MESOP CULTURE : DIE SOZIOLOGIE DER ATHEISTISCHEN GESELLSCHAFT – DIE LETZTEN MENSCHEN SIND ‚GUTMENSCHEN‘ ALS KOLLEKTIV DER ‚FRÖHLICHEN ROBOTER“

“MENSCHLICH IST DAS, WAS DER MENSCH NICHT MEHR IST” (Ray Kurzweil – Silicon Valley)  

 »There can be hardly anything more alien or even more  destructive to workmanship than teamwork«.

Hannah Arendt

 

Norbert Bolz : Die Religion des Letzten Menschen

Einer der phantastischsten Texte der Philosophiegeschichte hat sich als der realistischste erwiesen: Also sprach Zarathustra.  Schon die Vorrede inszeniert das Posthistoire, also die Zeit nach dem Ende der Geschichte und des Hegelschen Menschen.

Nietzsche zeichnet dort den Letzten Menschen als Gegenteil des Übermenschen. »Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?” ‑ so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. >Wir haben das Glück erfunden< ‑ sagen die letzten Menschen und blinzeln. «

So steht der Letzte Mensch zwar für das Ende des Menschen, doch dessen Verschwinden in der Spur des toten Gottes hat für Nietzsche nichts Eschatologisches. Posthistoire ist als Zeit des Endes der Geschichte kein endgeschichtlicher Begriff. Gerade der Letzte Mensch wird am längsten leben.

Seine Arbeit der Nivellierung zielt auf den Insektentypus, den die großen Ameisenbauten der modernen Städte fordern. Diese totale Uniformierung, die Abschleifung zum Sand der Menschheit, hat Nietzsche dem Christentum und der Demokratie zur Last gelegt.

Und so sieht er die Menschen der drohenden Zukunft‑ »Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühl über alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesentum«.

Warum betont Nietzsche, daß die Letzten Menschen das Glück erfunden haben? Das soll besagen, daß es sich um die Narkose der kleinen Gifte und Rauschmittel handelt. Und diese Drogen betrügen den Menschen um seine letzten Kräfte ‑ nämlich die Sehnsucht und die Verachtung. So charakterisiert Nietzsche den Grundvorgang der Moderne als geistige Versklavung durch die langsam fortschreitende Behaglichkeit des Wohlstands.

Um 1900 verbreitete sich der Eindruck, daß die westliche Zivilisation in eine Endphase der Kristallisation eingetreten ist. Ein bloß noch biologisches Auf und Ab ersetzt die Geschichte, die Form erstarrt zur Formel und der Lebensstil versteinert zum Typus. So hat Oswald Spengler den Faust des zweiten Teils als Herold der traumlosen Erstarrung begrüßt und die Lehre von der Entropie als säkularisierte Götterdämmerung verstanden. Ist die kristalline Zivilisation erst einmal in ihrem Grundriß fertig, so gibt es keine Geschichte mehr, sondern nur noch das Kaleidoskop des Posthistoire ‑ eine Welt fortwährender Veränderungen, in der nichts anders wird.

Auch Alexandre Kojève, der geniale Hegelianer, dem die Nachkriegsintelligenz von Paris zu Füßen saß, hat als Fazit seines Hegelstudiums das Posthistoire verkündet: Geschichte im emphatischen Sinn ist zu Ende. Der große Philosoph Hegel hat gedacht, was zu denken war. Und der große Staatsmann Napoleon hat die revolutionären Energien zum Bestand der Welt universalisiert, mit dem nun zu rechnen ist. Von nun an entleert sich das geschichtliche Geschehen bis zum reinen Als‑ob.

 Alles geschieht nur noch, als ob etwas geschehe. Die Fülle der Ereignisse gehorcht einem stabilen Pattern. Jetzt ist der Prestigekampf um Anerkennung gewonnen, die Knechte sind seit der Französischen Revolution gleiche Bürger, von denen die Macht ausgeht. Wir entfalten nun die Paradoxie der Demokratie als einer Herrschaft ohne Herrscher und Beherrschte. Es gibt keinen Grund und Ansatzpunkt mehr für »Negativität«. Nun beginnt das Posthistoire; der nachgeschichtliche Mensch betritt die Weltbühne.

