Zukunft nach Trump / Mehr Selbstkritik, bitte! – von Slavoj Žižek 3.2.2017, NZZ

MESOP NEWS TODAYS KOMMENTAR VON SLAVOJ ZIZEK

Seit Trumps Wahl versinkt die Linke in selbstgerechter Entrüstung. Dabei hat sie jetzt die Chance, sich selber zu erneuern.

«Wenn ich mich nicht für die Unterprivilegierten einsetze, tut es ein anderer»: Orson Welles «Citizen Kane» formuliert die Logik, die auch Donald Trumps Handeln prägt.

Es ist unangemessen, Donald Trump als Faschisten zu bezeichnen. Aber seine ersten Amtshandlungen als Präsident zeigen, dass Walter Benjamins These, jeder Aufstieg des Faschismus zeuge von einer gescheiterten Revolution, nicht nur noch immer gültig ist, sondern vielleicht sogar relevanter denn je. Die Wahlniederlage war der Preis, den Hillary Clinton für die Ausschaltung von Bernie Sanders zahlen musste. Sie verlor die Wahl nicht, weil sie sich zu sehr nach links bewegte, sondern weil sie zu zentristisch agierte und die Revolte gegen das Establishment nicht auffangen konnte, von der Trump genauso profitierte wie Sanders.

Ein Demonstrant in Portland erklärte, zum ersten Mal in seinem Leben habe er Angst vor seinem Präsidenten. Das zeigt, dass er die wahre Gefahr verkannte. Denn was er eigentlich fürchten müsste, ist der Konsens des linksliberalen Mainstreams, in dem Trump entstehen konnte. Es liegt ein Stück Wahrheit in der Behauptung, Hillary Clinton habe ihre Niederlage der Political Correctness zuzuschreiben – nicht weil die PC im Widerspruch zur Haltung vieler Menschen steht, sondern weil mit der Political Correctness etwas falsch läuft.

Trumps Strategie lautete: verhindern, dass die Enteigneten sich selber für ihre Rechte wehren.

Obwohl die Befürworter der PC von Konservativen als Marxisten beschimpft werden, ist die PC nicht Sache der echten Linken. Sie stellt den Versuch dar, soziale Gegensätze einzuebnen, indem wir die Art und Weise regulieren, wie wir reden. Die Reaktion der Linken auf Trumps Wahl sollte sich deshalb nicht auf selbstgefällige moralische Entrüstung beschränken, sondern in harter Selbstkritik bestehen: Trumps Sieg gibt der Linken die einzigartige Chance, sich selbst zu erneuern.

Die Logik im Widerspruch

Vor wenigen Monaten waren Schwule, Lesben und Transgender Thema auf den Frontseiten der Medien – als ob das grösste Problem der Gesellschaft darin bestünde, wie wir die Geschlechtertrennung auf Toiletten überwinden oder ein Personalpronomen für all jene schaffen, die sich weder als «er» noch als «sie» bezeichnen. Nun sind wir mit dem Rückschlag der Unterdrückten konfrontiert – und mit dem Wahlsieg eines Menschen, der bewusst mit allen PC-Regeln brach, direkt und vulgär.

Trump ist der Paradefall eines «two-spirit capitalist», wie wir ihn im Film «Citizen Kane» kennenlernen. Kane wird dort von einem Vertreter des Grosskapitals angegriffen, weil er eine Zeitung finanziert, die für die Rechte der Unterprivilegierten eintritt. Kane räumt den Widerspruch ein und erklärt die Logik seines Handelns.

Er sei ein gefährlicher Schuft, sagt Kane von sich selber: Aber als Herausgeber des «Enquirer» sei es seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass die anständigen Leute in dieser Stadt nicht von einer Gruppe geldgieriger Piraten ausgeraubt würden. Und er selber sei genau der Richtige, um das zu tun, denn er habe Geld und Besitz: «Wenn ich mich nicht für die Interessen der Zu-kurz-Gekommenen einsetze, tut es jemand anderer. Vielleicht jemand ohne Geld und Besitz – und das wäre tatsächlich schlecht.»

