die Kamera zeigt die Zuschauer der Zeremonie, Dutzende sind es, auch kleine Kinder. Die Frauen stehen von den Männern getrennt. Keine von ihnen lächelt. Es ist ein Festtag.

Im Ethikrat wurde viel über die medizinische Beschneidung “lege artis” gesprochen. Wie das gemacht wird, zeigt zum Beispiel ein Film bei Google Videos:

http://video.google.com/videoplay?docid=8212662920114237112

Dort sieht man auch die Vorrichtung, in der die Säuglinge mit Klettbändern an Armen und Beinen festgeschnallt werden. Unsere Abbildung zeigt, wie ein solcher chirurgischer Operationstisch für Babys im Jahr 1957 aussah.

The Circumcision of Jacob Chai: http://www.youtube.com/watch?v=xTxD6l-8ppw

Kylie’s ear piercing trauma: http://www.youtube.com/watch?v=pw6P02yAFlY&feature=fvwrel

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.09.2012, Nr. 35, S. 6