»Was verschwindet, ist der Mensch im eigentlichen Sinn. Das Ende der menschlichen Zeit oder der Geschichte bedeutet ja ganz einfach das Aufhören des Handelns im eigentlichen Sinn des Wortes. Das heißt praktisch: das Verschwinden der Kriege und blutigen Revolutionen. Und auch das Verschwinden der Philosophie; denn da der Mensch sich nicht mehr wesentlich selbst ändert, gibt es keinen Grund mehr, die Grundsätze zu verändern, die die Basis der Welterkenntnis und Selbsterkenntnis bilden. Aber alles übrige kann sich unbegrenzt erhalten: die Kunst, die Liebe, das Spiel. «

So Alexandre Kojève schon in den frühen fünfziger Jahren. Er hat selbst radikale Konsequenzen aus dieser Diagnose gezogen und seine wissenschaftliche Karriere beendet. Denn wenn die Geschichte am Ende ist, endet auch die »große Politik«, und damit ist auch die Philosophie am Ende: Kojève wurde Beamter in der Europäischen Gemeinschaft.

 In der Grunddiagnose herrscht eine verblüffend große Einigkeit unter den Denkern. Der berühmte Buchtitel Francis Fukuyamas ‑ The End of History and the Last Man ‑ faßt ja ganz einfach die Positionen Hegels und Nietzsches zusammen. Diese Welt hat dann Max Weber als Gehäuse der Hörigkeit definiert. Verwaltete Welt (Theodor W. Adorno), technischer Staat (Helmut Schelsky) und das »Gestell« (Martin Heidegger) sind nur verschiedene Namen für das Endprodukt eines spezifisch modernen Prozesses, den Arnold Gehlen auf den Begriff der kulturellen Kristallisation gebracht hat.

 Es gibt heute weder Herr und Knecht noch Freund und Feind. Posthistoire ist das Weltalter der Langeweile ‑ obwohl doch so unendlich viel geschieht! Ja, es ist gerade die Stabilitätsbedingung dafür, daß wir ertragen, daß sich alles ständig ändert. Und all die Spielereien der Postmoderne haben die Theorie des Posthistoire seither bestätigt ‑ sei es die operative Magie liturgischer Formen, die Dekonstruktivisten betört, sei es das »Raffinement des Aufregungs‑ und Betäubungsbedürfnisses « der vielen, von dem Nietzsche so hellsichtig gesprochen hat.

Das Subjekt des Posthistoire ist der Mensch als Haustier des Menschen. Übersetzt in den politischen Alltag heißt das‑ Die »letzten Menschen« Nietzsches sind die Gutmenschen. Ihr Paradies ist Schweden. Wohlgemerkt geht es hier nicht um das Land Schweden, sondern um das sozialdemokratische Vorbild Schweden (dessen Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit vielleicht nur Schweden beurteilen können). Das ist »die Welt des >fröhlichen Roboters< «, von dem Helmut Schelsky und Jacques Ellul gesprochen haben.

 Daß es fröhliche Roboter und glückliche Sklaven gibt, ist kein Huxley Phantasma, sondern die schlichte Konsequenz eines Utilitarismus, der keinen Sinn für Freiheit hat. Und heute scheint der Schlaf der wohlfahrtsstaatlichen Vernunft das Ungeheuer einer Welt als Kinderkrippe und Altersheim zu gebären. In dieser Welt herrscht das Rentnerideal freiwilliger Knechte, die Nietzsche mit größter Präzision als »die autonome Heerde« beschrieben hat. Dann gilt aber‑ Menschlich ist das, was der Mensch nicht mehr ist.

Für eine derartige Beschreibung der modernen Gesellschaft stand früher ein scharfer diagnostischer Begriff bereit: Dekadenz.

Man faßt ihn aus guten Gründen heute nicht mehr gerne an. Denn sein Gegenbegriff lautet »Wille zur Macht«; so wie der Gegenbegriff zum Letzten Menschen ja der Übermensch ist. Das Potential des Schreckens, das beide Begriffe, Übermensch wie Wille zur Macht, in sich bergen, ist deutsche Geschichte geworden. Deshalb kann man auch an ihre Gegenbegriffe schlecht anschließen. Aber es gibt eine katechontische Fassung des Begriffs Dekadenz. Niedergang ist der Preis, den wir für das Aufhalten des Untergangs zahlen müssen.