Dieser Satz formuliert prägnant, was falsch daran ist, dass sich der Milliardär Donald Trump zum Wortführer der Enteigneten aufwirft: Seine Strategie lautet: verhindern, dass die Enteigneten sich selber für ihre Rechte wehren. Trump ist also weit davon entfernt, einfach widersprüchlich zu sein. Was als Widerspruch erscheint, ist der Kern seines Projekts.

Ödipus-Politik

Der Philosoph Richard Rorty hat früh auf diesen Punkt hingewiesen. In seinem Buch «Achieving Our Country» (dt. «Stolz auf unser Land») sah er bereits vor zwei Jahrzehnten den Konflikt zwischen Identitätspolitik und dem Kampf der Entrechteten klar voraus. Und er sah auch, dass dieser Konflikt einem Populisten mit einer dezidierten Antiidentitätspolitik zur Macht verhelfen könnte.

Wenn die arme, weisse Wählerschaft merke, dass sich das linksliberale Establishment um ihre Notlage foutiere, obwohl es ständig von sozialer Gerechtigkeit rede, dann, schrieb Rorty: «Die ärmeren Wähler würden zu dem Schluss kommen, dass das System versagt habe, und einen starken Mann wählen wollen, der ihnen verspricht, dass unter ihm die feinen Bürokraten, raffinierten Anwälte, überbezahlten Anlageberater und postmodernistischen Professoren nicht mehr das Sagen haben.

[. . .] Eines dürfte sehr wahrscheinlich geschehen: Die Fortschritte der schwarzen und braunen Amerikaner und der Homosexuellen in den letzten vierzig Jahren würden weggefegt. [. . .] Alle Ressentiments, die Amerikaner mit schlechter Schulbildung dagegen haben, dass ihnen die Akademiker gute Sitten vorschreiben wollen, würden ein Ventil finden.»

Rorty war nicht der Einzige, der das antizipiert hat. Aber wie es in der Politik so ist: Das Bewusstsein, dass sich die Dinge in eine gefährliche Richtung entwickeln, verhindert diese Entwicklung nicht nur nicht, es befördert sie manchmal sogar – die Politik ahmt das Schicksal des Ödipus nach. Die Linksliberalen warfen Sanders vor, er untergrabe die Identitätspolitik.

Tatsächlich tat er das Gegenteil: Er beharrte auf einer Verbindung zwischen Klasse, Ethnie und Geschlecht. Man muss Sanders zustimmen, wenn er betonte, Identität an sich sei kein Grund, jemanden zu wählen: «Es genügt nicht, wenn jemand sagt: ‹Ich bin eine Frau, wählt mich.› Was wir brauchen, ist eine Frau, die den Mut hat, gegen die Wall Street anzutreten, gegen die Versicherungsgesellschaften, die Pharmamultis und die Erdölindustrie.»

Die Regenbogenflagge ist weisser, als viele meinen.

Sanders sagte immer, es sei ein Schritt vorwärts, wenn ein Afroamerikaner CEO eines grossen Unternehmens sei. Er sagte zugleich: «Aber wenn er Jobs auslagert oder seine Angestellten ausbeutet, spielt es nicht die geringste Rolle, ob er weiss oder schwarz oder ein Latino ist.» Sanders rührte damit an einen wunden Punkt im offen praktizierten Rassismus innerhalb der schwulen, lesbischen und Transgender-Community (LGBT).

Wie kann ich ein religiöser Eiferer sein, wenn ich selber zu einer unterdrückten Minderheit gehöre? Diese Haltung ist unter weissen LGBT-Leuten verbreitet. Noch viel gefährlicher ist, dass sich die LGBT-Welt weitgehend um weisse schwule Männer dreht und andere ausschliesst. Die Regenbogenflagge ist weisser, als viele meinen.