Diese Bereitschaft, den Niedergang zu akzeptieren, um den Untergang hinauszuzögern, scheint heute weit verbreitet zu sein. Dekadenz wird nicht als Not, sondern als lebenskluge Bequemlichkeit erfahren. Und man muß schon Philosophen oder Psychoanalytiker bemühen, um hier überhaupt ein Bewußtsein dafür zu wecken, daß dieses Leben nicht lebt. Die fröhlich konsumierenden Roboter spüren nichts von dem, was Heidegger »die Not der Notlosigkeit« nannte ‑ ist es das, was der Begriff Dekadenz einmal meinte?

Fragen wir nach bei denen, die es wissen müßten: Soziologen, Ökonomen, Theologen und Psychologen. Bei Soziologen taucht der Begriff Dekadenz kaum auf, und man könnte deshalb mit dem Soziologiekritiker Nietzsche vermuten: Von Soziologen kann man nichts über Dekadenz erfahren, weil die Soziologie selbst die Dekadenz als Wissenschaft ist. Etwas weiter führt da schon ein Begriff aus dem Jargon der Ökonomen ‑ »discounting the future«. Für das Wirtschaftssubjekt rechnet es sich nicht, weit in die Zukunft vorauszudenken; es genügt, die Preise von heute abzulesen. Ein Theologe wird die Dekadenz des Westens in dessen Unfähigkeit begründet sehen, das Religiöse zu denken. Diese These wird sich im folgenden bestätigen. Und Psychologen würden sagen: Dekadenz ist erworbene Erschöpfung, erlernte Hilflosigkeit. Auch auf diese Interpretation werden wir zurückkommen.

 Die Theologie des Sozialen

Dekadenz heißt politisch: die soziale Frage. Genauso wie sich die Heuchelei des 19.Jahrhunderts um das Sexuelle drehte, dreht sich die Heuchelei seit dem 20.Jahrhundert um das Soziale. Es ist das Gott‑Wort unserer Epoche. Man muß heute nur die Zauberworte »Selbstverwirklichung” und »soziale Gerechtigkeit« aussprechen, um die Massendemokratie in politische Trance zu versetzen und alle Widerworte zum Schweigen zu bringen. »Das Ich und das Soziale sind die beiden Götzen«, hat Simone Weil einmal gesagt ‑ ein Urteil von unglaublicher Hellsichtigkeit und Aktualität.

 Unsere Ehrfurchtssperre vor dem Begriff »soziale Gerechtigkeit« ist heute so mächtig, daß man schon zu theologischen Begriffen greifen muß, um sie zu analysieren. Die Religion der sozialen Gerechtigkeit herrscht uneingeschränkt über die Seelen der Letzten Menschen, die längst den Weg vorn Seelenheil zum Sozialheil zurückgelegt haben. In der massendemokratischen Religion des Letzten Menschen erweist sich das Soziale als das Pastorale. Und »Reaktionär« heißt nun jeder, der nicht zur Glaubensgemeinschaft der Sozialreligion gehört. Den ersten entscheidenden Schritt zur Vergötzung des Sozialen verdanken wir dem Marxismus und seiner »Religion der Arbeit« (Paul Lafargue). Man muß sich immer wieder vor Augen halten, daß die moderne Verklärung der Arbeit alles andere als eine kulturelle Selbstverständlichkeit ist. Nicht nur für die Antike war die Verachtung der Arbeit selbstverständlich. Seit 1848 aber gibt es den heiligen Arbeiter ‑ heute ist es nicht mehr der Kumpel aus dem Ruhrpott, sondern die Krankenschwester,

Der Schritt von der Religion der Arbeit zur Vergötzung des Sozialen ist dann ganz klein. Es genügt als zusätzliches Element der Kult des Kollektivs ‑ zu deutsch: Die Arbeit tun die anderen. Wer heute einen Job sucht, maß vor allem den Eindruck erwecken, »teamfähig« zu sein, Und Schülern bringt man im »sozialen Lernen« bei, daß Gruppenarbeit die einzige Lebensform des guten Menschen ist. Kommunikationstraining statt Mathematik!

Teamwork ist ein EupheMismus dafür, daß die anderen die Arbeit tun. Hannah Arendt hatte den fabelhaften Mut, diese Wahrheit ganz unzweideutig auszusprechen: »There can be hardly anything more alien or even more  destructive to workmanship than teamwork«. Die Gruppe ist die Gehirn wäsche, und es ist völlig gleichgültig, ob es sich dabei um Gruppentherapie,  Teamtraining oder soziales Lernen handelt ‑ stets geht es um die Austreibung von Individualität und Wettbewerb. Doch das darf man nicht laut sagen. Denn für die Religion des Letzten Menschen gibt es nichts Schlimmeres  als die Sünde wider den heiligen Teamgeist.

Gerade haben wir Dekadenz politisch spezifiziert, nämlich als die soziale Frage. Sie definiert heute so ausschließlich das Politische, daß der Politiker seinen Willen zur Macht als Fürsorglichkeit verkaufen maß. Neu ist das nicht, und die Geschichte des Despotismus lehrt uns: Wer sagt, er wolle dem Volke dienen, will sich des Volkes bedienen. Aldous Huxleys Einsicht, daß Wohlfahrt Tyrannei ist, bewährt sich heute an der politischen Rhetorik sozialer Probleme, die uns versklavt. Gerecht zu scheinen, ohne es zu sein, ist jene höchste Ungerechtigkeit, die man »soziale Gerechtigkeit« nennt.

 Das Problem liegt nicht darin, daß man ‑ um die Lieblingsmetapher der Sozialreligion zu zitieren ‑ »die starken Schultern« immer stärker belastet. Vielmehr sind die Begünstigten der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen deren eigentliche Opfer. Denn soziale Gerechtigkeit qua Umverteilung sorgt für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit; Sozialpsychologen nennen das »learned helplessness«. Die Massenmedien besorgen dann den Rest: Man lernt, sich hilflos zu fühlen, wenn man andere beobachtet, die unkontrollierbaren Ereignissen ausgesetzt sind ‑ zum Beispiel Naturkatastrophen. Massenmedien exponieren uns täglich der Unkontrollierbarkeit.

Und so sehnt man sich nach dem schützenden Vater, der in der vaterlosen Gesellschaft natürlich nur noch der Staat sein kann.

Überall in der westlichen Welt steht die politische Linke heute für den Sozialstaatskonservativismus. Und überall wo der Sozialismus real existiert, programmiert er die Gleichheit der Unfreien. Als Wohlfahrtsstaat besteuert er den Erfolg und subventioniert das Ressentiment. Und gerade für die Propaganda der sozialen Gerechtigkeit gilt das Grundkalkül des Ressentiments‑. Wie groß darf meine Aggression sein, damit sie keine Vergeltung auslöst?

Der paternalistische Staat ist der Hintergrund aller modernen »Emanzipationen«. Wir haben es also mit einer handfesten Paradoxie zu tun: In den Befreiungen bekundet sich die Liebe zur Sklaverei. Auch als er noch nicht so hieß, hat der »vorsorgende Sozialstaat« die neuen Untertanen gezüchtet: die betreuten Menschen. Man bekommt diese bittere Wirklichkeit gut in den Blick, wenn man sich der Schelskyschen Unterscheidung selbständig versus betreut bedient. Natürlich weigern sich die Betreuten genauso wie die Betreuer, ihre Wirklichkeit mit dieser Unterscheidung zu beobachten; aber nur mit ihr kann man jene Paradoxie der Befreiung aus Liebe zur Sklaverei entfalten. Die Gleichheit der Unfreien gewährt Sicherheit. Doch Sicherheit verdanken die meisten heute nicht mehr dem Gesetz, sondern der staatlichen Fürsorge. Im »vorsorgenden Sozialstaat« schließlich wird die Daseinsfürsorge präventiv‑ Es wird geholfen, obwohl es noch gar keinen Bedarf gibt. Konkret funktioniert das so, daß die Betreuer den Fürsorgebedarf durch »deficit labeling”, erzeugen. Der Wohlfahrtsstaat fördert also nicht die Bedürftigen, sondern die Sozialarbeiter.