Kein Wunder, dass Rechtsaussen-Bewegungen versuchen, die Kampagne für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender in ihre politische Agenda zu übernehmen – natürlich nur wenn es darum geht, gegen Muslime oder Migranten zu Felde zu ziehen. Auf den Websites weisser amerikanischer Nationalisten werden LGBT-Pride-Wimpel mittlerweile zusammen mit der Konföderiertenflagge verkauft. Doch leere Aufrufe zu allseitiger Solidarität und politischen Bündnissen genügen nicht. Man muss sich der Grenzen der Identitätspolitik bewusst werden, indem man ihr ihren privilegierten Status nimmt.

Nachdenken – die Zeit drängt

Es gibt zwei Antworten auf Trumps Wahlsieg, die keine Lösung bieten, weil sie selbstzerstörerisch sind. Die eine besteht darin, sich so fasziniert wie arrogant über die Dummheit der Wähler aufzuhalten, die nicht merken, dass sie gegen ihre eigenen Interessen votiert haben und auf Trumps Demagogie hereingefallen sind. Die andere besteht im Aufruf zur sofortigen Gegenoffensive, die ein Echo von Trumps antiintellektueller Haltung ist. Judith Butler hat klar festgehalten, dass Trump den Menschen die Gelegenheit gibt, nicht nachzudenken, nicht nachdenken zu müssen. (Sie weiss natürlich genau, dass Hillary Clintons Berufung auf Komplexität aber einen schalen Beiklang hatte: Sie berief sich meist nur darauf, um Forderungen des linken Parteiflügels abzuwehren.)

Die Dringlichkeit der Lage ist keine Ausrede. Gerade wenn die Zeit drängt, muss man nachdenken. Wir sollten keine Angst haben, uns auf Marx zu besinnen: Bisher wollten wir unsere Welt zu schnell verändern. Nun ist die Zeit gekommen, sie selbstkritisch neu zu interpretieren und das linke Selbstverständnis zu hinterfragen. Es gibt einen Witz über Lenin, der jungen Leuten immer sagte: «Lernt, lernt, lernt!» Marx, Engels und Lenin werden gefragt, ob sie lieber eine Ehefrau oder eine Geliebte hätten. Marx sagt: «Eine Frau!» Engels möchte eine Geliebte. Lenin sagt: «Beides. So kann ich meiner Frau sagen, dass ich zu meiner Geliebten gehe, und der Geliebten, ich müsse zu meiner Frau – und dann ziehe ich mich an einen stillen Ort zurück und lerne, lerne, lerne!»

Ist das nicht genau das, was Lenin nach der Katastrophe von 1914 getan hat? Er fuhr in die Schweiz, las Hegels «Logik» und lernte. Das sollten auch wir tun, jetzt, wo wir unter dem Bann von Trumps Wahlsieg stehen – schliesslich ist er nur eine von vielen bösen Überraschungen, die wir in letzter Zeit erlebt haben. Wir müssen uns gegen Defaitismus genauso wehren wie gegen blinden Aktivismus und müssen «lernen, lernen, lernen»: lernen, wie es zu diesem Fiasko der liberaldemokratischen Politik kam.

In den «Notes Towards a Definition of Culture» (dt. «Zum Begriff der Kultur») schrieb T. S. Eliot, es gebe Situationen, in denen man nur die Wahl zwischen Häresie und Unglaube habe. Die einzige Möglichkeit, eine Religion am Leben zu erhalten, bestehe dann in einer sektiererischen Abspaltung von ihrem abgestorbenen Körper. Genau das müssen wir Linken jetzt tun: Die amerikanischen Wahlen von 2016 waren der letzte Schlag gegen Francis Fukuyamas Traum – den endgültigen Sieg der liberalen Demokratie. Der einzige Weg, Trump zu besiegen und das zu retten, was an der liberalen Demokratie wert ist, gerettet zu werden, besteht in einer sektiererischen Abspaltung von ihrem Leichnam. Wir müssen die Gewichte von Clinton zu Sanders verschieben. 2020 sollten sich Trump und Sanders gegenüberstehen.

Der Philosoph Slavoj Žižek ist Professor an der Universität Ljubljana. 2016 erschien im Verlag S. Fischer sein Buch «Absoluter Gegenstoss: Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus». – Aus dem Englischen übersetzt von rib.

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