Mit beißender Ironie hat Rüdiger Altmann den Kernbestand jeder Theologie des Sozialen als das Recht auf Abhängigkeit definiert. Die Tyrannei der Wohltaten erzeugt jene Sklavenmentalität, die wir gerade als » learned helplessness« charakterisiert haben. Und wenn wir diesen Sachverhalt in politischer Perspektive beschreiben, kommen wir zu dem schmerzlichen Resultat: Der Paternalismus des »vorsorgenden Sozialstaates« ist Despotismus.

Wer diese Formulierung für maßlos überzogen hält, wird vielleicht umdenken, wenn er erfährt, daß sie von Kant stammt. In seinem Aufsatz “Über den Gemeinspruch das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis” heißt es: »Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus”.

 

Wohlfahrtsstaatspolitik erzeugt Unmündigkeit, also jenen Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung, kämpft. Und  so wie es des Mute bedarf, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so bedarf es des Stolzes, . .um das das eigene Leben selbständig zu leben. Wie für das Mittelalter ist deshalb auch für den Wohlfahrtsstaat der persönliche Stolz die größte Sünde. Denn das Projekt der Moderne war genau in dem Maße erfolgreich, wie es das Hobbes-Projekt war, den Stolz durch die Angst zu ersetzen ‑ der Leviathan ist der “King of the Proud”.

Vater Staat will nicht, daß seine Kinder erwachsen werden. Und auch diejenigen, die ihr Leben weitgehend unabhängig von staatlicher Betreuung gestalten, bleiben oft genug politische Kinder. Früher war man als Jugendlicher rot und ist dann nachgedunkelt. Heute bleibt man grün, auch wenn man längst grau geworden ist. Man wird nicht mehr erwachsen. Und für dieses kulturkritische Urteil gibt es durchaus Kriterien. Erwachsen ist man, wenn man aufgehört hat, sich die Zukunft als Glück (oder Unglück) auszumalen. Oder anders gesagt: Erwachsenwerden heißt Teleologie durch Evolution zu ersetzen.

Was erwachsen sein bedeutet, hat man früher an Charakteren der Männlichkeit abgelesen. Aber schon bei Max Weber wird der Begriff der »Manneswürde« nur noch trotzig dem Zeitgeist entgegengeschleudert. Männlich heißt hier trostunbedürftig ‑ Das geht auf eine Tradition zurück, in der Weisheit und Männlichkeit zusammengehörten ‑ Philosophie war nicht erbaulich. Diese Tradition endet aber schon mit Nietzsche, der für die Männlichkeit ein letztes Asyl in der Redlichkeit fand. Das Bewußtsein dafür, daß hier ein Kulturproblem ersten Ranges vorliegt, ist heute verschwunden. Und die Unduldsamkeit, mit dem aktuelle Diskurse alleine schon auf das Wort »Männlichkeit« reagieren, deutet auf ein mächtiges Tabu. Jedenfalls blieb William James’ Suche nach einem » moral equivalent of war« erfolglos. Zurn letzten Mal stellte ein bedeutender Denker die Frage: Wie kann man Männlichkeit in einer pazifistischen Welt bewahren und bewähren?

 Über dieser Frage liegen nun hundert Jahre Vergessenheit. Das Posthistoire des Letzten Menschen kultiviert seither die Menschheit ohne Männlichkeit, die geschlechtsneutrale Gesellschaft. Wenn aber, wie die Griechen meinten, Wahrheit etwas ist, was der Vergessenheit entrissen werden muß, dann führt uns die Frage nach der Dekadenz zu jenen Formen, die nun als männlichkeitsfeindliche Ersatzreligionen erkennbar werden: Feminismus, Pazifismus, Environmentalismus, Konsumismus.

 

Spirituelle Selbstbedienung

In der modernen Welt hat Komplexität keinen Gegenbegriff mehr. Und gerade deshalb wächst die Sehnsucht nach Einfachheit ‑ die Religion »simplicity«. Moderne heißt soziologisch Ausdifferenzierung. Und gerade deshalb fasziniert Ganzheitlichkeit ‑ es ist ein anderer Name für das Heil. Sein heißt heute Ersetzbarsein; alles was ist, wäre auch anders möglich.

 Und gerade deshalb wächst der Absolutheitshunger: die Sehnsucht nach dem unersetzlich Einfachen.

 Wir haben schon gesehen, daß man das durch die Sakralisierung politischer Ideen wie Gleichheit und »soziale Gerechtigkeit« durchaus erreichen kann. Doch ist eine derartige Sozialreligion tatsächlich das, was man meint, wenn man von Religion spricht? Man kann das nicht testen, indem man den gnädigen Gott zu ersetzen: die gerechte Gesellschaft, die heile Natur und das wahre Selbst.

 Längst haben wir die mittelalterliche Sünde der »incurvitas in se ipsum« entübelt und sehen gerade hier den Heilsweg. Konkret funktioniert das so, daß die Rede vom Sinnverlust eine metaphysische Marktlücke für Selbstverwirklichung erzeugt. Spezifisch modern ist das deshalb, weil die Sinnkrise durch Selbstthematisierung entsteht. Man wird sich selbst zum Problem, weil man keine Aufgaben hat, die einen von sich selbst ablenken. Die Sinnfrage ist also der Kurzschluß des Menschen. Das hatte wohl Eric Voegelin im Sinn, als er von »Egophanie« sprach. Ein schöner Begriff, der nicht nur romantisch klingt, sondern, wieder einmal, die Aktualität der Romantik signalisiert: jeder will sein eigener Priester sein.

 Die Sorge um sich war einmal die Sorge um das eigene Seelenheil; und dieses Heil erhoffte man sich von Gott. Seit den großen Revolutionen der Moderne wetteten die Menschen dann auf das Heil durch die Gesellschaft. Und seit Freud bezahlen sie für ihr Heil in der Therapie. Hier ist nun eine Kuriosität sehr aufschlußreich: Immer mehr Menschen ersetzen die Psychotherapie durch eine Ritus‑Beratung. Damit wird Individualisierung selbst als Religion erkennbar und außerdem deutlich, daß die absoluten Iche Bindung brauchen, also »religio«.

Mit diesen letzten Beobachtungen haben wir die Märkte des Letzten Menschen erreicht. Sie sind der eigentliche Schauplatz seiner Sinnstiftungen. Es ist das große Verdienst des Saint‑Simonismus, diese Konzeption erstmals in aller Klarheit formuliert zu haben: die Verwandlung aller Geschäfte in Kulte. Entscheidend ist dabei, daß der Kunde vom passiven Konsum zur aktiven Devotion voranschreitet. Doch erst heute ist aus der saint‑simonistischen Idee konsumistische Wirklichkeit geworden. Große Marken formieren Sekten. Und ‑ Ironie des Posthistoire ‑ dieser Kult der Märkte übergreift auch seine Kritiker. Denn die neue Religiosität des Konsumismus hat zwei Gesichter: das affirmative des Markenkults und das kritische der Protestbewegungen.

 

Revolte und Mode sind beides soziale Heilsgottesdienste.

Doch dieser Logik des Konsumismus folgt nicht nur die »Religion ohne Religion«, sondern auch die Religion selbst (die Religion selbst!). Sie ist nur noch eine der Marken, die auf dem Markt der Spiritualität miteinander konkurrieren. Neben den Gläubigen ist längst der Religionskonsument getreten, der in die Kirche geht, um sich spirituell zu unterhalten. Auf dem Markt der Religionen dominiert die spirituelle Selbstbedienung, das Do‑it‑yourself der Selbsterlösung.

So entsteht millionenfach das, was Karl Gabriel Bastelreligion genannt hat. Und die hat durchaus noch Verwendung für christliche Versatzstücke wie Weihnachten, das als »unmittelbare Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen« (Friedrich Schleiermacher) so ideal in den Seelenhaushalt des Letzten Menschen paßt« Aber auch alle, die mehr für sich erwarten als bloße Sentimentalität, werden heute konsumistisch bedient ‑ etwa durch eine Wallfahrt, die die religiöse Pflichtreise in Tourismus aufhebt. Ein Komiker mit einschlägigen Erfahrungen hat für die Religion des Letzten Menschen die ununterbietbare Formel gefunden:

Ich bin dann mal weg.

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